BGE 121 V 1 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
1. Auszug aus dem Urteil vom 9. Februar 1995 i.S. Ausgleichskasse des Kantons Bern gegen D. und Verwaltungsgericht des Kantons Bern | |
Regeste |
Art. 5, 8 und 9 AHVG, Art. 39 AHVV. |
- Geht es nicht um einen rückwirkenden, sondern um einen für die Zukunft wirkenden Wechsel des Beitragsstatuts, greift grundsätzlich die freie erstmalige Prüfung der Statutsfrage Platz unter Beachtung der gebotenen Zurückhaltung in Grenzfällen. |
- Betrifft die Frage des Statutswechsels sowohl Entgelte, auf welchen bereits Sozialversicherungsbeiträge erhoben wurden, als auch solche, die noch nicht Gegenstand einer Verfügung waren, ist für jenen Teil, über den eine formell rechtskräftige Verfügung vorliegt, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung oder für eine prozessuale Revision gegeben sind, während das Beitragsstatut für die übrigen bisher nicht erfassten Entgelte frei zu prüfen ist. | |
Aus den Erwägungen: | |
1 | |
Daraus ergibt sich, dass über die Sozialversicherungsbeiträge auf den durch die Firma H. dem Beschwerdegegner im Jahr 1988 ausgerichteten Zahlungen von Fr. 114'155.-- durch die Ausgleichskasse Basel-Stadt am 14. März 1990 rechtskräftig verfügt worden war. Es fragt sich daher, ob und unter welchen Voraussetzungen die Ausgleichskasse des Kantons Bern die gleichen Entgelte zum Gegenstand einer erneuten, anderslautenden Verwaltungsverfügung machen durfte.
| 2 |
b) Die bisherige Rechtsprechung zu dieser Frage ist uneinheitlich. In EVGE 1960 S. 312 Erw. 1 in fine hat das Eidg. Versicherungsgericht unter Hinweis auf EVGE 1956 S. 35 (recte S. 41) und 1959 S. 29 ausgeführt, dass mit der Änderung des Beitragsstatuts frühere rechtskräftige Verfügungen über persönliche Beiträge hinfällig werden, "d.h. die neu verfügte Qualifikation hebt die früheren Verfügungen zwangsläufig auf, soweit diese damit in Widerspruch stehen".
| 3 |
In der nicht publizierten Erwägung 5 von BGE 104 V 126 hat das Eidg. Versicherungsgericht an dieser Rechtsprechung, welche inzwischen in der Wegleitung des BSV über den Bezug der Beiträge (in der Fassung von 1974) Niederschlag gefunden hatte, im wesentlichen festgehalten und ergänzt, rechtlich könne es keinen Unterschied machen, ob die sich widersprechenden Verfügungen von einer und derselben oder von verschiedenen Ausgleichskassen stammen, weil die AHV-Verwaltung hinsichtlich der Beitragsbestimmung als Einheit aufzufassen sei. Weiter hat es indes hinzugefügt: "Im Interesse der Rechtssicherheit ist aber auch zu beachten, dass die Ausgleichskassen nur dann auf ein durch rechtskräftige Verfügung geregeltes Beitragsverhältnis zurückkommen dürfen, wenn sich jene Verfügung als zweifellos falsch erweist und ausserdem ein praktisch ins Gewicht fallender Betrag auf dem Spiele steht, wobei dem Umstand, dass die Berechnungsjahre für die paritätischen Beiträge und die persönlichen Beiträge aus selbständiger Tätigkeit in der Regel nicht übereinstimmen, Rechnung zu tragen ist".
| 4 |
Dieser Grundsatz wurde in der Folge nicht mehr konsequent angewandt. Im Urteil ZAK 1981 S. 384 Erw. 4 hat das Eidg. Versicherungsgericht erneut dargelegt, dass die Änderung des Beitragsstatuts jede frühere rechtskräftige Beitragsverfügung für persönliche Beiträge ungültig werden lasse, somit jede neue Beurteilung notwendigerweise alle früheren Verfügungen aufhebe, soweit sie im Widerspruch zur neuen Rechtslage stünden und im Rahmen der Vorschriften noch korrigiert werden könnten. Die gleiche Auffassung hat es in den nicht publizierten Urteilen W. vom 25. Oktober 1984 und B. vom 9. Dezember 1985 vertreten.
| 5 |
In ZAK 1985 S. 315 Erw. 3c hat das Eidg. Versicherungsgericht unter Hinweis auf die nicht veröffentlichte Erw. 5 von BGE 104 V 126 ausgeführt: "Beim Vorliegen eines die beitragsrechtliche Statusfrage betreffenden Grenzfalles erscheint es als gerechtfertigt, in der Vornahme eines Wechsels des Beitragsstatuts eine gewisse Zurückhaltung zu üben. Hiefür sprechen insbesondere der Grundsatz der Verfahrensökonomie und gegebenenfalls die Möglichkeit, dass die bereits unter dem Titel der früheren beitragsrechtlichen Qualifikation bezahlten Beiträge unter Umständen gar nicht mehr zurückgefordert werden könnten wegen Ablaufs der absoluten Verjährungsfrist des Art. 16 Abs. 3 AHVG. Abgesehen davon könnte im Falle der Wiedererwägung einer rechtskräftigen Verfügung der in einem Grenzfall getroffene Entscheid ohnehin kaum je als zweifellos unrichtig bezeichnet werden".
| 6 |
An der Aussage, in Grenzfällen sei in der Vornahme eines Wechsels des Beitragsstatuts eine gewisse Zurückhaltung zu üben, hielt das Eidg. Versicherungsgericht in der Folge fest, wobei es diese Rechtsprechung nicht nur dann anwandte, wenn über die streitigen Sozialversicherungsbeiträge bereits eine rechtskräftige Verfügung vorlag, sondern auch beim Wechsel des Beitragsstatuts für die Zukunft (ZAK 1989 S. 439, 1986 S. 577 Erw. 3c; nicht publiziertes Urteil A. vom 30. Dezember 1988).
| 7 |
8 | |
Von der Wiedererwägung ist die sogenannte prozessuale Revision von Verwaltungsverfügungen zu unterscheiden. Danach ist die Verwaltung verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen, wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden, die geeignet sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE 119 V 184 Erw. 3a, 477 Erw. 1a, je mit Hinweisen).
| 9 |
Aus diesen im Sozialversicherungs- und allgemein im Verwaltungsrecht geltenden Grundsätzen folgt, dass die Verwaltung nicht frei ist, formell rechtskräftige Verfügungen aufzuheben, sondern dass es hiefür der Voraussetzungen für die Wiedererwägung oder die prozessuale Revision bedarf. Für den Wechsel des Beitragsstatuts braucht es somit in jenen Fällen, wo über die in Frage stehenden Sozialversicherungsbeiträge bereits eine formell rechtskräftige Verfügung vorliegt, einen Rückkommenstitel (Wiedererwägung oder prozessuale Revision). In diesem Sinne ist die Rechtsprechung gemäss der nicht publizierten Erwägung 5 von BGE 104 V 126 wieder aufzunehmen. Nur wenn sich die formell rechtskräftige Verfügung, mit welcher bestimmte Entgelte als Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Erwerbstätigkeit qualifiziert wurden, als zweifellos unrichtig erweist und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist, oder wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden, die geeignet sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen, ist es zulässig, eine rückwirkende Änderung des Beitragsstatuts betreffend die gleichen Entgelte vorzunehmen. Geht es indes nicht um einen rückwirkenden, sondern um einen nur für die Zukunft wirkenden Wechsel des Beitragsstatuts, greift grundsätzlich die freie erstmalige Prüfung der Statusfrage Platz unter Beachtung der gebotenen Zurückhaltung in Grenzfällen (ZAK 1989 S. 440 Erw. 2b). Betrifft die Frage des Statutswechsels sowohl Entgelte, auf welchen bereits Sozialversicherungsbeiträge erhoben wurden, als auch solche, die noch nicht Gegenstand einer Verfügung waren, ist für jenen Teil, über den eine formell rechtskräftige Verfügung vorliegt, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung oder für eine prozessuale Revision gegeben sind, während das Beitragsstatut für die übrigen bisher nicht erfassten Entgelte frei zu prüfen ist.
| 10 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |