VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGE 118 V 177  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Regeste
Sachverhalt
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. a) Nach Art. 3 Abs. 1 UVG beginnt die Versicherung an dem Tag, ...
2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführeri ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
22. Urteil vom 9. Juni 1992 i.S. G. gegen "Schweizer Union", Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft, und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
 
 
Regeste
 
Art. 3 Abs. 1 UVG.  
 
Sachverhalt
 
BGE 118 V, 177 (177)A.- Margrit G. (geb. 1945) ist seit der Wintersaison 1961/62 regelmässig für die Schweizer Skischule L. (SSSL) als Skilehrerin tätig und seit Erwerb des Skilehrerpatentes im Jahre 1968 Genossenschafterin der Skischule. Als deren Arbeitnehmerin ist sie bei der "Schweizer Union", Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend Schweizer Union), nach Massgabe des UVG obligatorisch versichert. Anfangs Dezember 1988 schloss sie - wie alljährlich - einen Arbeitsvertrag ab, wonach sie sich verpflichtete, der SSSL während der kommenden Saison gegen eine feste Tagespauschale als Skilehrerin für Klassen- oder Privatunterricht zur Verfügung zu stehen. Zudem übernahm sie u.a. ausdrücklich die Verpflichtung, den obligatorischen Einführungs- oder den kantonalen Fortbildungskurs, die Trainingsstunden, die Rapporte, Theorie und Diskussionen sowie die Skischulabende und Fackelabfahrten zu besuchen. Zum Beginn der Tätigkeit äusserte sich der Vertrag nicht.
1
Am Wochenende des 17./18. Dezember 1988, unmittelbar vor ihrem ersten effektiven Einsatz für Skischulunterricht (19. Dezember 1988), absolvierte Margrit G. den vom zuständigen kantonalen Amt für patentierte Skilehrer alle zwei Jahre vorgeschriebenen BGE 118 V, 177 (178)obligatorischen Fortbildungskurs. Dabei verunfallte sie am ersten Tag und zog sich nebst einem Wadenbeinbruch links Verletzungen des Schultergelenks und des Daumens sowie eine Gehirnerschütterung zu. Die SSSL meldete den Unfall der Schweizer Union, welche in der Folge über längere Zeit die gesetzlichen Leistungen in Form von Heilungskosten und Taggeldern in der Höhe von insgesamt Fr. 29'093.40 erbrachte. Nachdem die Versicherungsgesellschaft im Februar 1990 davon Kenntnis erhalten hatte, dass die "tatsächliche" Anstellung als Skilehrerin auf den 19. Dezember 1988 erfolgte, kam sie auf ihren Entscheid zurück und verfügte am 9. November 1990 die Ablehnung ihrer Leistungspflicht für das Schadenereignis vom 17. Dezember 1988. Zur Begründung führte sie aus, der vor der tatsächlichen Anstellung besuchte Fortbildungskurs sei nicht gedeckt, weil laut Gesetz die obligatorische Unfallversicherung erst an dem Tag beginne, an dem der Arbeitnehmer die Arbeit antrete oder hätte antreten sollen. Auf Einsprache hin bestätigte die Versicherung ihre Ablehnungsverfügung (Entscheid vom 22. Januar 1991).
2
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, die Schweizer Union sei zur Ausrichtung der vertraglichen und gesetzlichen Leistungen in vollem Umfange zu verpflichten, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 7. Juni 1991 ab.
3
C.- Margrit G. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und das vorinstanzliche Rechtsbegehren erneuern; eventuell sei die Sache zur nochmaligen Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit Eingaben vom 19. September und 9. Dezember 1991 werden verschiedene Unterlagen nachgereicht.
4
Die Schweizer Union und das Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
5
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1. a) Nach Art. 3 Abs. 1 UVG beginnt die Versicherung an dem Tag, an dem der Arbeitnehmer aufgrund der Anstellung die Arbeit antritt oder hätte antreten sollen, in jedem Falle aber im Zeitpunkt, da er sich auf den Weg zur Arbeit begibt. Diese Regelung stimmt, von kleineren redaktionellen Änderungen abgesehen, mit Art. 62 Abs. 1 KUVG überein, so dass die hiezu ergangene Judikatur und Literatur auch für das neue Recht gültig sind. Was unter dem Anknüpfungspunkt "Antritt zur Arbeit" zu verstehen ist, hat das Eidg. Versicherungsgericht BGE 118 V, 177 (179)bereits in einem älteren Urteil aus dem Jahre 1950 erläutert: Diese Formulierung wolle nichts anderes heissen, als dass die Versicherung erst mit dem "Arbeitsbeginn" einsetze, also mit der tatsächlichen Aufnahme der Arbeit. Arbeitsantritt und Arbeitsbeginn seien synonyme Begriffe, wie der französische und italienische Gesetzestext klar dartue ("dès que l'ouvrier a commencé le travail" [neu: dès le jour, où le travailleur commence ... le travail]; "col cominciare del lavoro" [neu: il giorno, in cui il lavoratore comincia ... l'attività]). Das Wort "Antritt" in der deutschen Fassung sei nur gewählt worden, um eine sprachliche Wiederholung zu vermeiden (EVGE 1950 S. 8 Erw. 1). In EVGE 1963 S. 236 Erw. 4 wurde weiter argumentiert, für den Beginn der Versicherung sei im Regelfall ein tatsächliches Ereignis (der "Arbeitsantritt") massgebend, nicht dagegen ein rein rechtliches Verhältnis ("Anstellungsvertrag"). Laut BGE 97 V 208 Erw. 2 ist die Regelung über den Beginn der Versicherung restriktiv zu interpretieren, wobei sich diese Einschränkung allerdings auf den mit der Gesetzesnovelle vom 19. Juni 1959 eingefügten Zusatz zu Art. 62 Abs. 1 KUVG ("oder hätte angetreten werden sollen, in jedem Falle aber mit Antritt des Weges zur Arbeit") bezieht, der im Verhältnis zur Grundregel des Arbeitsantritts die Ausnahme bildet (vgl. EVGE 1963 S. 236 Erw. 4). Nach neuerer Lehre und Rechtsprechung ist eine solche Ausnahmebestimmung weder extensiv noch restriktiv auszulegen, sondern nach ihrem Sinn und Zweck im Rahmen der allgemeinen Regelung (BGE 114 V 302 Erw. 3e mit Hinweisen), insbesondere unter gehöriger Beachtung der Schutzrichtung der sozialen Unfallversicherung.
6
b) Nach der Lehre (MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 140) tritt der Arbeitnehmer die Arbeit an, wenn er mit der eigentlichen Arbeit, um derentwillen er angestellt wurde, beginnt. "Antritt der Arbeit" sei aber auch dann anzunehmen, wenn er jene Vorbereitungshandlungen konkret vornehme, die für die Arbeit erforderlich seien, so z.B. wenn er auf der Baustelle Werkzeug und Material fasse, Maschinen bereitstelle oder auf der Arbeitsstätte sich die Arbeitskleider anziehe (vgl. dazu auch GHÉLEW/RAMELET/RITTER, Commentaire de la loi sur l'assurance-accidents, S. 30). Die Auslegung, was "Arbeit antreten" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 UVG bedeutet, hat sich mitunter am Inhalt der "Anstellung" und damit am Arbeitsvertrag zu orientieren.
7
2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin für den am 17. Dezember 1988 erlittenen Unfall Versicherungsschutz BGE 118 V, 177 (180)geniesst. Dass sie als Arbeitnehmerin bei der SSSL beschäftigt und mithin im Sinne von Art. 1 Abs. 1 UVG obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert wäre (vgl. dazu BGE 115 V 55, BGE 113 V 333 Erw. 4b), steht unbestrittenermassen fest. Ob sie Versicherungsleistungen beanspruchen kann, hängt davon ab, wann sie die Arbeit angetreten hat.
8
a) Versicherung und Vorinstanz stellen sich auf den Standpunkt, der Besuch des vom Kanton durchgeführten obligatorischen Fortbildungskurses sei nicht als arbeitsvertragliche Verpflichtung der Arbeitnehmerin zu betrachten, sondern als Voraussetzung zur Anstellung unter den vereinbarten Bedingungen. Die Beschwerdeführerin sei im Unfallzeitpunkt weder in einem Subordinationsverhältnis zur Arbeitgeberin gestanden, noch habe sie für die Kurstage eine Entschädigung erhalten. Weil die Teilnahme der Skilehrer am obligatorischen Fortbildungskurs nicht Inhalt des Arbeitsvertrages bilde, habe die Versicherungsdeckung nicht bereits mit dem Kursbesuch beginnen können, sondern frühestens mit der effektiven Arbeitsaufnahme, d.h. mit der Erteilung von Skilektionen und der Betreuung von Gästen.
9
b) Dem kann nicht beigepflichtet werden. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist der im Arbeitsvertrag ausdrücklich vorgeschriebene Besuch des obligatorischen Fortbildungskurses als arbeitsvertragliche Obliegenheit zu betrachten. Es trifft zwar zu, dass die Beschwerdeführerin mit der Absolvierung dieses Kurses nicht die eigentliche Arbeit geleistet hat, wofür sie angestellt wurde. Dies ändert aber nichts daran, dass die Teilnahme am obligatorischen Fortbildungskurs Bestandteil der arbeitsvertraglichen Verpflichtung war, am ehesten vergleichbar mit den Trainingsstunden, die ebensowenig zur typischen Tätigkeit einer Skilehrerin gehören. Insofern als der Kurs unmittelbar vor dem geplanten eigentlichen Einsatz im Rahmen der Skischule stattfand, hat er zwar nicht arbeitsbegleitenden, aber doch konkret arbeitsvorbereitenden Charakter. Im Lichte der in Erw. 1b erörterten Grundsätze hat daher die Beschwerdeführerin mit dem aufgrund der Anstellungsbedingungen besuchten Fortbildungskurs ihre Arbeit angetreten. Zwischen dem Besuch des Fortbildungskurses und der Ausübung der Instruktionstätigkeit als Skilehrerin besteht ein so enger Konnex, dass der Kurs nicht vom Arbeitsantritt abgekoppelt werden kann. Eine andere Betrachtungsweise hätte unter dem Blickwinkel der Praktikabilität insoweit etwas Stossendes an sich, als sich die Skilehrer für zwei Tage separat versichern müssten, wenn sie den Fortbildungskurs vor Aufnahme ihrer BGE 118 V, 177 (181)eigentlichen Tätigkeit absolvieren. Die Versicherungsdeckung kann aber nicht von der Zufälligkeit abhängen, ob der Kurs unmittelbar vor dem Beginn des Skiunterrichts bestanden wird oder erst nachher, wobei in letzterem Falle der Versicherungsschutz unbestrittenermassen gewährleistet wäre. Der Annahme der Versicherungsdeckung mit dem Besuch des Fortbildungskurses steht der Umstand, dass die Beschwerdeführerin dafür nicht speziell entlöhnt war, nicht entgegen. Rechtsprechungsgemäss kann nämlich der Lohnanspruch in irgendeiner Form geregelt sein (BGE 115 V 59 Erw. 2d). Bei der vereinbarten Tagesbesoldung ist vorliegend anzunehmen, dass sie sämtliche vertraglichen Entschädigungen, insbesondere auch jene für die Absolvierung des vorgeschriebenen Fortbildungskurses, abdeckt. Nicht zu überzeugen vermag sodann, vorab unter dem Blickwinkel des Art. 12 Abs. 1 lit. c UVV, der Einwand, es fehle an einem Subordinationsverhältnis. Danach gelten Unfälle, die dem Versicherten beim Besuch von Schulen und Kursen zustossen, welche nach Gesetz und Vertrag vorgesehen oder vom Arbeitgeber gestattet sind, als Berufsunfälle im Sinne von Art. 7 Abs. 1 UVG. Auch bei diesem Tatbestand können sich vorübergehend andere, besondere (mehrschichtige) Unterstellungsverhältnisse ergeben, die an der arbeitsvertraglichen Subordination grundsätzlich nichts ändern. Unerheblich ist schliesslich, dass das zuständige Departement bei der Ausschreibung der kantonalen Fortbildungskurse jeweils darauf hinweist, die Versicherung gegen Unfall sei Sache der Teilnehmer. Dies hat auf die Frage, wann im Einzelfall aufgrund der konkreten Anstellungsbedingungen die Arbeit angetreten wurde, keinen Einfluss.
10
c) Nach dem Gesagten hat die Beschwerdeführerin den Skiunfall, der sich am ersten Kurstag ereignete, nach Antritt ihrer Arbeit erlitten. Somit hat sie Anspruch auf die gesetzlichen Versicherungsleistungen.
11
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).