BGE 119 V 364 | |||
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52. Auszug aus dem Urteil vom 2. Juni 1993 i.S. Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit gegen H. und Verwaltungsgericht des Kantons Bern | |
Regeste |
Art. 31, 37 und 88 AVIG. Bei den Arbeitgeberpflichten gemäss Art. 37 AVIG handelt es sich nicht um Anspruchsvoraussetzungen der Kurzarbeitsentschädigung, sondern um Mitwirkungspflichten, welche die Arbeitgeber als Durchführungsstellen der AlV zu übernehmen haben (E. 4 und 5). | |
Aus den Erwägungen: | |
3. a) Nach Art. 31 Abs. 1 AVIG (in der seit 1. Januar 1992 gültigen Fassung) haben Arbeitnehmer, deren normale Arbeitszeit verkürzt oder deren Arbeit ganz eingestellt ist, Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung, wenn (a) sie für die Versicherung beitragspflichtig sind oder das Mindestalter für die Beitragspflicht in der AHV noch nicht erreicht haben; (b) der Arbeitsausfall anrechenbar ist (Art. 32 AVIG); (c) das Arbeitsverhältnis nicht gekündigt ist; (d) der Arbeitsausfall voraussichtlich vorübergehend ist und erwartet werden darf, dass durch Kurzarbeit ihre Arbeitsplätze erhalten werden können.
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Gemäss Art. 31 Abs. 3 AVIG haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung (a) Arbeitnehmer, deren Arbeitsausfall nicht bestimmbar oder deren Arbeitszeit nicht ausreichend kontrollierbar ist; (b) der mitarbeitende Ehegatte des Arbeitgebers; (c) Personen, die in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter, als finanziell am Betrieb Beteiligte oder als Mitglieder eines obersten betrieblichen Entscheidungsgremiums die Entscheidungen des Arbeitgebers bestimmen oder massgeblich beeinflussen können, sowie ihre mitarbeitenden Ehegatten.
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Ein Arbeitsausfall ist anrechenbar, wenn er (a) auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen und unvermeidbar ist und (b) je Abrechnungsperiode mindestens 10 Prozent der Arbeitsstunden ausmacht, die von den Arbeitnehmern des Betriebes normalerweise insgesamt geleistet werden (Art. 32 Abs. 1 AVIG). Vom anrechenbaren Arbeitsausfall wird für jede Abrechnungsperiode ein halber Arbeitstag als Karenztag abgezogen (Art. 32 Abs. 2 AVIG in der seit 1. Januar 1992 gültigen Fassung).
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b) Beabsichtigt ein Arbeitgeber, für seine Arbeitnehmer Kurzarbeitsentschädigung geltend zu machen, so muss er dies der kantonalen Amtsstelle mindestens zehn Tage vor Beginn der Kurzarbeit schriftlich melden (Art. 36 Abs. 1 AVIG). Der Arbeitgeber muss in der Voranmeldung die Notwendigkeit der Kurzarbeit begründen und anhand der durch den Bundesrat bestimmten Unterlagen glaubhaft machen, dass die Anspruchsvoraussetzungen nach den Art. 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1 lit. a AVIG erfüllt sind (Art. 36 Abs. 3 AVIG). Hält die kantonale Amtsstelle eine oder mehrere Anspruchsvoraussetzungen für nicht erfüllt, erhebt sie durch Verfügung Einspruch gegen die Auszahlung der Entschädigung (Art. 36 Abs. 4 AVIG).
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Gemäss Art. 37 AVIG (in der seit 1. Januar 1992 gültigen Fassung) ist der Arbeitgeber verpflichtet, (a) die Kurzarbeitsentschädigung vorzuschiessen und den Arbeitnehmern am ordentlichen Zahlungstermin auszurichten; (b) die Kurzarbeitsentschädigung für die Karenzzeit (Art. 32 Abs. 2 AVIG) zu seinen Lasten zu übernehmen; (c) während der Kurzarbeit die vollen gesetzlichen und vertraglich vereinbarten Sozialversicherungsbeiträge entsprechend der normalen Arbeitszeit zu bezahlen; er ist berechtigt, die vollen Beitragsanteile der Arbeitnehmer vom Lohn abzuziehen, sofern nichts anderes vereinbart war.
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Der Arbeitgeber macht den Entschädigungsanspruch seiner Arbeitnehmer innert dreier Monate nach Ablauf jeder Abrechnungsperiode gesamthaft für den Betrieb bei der von ihm bezeichneten Kasse geltend (Art. 38 Abs. 1 AVIG). Sofern alle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind und kein Einspruch vorliegt, vergütet die Kasse dem Arbeitgeber die rechtmässig ausgerichtete Kurzarbeitsentschädigung unter Abzug der Karenzzeit (Art. 37 lit. b AVIG) in der Regel innerhalb eines Monats (Art. 39 Abs. 2 Satz 1 AVIG in der seit 1. Januar 1992 gültigen Fassung).
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a) (Gesetzesauslegung)
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b) Was Wortlaut und Systematik des Gesetzes betrifft, ist davon auszugehen, dass die Anspruchsvoraussetzungen der Kurzarbeitsentschädigung in Art. 31 AVIG geregelt sind, welcher unter dem Titel "Anspruchsvoraussetzungen" in Abs. 1 vier positive, sachliche und in Abs. 3 drei negative, persönliche Voraussetzungen des Anspruchs auf Kurzarbeitsentschädigung statuiert (vgl. E. 3a hievor). Dabei fehlt jeder grammatikalische Hinweis dafür, dass es sich um bloss exemplifikatorische Aufzählungen handeln würde. Das Eidg. Versicherungsgericht hat denn auch die Regelung der sachlichen Anspruchsvoraussetzungen gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung als abschliessend qualifiziert (BGE 111 V 385 E. 2b).
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In systematischer Hinsicht ist des weitern von Bedeutung, dass die Bestimmung von Art. 37 AVIG betreffend die Arbeitgeberpflichten zwischen die Regelung der "Voranmeldung von Kurzarbeit und Überprüfung der Voraussetzungen" (Art. 36 AVIG) und diejenige betreffend "Geltendmachung des Anspruchs" (Art. 38 AVIG) sowie betreffend "Vergütung der Kurzarbeitsentschädigung" (Art. 39 AVIG) eingefügt ist. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich um Rechtspflichten handelt, welche der Arbeitgeber im Verfahren um den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung ab Beginn der Kurzarbeit bis zur Auszahlung der Entschädigung zu erfüllen hat. Die in Art. 37 AVIG statuierten Arbeitgeberpflichten sind somit gesetzessystematisch von den Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 31 AVIG klar abgegrenzt.
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Den Materialien zum AVIG ist zu entnehmen, dass der Bundesrat im ersten Gesetzesentwurf vom 7. November 1979 (Art. 41) die Arbeitgeber verpflichten wollte, für die ihnen ausgerichtete Kurzarbeitsentschädigung ein besonderes Bank- oder Postcheck-Konto zu errichten, welches im Konkurs des Arbeitgebers nicht in die Konkursmasse fallen sollte. Damit sollte die zweckentsprechende Verwendung und Weiterleitung der Kurzarbeitsentschädigung an die anspruchsberechtigten Arbeitnehmer sichergestellt werden (Erläuterungen des BIGA zum Gesetzesentwurf vom 7. November 1979, S. 18). Aufgrund der ablehnenden Vernehmlassungen hat der Bundesrat im definitiven Gesetzesentwurf auf dieses Sicherungsmittel verzichtet und an seiner Stelle die Vorschusspflicht des Arbeitgebers gesetzt (Botschaft des Bundesrates zum AVIG vom 2. Juli 1980, BBl 1980 III 597 f.). Unter dem Titel "Pflichten des Arbeitgebers" vereinigte er die Bestimmung über die Vorschusspflicht mit den schon im ersten Gesetzesentwurf (Art. 40) vorgesehen gewesenen Pflichten des Arbeitgebers zur Übernahme der Entschädigung während der Karenzzeit und zur Fortzahlung der Sozialversicherungsbeiträge während der Kurzarbeit. Diese Konzeption blieb in den parlamentarischen Beratungen mit Ausnahme der Karenzzeit-Regelung, welche schliesslich ebenfalls angenommen wurde, unbestritten (Amtl. Bull. 1981 N 828 f., 1982 S 137 f.). Mit der in Art. 37 AVIG zum Gesetz erhobenen Lösung hat der Gesetzgeber das Interesse der Arbeitnehmer an einer lückenlosen und zeitlich nicht verzögerten Ausrichtung der Kurzarbeitsentschädigung über dasjenige an der Verhinderung jeglicher Zweckentfremdung durch den Arbeitgeber gestellt. Diese gesetzgeberische Wertung spricht gegen die Annahme, dass es sich bei der Erfüllung der Vorschusspflicht und den beiden andern Arbeitgeberpflichten gemäss Art. 37 AVIG um unabdingbare Voraussetzungen des Anspruchs auf Kurzarbeitsentschädigung handelt.
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c) Die Gesetzesauslegung ergibt somit, dass es sich bei den in Art. 37 AVIG geregelten Arbeitgeberpflichten nicht um Anspruchsvoraussetzungen handelt, von deren Erfüllung die Vergütung der Kurzarbeitsentschädigung an den Arbeitnehmer abhängig ist (vgl. in diesem Sinn auch GERHARDS, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz, Art. 37 N 20 ff.). Sie gehören ihrer Rechtsnatur nach zu den Mitwirkungspflichten, welche die Arbeitgeber als Durchführungsstellen der Arbeitslosenversicherung (vgl. Art. 76 Abs. 1 lit. f und Art. 88 Abs. 1 lit. c AVIG) zu übernehmen haben (GERHARDS, a.a.O., Art. 88 N 11). Indem die Arbeitgeber die Kurzarbeitsentschädigung an den ordentlichen Zahlungsterminen vorschussweise ausrichten, die Entschädigung für die Karenzzeit übernehmen und die vollen Sozialversicherungsbeiträge entsprechend dem auf die normale Arbeitszeit entfallenden Lohn entrichten, erfüllen sie öffentlichrechtliche Pflichten, welche ihnen die Gesetzgebung über die Arbeitslosenversicherung überbindet. Als Sanktion für die Nicht- oder Schlechterfüllung dieser Pflichten statuiert Art. 88 Abs. 2 AVIG eine Haftpflicht der Arbeitgeber für absichtlich oder grobfahrlässig verursachte Schäden. Für eine Durchsetzung der Arbeitgeberpflichten von Art. 37 AVIG auf dem Wege einer Leistungs- oder Vergütungsverweigerung besteht dagegen kein Raum.
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a) Richtig ist, dass die Kurzarbeitsentschädigung auf die Erhaltung von Arbeitsplätzen gerichtet ist (vgl. BGE 111 V 385), welcher Zweck in Frage gestellt ist, wenn der Arbeitgeber seiner Vorschusspflicht und der Pflicht zur Übernahme der Entschädigung während der Karenzzeit nicht mehr nachkommen kann. Einer allfälligen Illiquidität wird aber mit Art. 31 Abs. 1 lit. d AVIG Rechnung getragen, wonach der Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung u.a. voraussetzt, dass der Arbeitsausfall voraussichtlich vorübergehend ist, was bei anhaltender Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht angenommen werden kann. Im vorliegenden Fall jedoch hat die zuständige kantonale Amtsstelle (Art. 36 AVIG) diese Anspruchsvoraussetzung mit Entscheiden vom 20. März und 16. Juni 1992 sinngemäss bejaht. Es liegt diesbezüglich ein rechtskräftiger Entscheid vor, welcher nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet, so dass darauf nicht näher einzugehen ist.
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Im übrigen kann der Arbeitnehmer an der Aufrechterhaltung des während der Kurzarbeit fortbestehenden Arbeitsverhältnisses selbst dann ein Interesse haben, wenn der Arbeitgeber seine Pflichten gemäss Art. 37 AVIG, insbesondere seine Pflicht zur Bevorschussung der Kurzarbeitsentschädigung an den ordentlichen Zahlungsterminen, nicht erfüllt und weiterhin nicht mehr zu erfüllen imstande ist. Namentlich kann dem Arbeitnehmer auch diesfalls mit der Aufrechterhaltung des an den Bestand des Arbeitsverhältnisses gebundenen Versicherungsschutzes im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung (Art. 3 Abs. 2 UVG) und der beruflichen Vorsorge (Art. 10 Abs. 2 BVG) besser gedient sein als mit einer ausserordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses zufolge Zahlungsverzuges (Art. 337 und 337a OR; vgl. REHBINDER, Berner Kommentar zum ZGB, Art. 337a OR N 6) und nachfolgender Ganzarbeitslosigkeit.
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b) Das BIGA macht des weitern geltend, bei einer Auslegung von Art. 37 AVIG in dem von der Vorinstanz vertretenen Sinn bestehe die Gefahr von Doppelzahlungen, falls der Arbeitnehmer nach dem Konkurs des Arbeitgebers Anspruch auf Insolvenzentschädigung erhebe. Gemäss Art. 52 Abs. 1 AVIG (in der seit 1. Januar 1992 gültigen Fassung) deckt die Insolvenzentschädigung Lohnforderungen für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses (vgl. BGE 112 V 58 E. 2, ARV 1986 Nr. 14 S. 55 E. 2). Dabei ist vom Begriff des massgebenden Lohnes im Sinne der AHV-Gesetzgebung auszugehen, welcher "jedes Entgelt für in unselbständiger Stellung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit geleistete Arbeit" umfasst (Art. 3 Abs. 1 AVIG und Art. 5 Abs. 2 AHVG). Nicht als Lohn im Sinne dieser Bestimmungen gelten indessen Entschädigungen für Kurzarbeit, weshalb sich insoweit auch keine Gefahr von Doppelzahlungen ergibt.
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Anderseits besteht ein erhebliches Interesse sowohl des Arbeitnehmers wie der Arbeitslosenkasse, dass eine zweckwidrige Verwendung von Kurzarbeitsentschädigungen durch den Arbeitgeber verhindert wird. Stellt die Kasse fest, dass der Arbeitgeber seinen Pflichten gemäss Art. 37 AVIG nicht bloss einmalig oder versehentlich nicht nachgekommen ist, so ist es zur Sicherstellung des Versicherungszwecks ausnahmsweise zulässig, dass der Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung vom Arbeitnehmer selbst geltend gemacht (GERHARDS, a.a.O., Art. 39 N 18) und die Vergütung direkt dem anspruchsberechtigten Arbeitnehmer ausgerichtet wird. Einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage bedarf es hiefür nicht, weil der Anspruch grundsätzlich dem Arbeitnehmer zusteht.
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