![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
55. Urteil vom 17. Oktober 1990 i.S. Reederei X gegen Ausgleichskasse Basel-Landschaft und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft | |
Regeste |
Art. 84 AHVG. Anforderungen an Form und Inhalt einer Beschwerde an die kantonale Rechtsmittelinstanz: Zusammenfassung der Rechtsprechung (Erw. 2b). | |
Sachverhalt | |
1 | |
"Wir haben Ihre Abrechnungen vom 19. September 1989 über die
| 2 |
Beitragsjahre 1984 und 1985 erhalten und möchten hiermit fristgerecht
| 3 |
Beschwerde erheben.
| 4 |
Grund unserer Beschwerde liegt darin, dass wir der Abrechnungshöhe nicht
| 5 |
zustimmen können."
| 6 |
Mit Schreiben vom 3. Oktober 1989 übermittelte die Ausgleichskasse die "Beschwerde Reederei X, Abrechnungsnummer 21532.1.0, in Sachen Nachzahlungsverfügungen für die Jahre 1984 und 1985" dem Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft; die Ausgleichskasse bat das Gericht, eine Begründung der Beschwerde zu verlangen und ihr nach deren Eingang eine Frist für die Vernehmlassung anzusetzen.
| 7 |
Mit Brief vom 5. Oktober 1989 gelangte das Versicherungsgericht an die Reederei X und wies sie darauf hin, dass gemäss § 8 Abs. 1 der Verordnung über die Rechtspflege in Sozialversicherungssachen vom 3. Dezember 1984 die Beschwerde ein Rechtsbegehren, eine gedrängte Darstellung des Sachverhalts und eine kurze Begründung enthalten müsse. Nach der Gerichtspraxis habe bereits die erste, innerhalb der Beschwerdefrist einzureichende Eingabe dieses Erfordernis zu erfüllen. Lediglich für die Ausarbeitung der ausführlichen Beschwerdebegründung könne eine Fristerstreckung gewährt werden. Beschwerdeeingaben, welche den gesetzlichen Anforderungen nicht genügten, würden unter Ansetzung einer unerstreckbaren Nachfrist von 10 Tagen zur Verbesserung zurückgewiesen. Darauf antwortete die Reederei am 16. Oktober 1989, sie habe die Beschwerde betreffend AHV-Revision 1984 und 1985, Abrechnungsnummer 21532.1.0, eingereicht, da sie mit der Abrechnung nicht einiggehen könne. Die Beschwerde werde begründet "durch die SUVA-Revisionen" 1985 und 1988 für die Jahre 1984 und 1985. Diese Revisionen ergäben "gegenüber der AHV-Revision von Juli 1989 grosse Unterschiede", obwohl beiden Revisoren "die gleichen Unterlagen als Basis" gedient hätten. Sie ersuche deshalb um eine "neuerliche Revision". Diesem Schreiben waren die vom SUVA-Revisor festgehaltenen Zusammenstellungen der Kontrolldifferenzen beigelegt.
| 8 |
Mit Entscheid vom 29. November 1989 trat das Versicherungsgericht auf die Beschwerde nicht ein, weil die Reederei innert Frist weder ein klar abgefasstes Rechtsbegehren gestellt noch die angefochtene Verfügung eingereicht habe.
| 9 |
10 | |
In seiner Stellungnahme erläutert das Versicherungsgericht seine Praxis zum Nichteintreten auf mangelhafte Beschwerden und beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
| 11 |
Während die Ausgleichskasse auf eine Vernehmlassung verzichtet, schliesst das Bundesamt für Sozialversicherung auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
| 12 |
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
13 | |
14 | |
§ 8 der Verordnung des Kantons Basel-Landschaft über die Rechtspflege in Sozialversicherungssachen vom 3. Dezember 1984 sieht vor:
| 15 |
Beschwerden und Klagen haben ein Rechtsbegehren, eine gedrängte
| 16 |
Darstellung des Sachverhalts und eine kurze Begründung zu enthalten. Die
| 17 |
Beweismittel sind beizulegen oder soweit möglich zu bezeichnen (Abs. 1).
| 18 |
Ist eine Rechtsschrift mangelhaft, setzt der Präsident dem
| 19 |
Beschwerdeführer oder Kläger eine angemessene Frist zur Verbesserung und
| 20 |
verbindet damit die Androhung, dass sonst auf das Rechtsmittel nicht
| 21 |
eingetreten werde (Abs. 2).
| 22 |
Diese kantonale Verfahrensbestimmung hat (mit Ausnahme der Vorschrift, dass die Beweismittel beizulegen oder zu bezeichnen sind; vgl. dazu Erw. 3 hienach) gegenüber Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG keine selbständige Bedeutung. Insoweit geht es hier nicht um die Anwendung kantonalen Verfahrensrechts, sondern um die Auslegung von Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG, welche als Frage des Bundesrechts frei zu prüfen ist (Art. 104 lit. a OG; BGE 112 V 113 Erw. 2d).
| 23 |
![]() | 24 |
c) Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin mit der erwähnten ersten Eingabe vom 28. September 1989 ihren Beschwerdewillen innert der 30tägigen Rechtsmittelfrist klar bekundet. Weil die Beschwerde jedoch den Mindestanforderungen nach Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG offensichtlich nicht genügte, hat die Vorinstanz richtigerweise das Nachfristverfahren eingeleitet. Mit Bezug auf die innert der angesetzten Nachfrist eingereichte Eingabe vom 16. Oktober 1989 ist einzuräumen, dass die Beschwerdeführerin nach wie vor keinen ausdrücklichen Antrag stellte, in welcher Richtung die beanstandeten Verfügungen aufzuheben oder abzuändern seien. Dennoch ist den Eingaben vom 28. September und 16. Oktober 1989 insgesamt eindeutig zu entnehmen, was die Beschwerdeführerin zu erreichen sucht: Sie will für die Jahre 1984 und 1985 weniger hohe Beiträge bezahlen, als dies die Verwaltung von ihr verlangt. Somit liegt - sinngemäss ![]() | 25 |
26 | |
b) Es steht unbestrittenerweise fest, dass die Vorinstanz § 8 der kantonalen Verordnung über die Rechtspflege in Sozialversicherungssachen willkürfrei anwendete. Zu prüfen ist hingegen, ob der angefochtene Entscheid nicht als überspitzt formalistisch bezeichnet werden muss.
| 27 |
![]() | 28 |
Überspitzter Formalismus ist eine besondere Form der Rechtsverweigerung. Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und dem Bürger den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Wohl sind im Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit Art. 4 BV in Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (BGE 115 Ia 17 Erw. 3b, BGE 114 Ia 40 Erw. 3, BGE 114 V 207 Erw. 3a; BGE 113 Ia 87 Erw. 1, 92 Erw. 4a, 96 Erw. 2 und 227 Erw. 1; RKUV 1988 Nr. U 60 S. 443 Erw. 2b mit weiteren Hinweisen).
| 29 |
c) Das Erfordernis, die angefochtene Verfügung einzureichen, darf im Lichte dieser Grundsätze nicht als Selbstzweck behandelt werden. Diese Vorschrift soll ja dazu dienen, dem angerufenen Gericht Gewissheit zu verschaffen, über welchen Streitgegenstand welcher Verfügungsinstanz es zu urteilen hat. Vorliegend ist zu beachten, dass nach § 7 Abs. 1 der zitierten kantonalen Verordnung Klagen und Beschwerden, abweichende bundesrechtliche Bestimmungen vorbehalten, bei der Instanz, welche den angefochtenen Entscheid erlassen hat, zuhanden des Versicherungsgerichts einzureichen sind; diese leitet sie innert 20 Tagen zusammen mit den Akten an das Versicherungsgericht weiter. Wenn diesem von der kantonalen Ausgleichskasse eine Beschwerde übermittelt wird, ist somit die Eigenschaft der kantonalen Ausgleichskasse als ![]() | 30 |
d) Im vorliegenden Fall stand die kantonale Ausgleichskasse als Gegenpartei offensichtlich fest. Sodann liessen sich die angefochtenen Verfügungen aufgrund der in den Eingaben der Reederei enthaltenen Abrechnungsnummern ohne weiteres ermitteln, obgleich es die Ausgleichskasse entgegen § 7 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung unterliess, die Beschwerdeschrift mitsamt Akten an das Versicherungsgericht weiterzuleiten. Unter diesen Umständen ist es überspitzt formalistisch, auf die Beschwerde mangels Einreichung der angefochtenen Verfügungen nicht einzutreten.
| 31 |
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
| 32 |
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der angefochtene Nichteintretensentscheid vom 29. November 1989 ![]() | 33 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |