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37. Auszug aus dem Urteil vom 5. September 1990 i.S. Schweizerische Grütli gegen X und Versicherungsgericht des Kantons Zürich | |
Regeste |
Art. 5 Abs. 3 KUVG, Art. 2 Abs. 1 und 2 Vo III. |
- Anforderungen an die Umschreibung des Vorbehaltes insbesondere bei der zu AIDS führenden HIV-Erkrankung. Berichtigung eines Vorbehaltes. Zulässigkeit eines mit "HIV-Erkrankung mit Folgen" bzw. "Immunschwäche und Folgen" bezeichneten Vorbehaltes (Erw. 4). | |
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3. Die Vorinstanz gelangt zum Schluss, der positive Antikörpertest könne nicht als Krankheit gewertet werden und demzufolge ![]() | 1 |
a) Eine Krankenkasse schuldet grundsätzlich Leistungen unter dem Titel der Krankenpflegeversicherung im Sinne des KUVG nur, wenn der Versicherte an einer Krankheit leidet (BGE 110 V 315 Erw. 3a). Der Krankheitsbegriff lässt sich angesichts der Vielfalt möglicher krankhafter Erscheinungen schwer in eine genaue Definition fassen. Daher wird man die Frage, ob ein Versicherter an einer Krankheit im Sinne des KUVG leidet oder nicht, nach den Besonderheiten des Einzelfalles beantworten. Immerhin wird man kaum je von Krankheit sprechen können, wenn nicht Störungen vorliegen, die durch pathologische Vorgänge verursacht worden sind. Zu betonen ist, dass es sich beim Begriff Krankheit um einen Rechtsbegriff handelt und dass er sich somit nicht notwendigerweise mit dem medizinischen Krankheitsbegriff deckt (BGE 114 V 155 Erw. 2a, 163 Erw. 1a, je mit Hinweisen).
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b) Das HIV-Virus (=human immunodeficiency virus) ist Verursacher der Krankheit AIDS (=acquired immunodeficiency syndrome). Diese erstmals 1981 als selbständiges Krankheitsbild beschriebene Infektionskrankheit wird vom amerikanischen "Center for Disease Control" (CDC) wie folgt definiert: "erworbenes Immundefektsyndrom, charakterisiert durch das Auftreten von persistierenden oder rezidivierenden Krankheiten, welche auf Defekte im zellulären Immunsystem hinweisen, wobei keine anderen bekannten Ursachen dieser Immundefekt-Symptomatik nachzuweisen sind (Roche-Lexikon, 2. Aufl., S. 33)." Die Krankheit ist nach dem heutigen Stand der Medizin unheilbar und verläuft meist tödlich. Nach der Klassifikation des CDC werden vier Krankheitsstadien unterschieden:
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I Akute HIV-Infektion
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II Asymptomatische HIV-Infektion
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III Generalisierte Lymphadenopathie
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IV A Allgemeinsymptome (ARC = AIDS-related complex)
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B Neurologische Symptome
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C Sekundäre Infektionskrankheiten
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D Maligne Erkrankungen
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E Andere Erkrankungen
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Das erste Stadium ist gekennzeichnet durch die HIV-Infektion, die in der Regel asymptomatisch verläuft. In maximal 30% der ![]() | 12 |
c) In medizinischer Hinsicht gilt die HIV-Erkrankung von ihrem Beginn an (d.h. nach Eintritt des Virus in den Körper) als Krankheit (vgl. AIDS-Konzept FMH, a.a.O., S. 1996). Beim Begriff der Krankheit im Sinne des KUVG handelt es sich indessen um einen Rechtsbegriff, der sich nicht notwendigerweise mit dem medizinischen Krankheitsbegriff deckt (BGE 114 V 155 Erw. 2a, 163 Erw. 1a). Es fragt sich daher, ob die HIV-Infektion (bzw. die Seropositivität) für sich allein auch unter sozialversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten als Krankheit zu gelten hat.
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aa) In Beantwortung einer Einfachen Anfrage Braunschweig vom 18. Dezember 1987 hat der Bundesrat am 23. März 1988 die Auffassung vertreten, ein positiver HIV-Antikörpertest gelte nicht als Krankheit im Sinne des KUVG und dürfe somit insbesondere ![]() | 14 |
bb) Der im AIDS-Konzept FMH vertretenen Auffassung ist insofern beizupflichten, als kein Anlass besteht, die HIV-Erkrankung rechtlich anders zu bewerten als andere Infektionskrankheiten, die unmittelbar nach erfolgter Infektion behandlungsbedürftig sind und zu Leistungen der Krankenkassen Anlass geben. Die Besonderheit der HIV-Erkrankung besteht darin, dass die Infektion in der überwiegenden Zahl der Fälle asymptomatisch verläuft und auch im Falle einer akuten Infektion die Erkrankung nach den heute zur Verfügung stehenden diagnostischen Methoden (Antikörper-Test) erst Wochen bis Monate nach erfolgter Infektion festgestellt werden kann (vgl. AIDS in der Schweiz, S. 48). Zudem folgt auf die akute Erkrankung in der Regel eine längerdauernde symptomlose Zeit. Dies ändert indessen nichts daran, dass unmittelbar nach erfolgter Infektion eine behandlungsbedürftige Krankheit (und nicht eine blosse Krankheitsdisposition) besteht. Zwar gilt die Krankheit nach dem gegenwärtigen Stand der Medizin als unheilbar. Es bestehen indessen bereits heute therapeutische Möglichkeiten, wobei die Bestrebungen der Medizin dahin gehen, Therapien zu entwickeln, die unmittelbar nach festgestellter HIV-Infektion einsetzen (vgl. AIDS in der Schweiz, S. 53/54; AIDS-Konzept FMH, a.a.O., S. 1996). Auch im Hinblick auf bestehende ![]() | 15 |
Die Annahme, der HIV-Infektion komme Krankheitswert im Rechtssinne zu, steht im Einklang mit der Regelung in der Invalidenversicherung, wo die angeborene HIV-Infektion ohne Einschränkungen, d.h. unmittelbar nach festgestellter Seropositivität, als leistungsbegründendes Geburtsgebrechen anerkannt ist (Ziff. 490 GgV Anhang). Nicht erforderlich ist, dass bereits Symptome vorliegen oder eine Behandlung erfolgt (Rz. 1857 der vom Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) herausgegebenen IV-Mitteilungen Nr. 283 vom 30. November 1988).
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Im übrigen hat das Bundesgericht den Krankheitswert der Seropositivität auch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten (Art. 221 StGB) bejaht (Urteil des Kassationshofes vom 22. Februar 1990 i.S. S.).
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Seitens der Beschwerdegegnerin wird nicht geltend gemacht, sie habe die Formulierung des Vorbehaltes mit "HTLV-III-positiv" nicht in dem Sinne verstanden, dass er sich auf die bei ihr im Zeitpunkt der Höherversicherung bestehende HIV-Erkrankung beziehe. Aus dem Schreiben der Versicherten an die Krankenkasse vom 21. Februar 1986 geht hervor, dass ihr die Bedeutung der Diagnose "HTLV-III-positiv", die sie als AIDS-VIRUS-Trägerin bezeichnete, sowie die damit verbundene gesundheitliche ![]() | 19 |
b) Das BSV erachtet einen Vorbehalt, welcher die Immunschwäche und alle damit zusammenhängenden Krankheiten vom Versicherungsschutz ausnehmen würde, als zu wenig bestimmt und daher im Sinne der Rechtsprechung als unzulässig.
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aa) Gemäss Art. 2 Abs. 1 Vo III muss die Krankenkasse bei Anbringung eines Vorbehaltes im Sinne von Art. 5 Abs. 3 KUVG die vorbehaltene Krankheit und den Beginn der Vorbehaltsfrist im Versicherungsausweis genau bezeichnen. Nach der Rechtsprechung verbietet das Erfordernis der genauen Umschreibung des Vorbehaltes dessen Ausdehnung auf alle möglichen Krankheiten des betreffenden Organs. Wesentlich ist, dass der Versicherte über den Inhalt eines die Versicherung einschränkenden Vorbehaltes genaue Kenntnis hat, und dies bereits ab dem Zeitpunkt, da der Vorbehalt angebracht wird (RKUV 1989 Nr. K 815 S. 280 Erw. 1, 1987 Nr. K 728 S. 174 Erw. 2 mit Hinweisen).
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Mit Art. 2 Abs. 1 Vo III und der Rechtsprechung, wonach die vorbehaltene Krankheit genau zu bezeichnen ist, soll sichergestellt werden, dass über die jeweilige Versicherungsdeckung Klarheit besteht. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit muss es indessen genügen, wenn der Vorbehalt so genau wie möglich umschrieben wird. Strengere Anforderungen würden dazu führen, dass die Krankenkassen in der ihnen vom Gesetzgeber mit Art. 5 Abs. 3 KUVG eingeräumten Möglichkeit zur Risikoselektion eingeschränkt würden und in zahlreichen Fällen keinen Vorbehalt anbringen könnten (was zur Folge haben könnte, dass Begehren um Höherversicherung vermehrt abgelehnt würden). Beim ![]() | 22 |
bb) Nach dem in Erw. 3b Gesagten zeichnet sich die zu AIDS führende HIV-Erkrankung durch eine Vielzahl verschiedenster Krankheitsbilder aus, die neben- und nacheinander auftreten können. Eine genaue Bezeichnung der einzelnen Erkrankungen ist angesichts der Vielzahl von Krankheitsmanifestationen nicht möglich. Es muss daher eine generelle Umschreibung zulässig sein, soll die Wirksamkeit eines Vorbehaltes nicht von vorneherein ausgeschlossen werden. Die gegenteilige Auffassung liefe darauf hinaus, dass nur einzelne Krankheitssymptome vorbehaltsfähig wären, soweit sie bis zum Zeitpunkt der Versicherungsänderung manifest geworden sind, nicht dagegen die HIV-Erkrankung als solche. Dies würde dem besondern Charakter der Krankheit nicht gerecht und vermöchte auch im Hinblick auf die Gleichbehandlung der Versicherten nicht zu befriedigen. Eine sachgerechte Lösung kann nur darin bestehen, dass die HIV-Erkrankung - in Übereinstimmung mit der medizinischen Betrachtungsweise - als selbständige Krankheit gewertet wird, welche sämtliche spezifischen Symptome umfasst, wie sie für die verschiedenen Stadien bis zum Vollbild von AIDS bekannt sind. Eingeschlossen sind die sekundären Infektionskrankheiten, welche als Folgen der Immunschwäche zu den typischen Erscheinungsformen der HIV-Erkrankung gehören. Dementsprechend ist bei positivem HIV-Test ein Vorbehalt für "HIV-Erkrankung mit Folgen" als zulässig zu erachten. Zulässig ist auch ein Vorbehalt für "Immunschwäche und Folgen", sofern - wie dies im vorliegenden Fall zutrifft - bereits Symptome des Immundefektsyndroms aufgetreten sind.
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Mit der genannten Umschreibung des Vorbehalts kann sich nachträglich zwar die Frage stellen, ob eine bestimmte Krankheit, die auch ohne die HIV-Erkrankung auftreten kann, auf diese zurückzuführen ist und allenfalls in welchem Ausmass. Dies spricht jedoch nicht gegen die Zulässigkeit eines in dieser Form umschriebenen Vorbehalts. Vielmehr ist in solchen Fällen die Kausalität nach den verfügbaren medizinischen Angaben zu beurteilen, wobei sich eine allfällige Beweislosigkeit zulasten der Krankenkasse auswirkt, welche aus dem Vorbehalt das Recht auf Verweigerung der Leistungen ableiten will.
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