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15. Auszug aus dem Urteil vom 22. Mai 1995 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen S. und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich | |
Regeste |
Art. 43bis Abs. 1 AHVG, Art. 42 Abs. 2 IVG, Art. 36 IVV: Beurteilung der Hilflosigkeit. | |
Sachverhalt | |
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B.- Beschwerdeweise liess S. durch seinen Sohn die Aufhebung der ablehnenden Verwaltungsverfügung und die Zusprechung einer Hilflosenentschädigung beantragen.
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Die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich stellte sich auf den Standpunkt, die Überprüfung beim Verrichten der Notdurft sei unethisch, da sie einen zu starken Eingriff in die Intimsphäre und somit eine Verletzung der Persönlichkeit darstelle; das Kriterium der Notdurftverrichtung sei deshalb für die Beurteilung der Hilflosigkeit eines Menschen "untauglich und nicht praktikabel", zumal es seit der Verwendung des Closomats seine Bedeutung verloren habe; aus diesen Gründen dränge sich eine Praxisänderung auf. Ferner erwog die kantonale Rekurskommission, der Begriff des ![]() | 3 |
C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren um Aufhebung des kantonalen Entscheids und Bestätigung der ablehnenden Kassenverfügung vom 20. November 1990.
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S. schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, in welchem Sinne sich auch die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich zur Sache äussert.
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Die Ausgleichskasse Grosshandel + Transithandel enthält sich eines Antrags und verweist auf eine der Auffassung des beschwerdeführenden Bundesamtes beipflichtende Stellungnahme der Invalidenversicherungs-Kommission.
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Auf die einzelnen Vorbringen in den Rechtsschriften wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Nach Art. 4 Abs. 1 des Bundesbeschlusses vom 19. Juni 1992 über Leistungsverbesserungen in der AHV und der IV sowie ihre Finanzierung (SR ![]() | 9 |
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a) Gemäss Art. 42 Abs. 2 IVG gilt als hilflos, wer wegen der Invalidität für die alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf. Dabei sind praxisgemäss (BGE 117 V 31 Erw. 4b und 148 Erw. 2, je mit Hinweis) die folgenden sechs alltäglichen Lebensverrichtungen massgebend:
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- Ankleiden, Auskleiden;
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- Aufstehen, Absitzen, Abliegen;
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- Essen;
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- Körperpflege;
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- Verrichtung der Notdurft;
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- Fortbewegung (im oder ausser) Haus, Kontaktaufnahme.
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b) Art. 36 IVV sieht drei Hilflosigkeitsgrade vor. Gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung gilt die Hilflosigkeit als schwer, wenn der Versicherte vollständig hilflos ist. Dies ist der Fall, wenn er in allen alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies dauernd der Pflege oder der persönlichen Überwachung bedarf.
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Dagegen liegt mittelschwere Hilflosigkeit laut Art. 36 Abs. 2 IVV vor, wenn der Versicherte trotz der Abgabe von Hilfsmitteln
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a) in den meisten alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist oder
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b) in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf.
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Nach der Rechtsprechung setzt Hilflosigkeit mittelschweren Grades nach Art. 36 Abs. 2 lit. a IVV eine Hilfsbedürftigkeit in mindestens vier alltäglichen Lebensverrichtungen voraus (BGE 107 V 151 Erw. 2).
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- beim Essen, wenn der Versicherte zwar selber essen, die Speisen aber nicht zerkleinern kann, oder wenn er die Speisen nur mit den Fingern zum Mund führen kann (BGE 106 V 158 Erw. 2b);
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- bei der Körperpflege, wenn der Versicherte sich nicht selber waschen oder kämmen oder rasieren oder nicht selber baden bzw. duschen kann;
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- bei Fortbewegung und Kontaktaufnahme, wenn der Versicherte im oder ausser Hause sich nicht selber fortbewegen kann oder wenn er bei der Kontaktaufnahme Dritthilfe benötigt.
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b) Das Eidg. Versicherungsgericht sah sich erstmals angesichts der auf den 1. Januar 1977 in Kraft getretenen neuen Fassung von Art. 36 Abs. 1 IVV, gemäss welcher im Gegensatz zur bis dahin geltenden Regelung für die Annahme schwergradiger Hilflosigkeit Hilflosigkeit ausdrücklich in allen ![]() | 29 |
c) Die im kantonalen Entscheid angeführten Umstände bieten keinen hinreichenden Anlass, um zukünftig bei der Beurteilung der Hilflosigkeit das Element der Notdurftverrichtung, abweichend von der bisherigen Praxis, grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen. Der mit der Überprüfung dieser Lebensverrichtung notwendigerweise verbundene Eingriff in die Intimsphäre und damit in die Persönlichkeit des Betroffenen ist verglichen mit andern im Invalidenversicherungsrecht unumgänglichen Vorkehren entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht als derart schwerwiegend zu werten, dass er diese zum vornherein als unzumutbar erscheinen liesse. Auch ist zu beachten, dass entsprechende Abklärungen meist nicht mit übermässigen Schwierigkeiten verbunden sein dürften, da der festgestellte Gesundheitszustand und die gestellten Diagnosen über die Zuverlässigkeit der Angaben des Leistungsansprechers selbst, seiner Angehörigen oder Pflegepersonen und seines Arztes in aller Regel bereits hinreichend Aufschluss geben und sich weitergehende Massnahmen somit erübrigen.
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b) In dem in ZAK 1982 S. 419 publizierten Urteil vom 9. März 1982 hat das Eidg. Versicherungsgericht - wie zuvor schon im nicht veröffentlichten Urteil W. vom 27. Januar 1982 - unter Bezugnahme auf die damals geltende Rz. 298.3 der bundesamtlichen Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit bestätigt, dass die notwendige Hilfe beim Verrichten der Notdurft erheblich sei, wenn sich der Versicherte nicht selber reinigen könne; die Notwendigkeit der Begleitung und der Hilfe beim Absitzen und Aufstehen sowie beim Ordnen der Kleider hingegen finde bei den entsprechenden alltäglichen Lebensverrichtungen Berücksichtigung. Ausdrücklich hat es das Gericht abgelehnt, das Ordnen der Kleider entsprechend dem vom damaligen Beschwerdeführer vertretenen Standpunkt als Teilfunktion des Verrichtens der Notdurft anzuerkennen. In seinen Erwägungen führte es aus, eine solche Differenzierung sei angesichts des Umstandes, dass gewisse Verrichtungsabläufe nicht einer einzelnen bzw. einzigen Lebensverrichtung zugeordnet werden können, sondern mehrere Lebensverrichtungen berühren, durchaus sachgerecht; auch sei sie keineswegs unüblich und komme nicht allein im Bereich des Verrichtens der Notdurft vor, sondern beispielsweise auch beim Essen oder bei der Fortbewegung ausser Haus. Damit gelangte das Gericht zum Schluss, dass die im Zusammenhang mit der Notdurftverrichtung erforderliche Hilfeleistung beim Ordnen der Kleider einzig bei der Lebensverrichtung Ankleiden/Auskleiden berücksichtigt werden könne.
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Anderseits hat das Eidg. Versicherungsgericht nicht nur das in der bundesamtlichen Wegleitung erwähnte selbständige Reinigen als massgebenden Bestandteil der Notdurftverrichtung betrachtet, sondern etwa auch "die nachts regelmässige Hilfe beim Urinieren" (nicht veröffentlichtes Urteil N. vom 20. August 1981) sowie das nächtliche Bringen eines Topfes ans Bett und ![]() | 34 |
c) Das Eidg. Versicherungsgericht hat somit bei der Beurteilung der Notdurftverrichtung nicht ausschliesslich auf das in der bundesamtlichen Wegleitung (vgl. Rz. 8019 WIH in der heute gültigen Fassung) genannte Element der selbständigen Reinigung abgestellt, sondern dieser Lebensverrichtung verschiedentlich auch weitergehende Hilfeleistungen im Sinne einer wesentlichen Teilfunktion zugeordnet. Dennoch hat es dem Grundsatz nach an dem in ZAK 1982 S. 420 f. Erw. 2 aufgestellten Prinzip festgehalten, wonach im Zusammenhang mit der Notdurftverrichtung erforderliche Hilfeleistungen, welche bereits unter einer andern der relevanten sechs alltäglichen Lebensverrichtungen erfasst werden, im Rahmen der Notdurftverrichtung nicht als Teilfunktion nochmalige Berücksichtigung finden können. Diese Rechtsprechung kann zur Folge haben, dass ein an sich ![]() | 35 |
Grundsätzlich ist der Vorinstanz deshalb darin beizupflichten, dass auch die Notdurftverrichtung als einheitlicher, verschiedene Teilfunktionen umfassender Vorgang zu betrachten ist. Gerade beim dabei unabdingbar notwendigen Ordnen der Kleider liegt es angesichts des engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhangs nahe, im Sinne einer funktionalen Einheit von einer direkt dieser Lebensverrichtung zuzuordnenden Betätigung auszugehen. Zwar trifft es zu, dass sich die dabei geleistete Hilfe auf das Objekt "Kleid" bezieht und deshalb rein mechanisch und selektiv betrachtet als ![]() | 36 |
d) Die bisherige Rechtsprechung trug diesen Verhältnissen nicht genügend Rechnung, weshalb daran nicht mehr festgehalten werden kann. Das Ordnen der Kleider im Zusammenhang mit der Notdurftverrichtung ist in Abweichung von der früheren Praxis als Teilfunktion dieser Lebensverrichtung zu qualifizieren. Ob und inwieweit dies auch für die Begleitung zur Toilette und die dortige Hilfe beim Absitzen und Aufstehen gelten kann, braucht an dieser Stelle nicht geprüft zu werden.
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7. Aufgrund der Eingaben des Beschwerdegegners ist davon auszugehen, dass er im Rahmen der Notdurftverrichtung für das Ordnen seiner Kleidung auf Hilfe angewiesen ist. Nach dem Gesagten muss er somit auch in dieser Lebensverrichtung als in relevantem Mass hilfsbedürftig gelten. Offenbleiben kann unter diesen Umständen die Rechtfertigung der vorinstanzlichen Argumentation, wonach schon die Schwäche der Finger des Beschwerdegegners, welche es ihm verunmögliche, die Nahrung zu zerkleinern, darauf schliessen lasse, dass die Reinigung bei der Notdurftverrichtung entgegen seinen eigenen Angaben nicht mehr in genügender Weise gewährleistet sei. Da der Versicherte in allen sechs massgebenden Lebensverrichtungen als hilflos zu betrachten ist und gemäss den von keiner Seite bestrittenen Ausführungen in der Anmeldung zum Leistungsbezug auch die kumulative Voraussetzung der dauernden Pflege und persönlichen Überwachung erfüllt ist, liegt schwere Hilflosigkeit vor. Die Vorinstanz hat demnach den Anspruch auf eine entsprechende Hilflosenentschädigung der AHV ab November 1989 im Ergebnis zu Recht bejaht, was zur Abweisung der vom BSV erhobenen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führt.
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