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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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32. Urteil vom 17. Juli 1990 i.S. Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen gegen H. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen | |
Regeste |
Art. 4 BV, Art. 73bis IVV: Rechtliches Gehör; Heilung einer Verletzung des Gehörsanspruchs. | |
Sachverhalt | |
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Am 10. März 1987 leitete die Verwaltung ein Revisionsverfahren ein. Die Invalidenversicherungs-Kommission holte u.a. einen Bericht der Regionalstelle in St. Gallen (vom 24. April 1987), ein Zeugnis des Hausarztes Dr. med. A. vom 25. September 1987 sowie die Buchhaltungsunterlagen der Jahre 1984 bis 1986 ein und klärte die Verhältnisse an Ort und Stelle ab (Bericht vom 4. März 1988). Gestützt darauf setzte sie mit Beschluss vom 22. März 1988 den Invaliditätsgrad neu auf 46% fest, was sie dem Versicherten mit Vorbescheid vom 19. April 1988 mitteilte. Gleichzeitig eröffnete sie ihm die Möglichkeit, sich innert 14 Tagen schriftlich oder mündlich zur Sache zu äussern. Mit Eingabe vom 25. April 1988 ersuchte der Vertreter des Versicherten um Aktenzustellung, damit er zur vorgesehenen Rentenkürzung Stellung nehmen könne. Ohne das Begehren beantwortet zu haben, setzte die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen mit Verfügung vom 26. Mai 1988 die Invalidenrente ab 1. Juli 1988 auf eine Viertelsrente herab. Einer allfälligen Beschwerde entzog sie die aufschiebende Wirkung. Am 3. Juni 1988 stellte sie die Akten dem Vertreter des Versicherten zu. Gleichzeitig teilte sie in Ergänzung der Verfügung vom 26. Mai 1988 mit, auf welchen Einkommenszahlen die Invaliditätsbemessung beruhe.
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B.- Max H. liess gegen die Verfügung vom 26. Mai 1988 Beschwerde führen. Nebst der Wiederherstellung der entzogenen aufschiebenden Wirkung, welches Begehren mit Zwischenentscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. Juli 1988 und Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 23. Februar 1989 gutgeheissen wurde, beantragte er die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Rückweisung der Sache zur Durchführung eines neuen Verfahrens und zu neuem Entscheid; insbesondere sei er "in die Lage zu versetzen, sich vor der Vorinstanz zum vollständigen Abklärungsresultat sowie zum Vorbescheid zu äussern". Zur Begründung liess er im wesentlichen vorbringen, die Verwaltung habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem sie ihm den Bericht über die Abklärungen an Ort und Stelle vom 4. März 1988 nur unvollständig unterbreitet habe, den Beschluss vom 22. März 1988 vor Eingang seiner diesbezüglichen Stellungnahme (vom 27. März 1988) formuliert und die ![]() | 3 |
Mit Entscheid vom 22. Juni 1989 bejahte das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen das Vorliegen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache an die Invalidenversicherungs-Kommission zurück, damit sie dem Versicherten Gelegenheit gebe, sich vor erneuter Beschlussfassung zur geplanten Erledigung des Verfahrens materiell zu äussern.
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C.- Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Sache sei an das Versicherungsgericht zur materiellen Beurteilung zurückzuweisen.
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Während das Versicherungsgericht auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, äussert sich das Bundesamt für Sozialversicherung in gutheissendem Sinne, enthält sich jedoch eines formellen Antrags. Max H. lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen.
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Auf die einzelnen Vorbringen in den Rechtsschriften wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
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Diese Bestimmung bezweckt im wesentlichen, dem Versicherten den Anspruch auf rechtliches Gehör in dem von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung umschriebenen Sinne zu gewährleisten (BGE 116 V 33 Erw. 4a). Danach dient das rechtliche Gehör einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung des einzelnen eingreift (BGE 112 Ia 3 mit Hinweisen). Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheides zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise ![]() | 9 |
b) Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung (BGE 115 V 305 Erw. 2h mit Hinweisen). Es kommt mit anderen Worten nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die Behörde zu einer Änderung ihres Entscheides veranlasst wird oder nicht.
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Laut ständiger Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts kann eine - nicht besonders schwerwiegende (BGE 116 V 32 Erw. 3, BGE 115 V 305 Erw. 2h) - Verletzung des rechtlichen Gehörs dann als geheilt gelten, wenn der Betroffene die Möglichkeit erhält, sich vor einer ![]() | 11 |
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b) Es fragt sich jedoch, ob die Ausgleichskasse bzw. die Invalidenversicherungs-Kommission zu verpflichten ist, entsprechend der vorinstanzlichen Anordnung dem Beschwerdegegner das rechtliche Gehör zu gewähren, oder ob - in Heilung des begangenen Verfahrensfehlers - das Versicherungsgericht zum materiellen Entscheid anzuhalten ist.
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b) Demgegenüber stellt sich die Ausgleichskasse in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde auf den Standpunkt, die Verletzung des rechtlichen Gehörs sei im kantonalen Verfahren geheilt worden, da der Beschwerdegegner Gelegenheit gehabt habe, die vollständigen ![]() | 15 |
c) Wie die Vorinstanz zu Recht ausgeführt hat, kann es nicht der Sinn des durch die Rechtsprechung geschaffenen Instituts der Heilung des rechtlichen Gehörs sein, dass Verwaltungsbehörden sich über den elementaren Grundsatz des rechtlichen Gehörs hinwegsetzen und darauf vertrauen, dass solche Verfahrensmängel in einem vom durch den Verwaltungsakt Betroffenen allfällig angehobenen Gerichtsverfahren dann schon behoben würden (vgl. in diesem Sinne auch PVG 1987 Nr. 84 S. 180). Der Umstand, dass eine solche Heilungsmöglichkeit besteht, rechtfertigt es nicht, auf die Anhörung des Betroffenen vor Erlass einer Verfügung zu verzichten. Denn die nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs bildet häufig nur einen unvollkommenen Ersatz für eine unterlassene vorgängige Anhörung (BGE 105 Ia 197 Erw. 1b/cc). Abgesehen davon, dass ihm dadurch eine Instanz verlorengehen kann, wird dem Betroffenen zugemutet, zur Verwirklichung seiner Mitwirkungsrechte ein Rechtsmittel zu ergreifen, was nicht zuletzt auch dem Zweck von Art. 73bis IVV, nämlich die Anzahl der Beschwerdefälle zu reduzieren und das "Verhältnis zwischen Bürger und Staat menschlicher" zu gestalten (ZAK 1987 S. 138), zuwiderläuft (bereits zitiertes Urteil E. vom 6. April 1990; vgl. auch MÜLLER, a.a.O., Art. 4, Rz. 103).
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d) Das Eidg. Versicherungsgericht hat im unveröffentlichten Urteil M. vom 6. April 1990 festgehalten, dass von der Rückweisung der Sache zur Gewährung des rechtlichen Gehörs an die Verwaltung nach dem Grundsatz der Verfahrensökonomie dann abzusehen ist, wenn dieses Vorgehen zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde, die mit dem (gleichlaufenden und der Anhörung gleichgestellten) Interesse des Versicherten an einer möglichst beförderlichen Beurteilung seines Anspruchs nicht zu vereinbaren sind (vgl. COTTIER, a.a.O., S. 12). Diese Situation ist hier nicht gegeben. Gemäss dem in der vorliegenden Sache ergangenen Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 23. Februar 1989 hätte die Verwaltung die revisionsweise Herabsetzung auf eine Viertelsrente nicht verfügen dürfen, ohne vorher die Voraussetzungen für einen allfälligen ![]() | 17 |
Nach dem Gesagten ist der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid vom 22. Juni 1989 zu bestätigen. Die Invalidenversicherungs-Kommission hat dem Beschwerdegegner entsprechend der vorinstanzlichen Anordnung das rechtliche Gehör zu gewähren, und die Ausgleichskasse wird anschliessend neu zu verfügen haben.
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