BGE 121 V 181 | |||
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28. Auszug aus dem Urteil vom 13. November 1995 i.S. Ausgleichskasse des Kantons Bern gegen S. und Verwaltungsgericht des Kantons Bern | |
Regeste |
Art. 8 AHVG, Art. 19 und 21 AHVV. |
Die Verwaltungsweisung, wonach der Beitrag in Anwendung des niedrigsten Ansatzes der sinkenden Skala zu erheben sei, ist gesetz- und verordnungswidrig. |
Vielmehr ist der Mindestbeitrag gemäss Art. 8 Abs. 2 AHVG in Verbindung mit Art. 21 AHVV zu erheben. | |
Sachverhalt | |
A.- S. arbeitete bei der Eidg. Steuerverwaltung. Daneben übte er eine selbständige Erwerbstätigkeit als Rechts- und Steuerberater aus. Am 22. Dezember 1992 erliess die Ausgleichskasse des Kantons Bern eine Beitragsverfügung für die Periode vom 1. Januar bis 31. Dezember. Sie legte dieser Verfügung das selbstdeklarierte, mutmassliche Jahreseinkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit im Nebenerwerb von Fr. 4'000.-- zugrunde und erhob den Mindestbeitrag gemäss Art. 8 Abs. 2 AHVG in Verbindung mit Art. 21 AHVV von Fr. 360.-- plus Verwaltungskosten.
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B.- Mit Beschwerde beantragte S., seine persönlichen AHV/IV/EO-Beiträge aus selbständiger Erwerbstätigkeit für das Jahr 1992 seien auf Fr. 241.25 festzusetzen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 19. April 1993 gut. Es berief sich auf Rz. 1312 der Wegleitung über die Beiträge der Selbständigerwerbenden und der Nichterwerbstätigen (WSN) und wies die Sache an die Ausgleichskasse zurück mit der Weisung, es sei nicht der Mindestbeitrag, sondern ein persönlicher AHV-Beitrag unter Anwendung des niedrigsten Ansatzes der sinkenden Beitragsskala gemäss Art. 21 AHVV zu verfügen.
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C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Ausgleichskasse des Kantons Bern die Aufhebung des Entscheides des Verwaltungsgerichts und die Wiederherstellung der Verfügung vom 22. Dezember 1992. Sie begründet ihren Antrag mit der Gesetzwidrigkeit der Rz. 1312 WSN.
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S. und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) beantragen Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Aus den Erwägungen: | |
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Im vorliegenden Text ist einzig die Frage zu entscheiden, ob Rz. 1312 WSN mit den anwendbaren Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen vereinbar ist.
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b) Gemäss Art. 8 AHVG in Verbindung mit Art. 5 der Verordnung 92 über Anpassungen an die Lohn- und Preisentwicklung bei der AHV/IV vom 21. August 1992 (V 92) wird vom Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit ein Beitrag von 7,8% (für die AHV allein) erhoben. Beträgt das Einkommen weniger als Fr. 43'200.--, aber mindestens Fr. 7'200.-- im Jahr, so vermindert sich der Beitragssatz nach einer vom Bundesrat aufzustellenden, sinkenden Skala bis auf 4,2% (für die AHV allein).
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Der Bundesrat hat die sinkende Beitragsskala für Selbständigerwerbende in Art. 21 AHVV normiert. Diese bezieht sich ausschliesslich auf Einkommen zwischen Fr. 7'200.-- und Fr. 43'200.-- pro Jahr. Auf tiefere Einkommen ist die Skala - unter Vorbehalt der hier nicht anwendbaren Spezialbestimmung von Art. 21 Abs. 2 AHVV - nach ihrem klaren Wortlaut und in Übereinstimmung mit Art. 8 Abs. 1 AHVG nicht anwendbar.
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c) Die Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit, die den Betrag von Fr. 7'200.-- nicht erreichen, werden in Art. 8 Abs. 2 AHVG geregelt. Beträgt das Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit Fr. 7'100.-- oder weniger im Jahr, so ist der Mindestbetrag von Fr. 299.-- (für die AHV allein) zu entrichten (Satz 1). Der Bundesrat kann anordnen, dass von geringfügigen Einkommen aus einer nebenberuflich ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeit nur auf Verlangen des Versicherten Beiträge erhoben werden (Satz 2).
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Satz 1 von Art. 8 Abs. 2 AHVG unterscheidet nicht zwischen haupt- und nebenberuflich ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeiten. Somit ist - unter Vorbehalt von Satz 2 - auf allen selbständigen Erwerbseinkommen unter Fr. 7'200.-- pro Jahr der Mindestbeitrag zu erheben. Der Bundesrat hat - wiederum unter Vorbehalt von Satz 2 - keine Kompetenz, von dieser Regelung abzuweichen. Insbesondere hat die Verwaltung keine Kompetenz, die sinkende Beitragsskala gemäss Art. 8 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 AHVV auf Einkommen unter Fr. 7'200.-- pro Jahr anzuwenden.
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Satz 2 von Art. 8 Abs. 2 AHVG ist eine Ausnahmebestimmung zu Satz 1. Die Norm betrifft nur nebenberuflich erzielte selbständige Erwerbseinkommen. Der Bundesrat kann geringfügige Einkommen aus nebenberuflich ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeiten vom Beitragsobligatorium ausnehmen, was er in Art. 19 AHVV für Einkommen unter Fr. 2'000.-- pro Jahr getan hat. Indessen gibt auch Art. 8 Abs. 2 Satz 2 AHVG dem Bundesrat nicht die Kompetenz, die nebenberuflich verdienten selbständigen Erwerbseinkommen unter Fr. 7'200.-- pro Jahr, oder geringfügige Einkommen im Sinn von Satz 2, der Beitragspflicht nach der sinkenden Beitragsskala zu unterstellen. Dies hat er in Art. 21 AHVV denn auch nicht getan. Rz. 1312 WSN ist somit nicht nur gesetz-, sondern auch verordnungswidrig.
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4. a) Der Beschwerdegegner und die Vorinstanz wenden ein, dass der Wortlaut von Art. 8 AHVG nicht dessen wirklichem Sinne entspreche. Sie verweisen auf die Botschaft zur neunten AHV-Revision (BBl 1976 III 1 ff., 25 f.). Daraus gehe klar hervor, dass der Mindestbeitrag gemäss Art. 8 Abs. 2 Satz 1 AHVG einzig den Zweck verfolge, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass dem - ausschliesslich - Selbständigerwerbenden auch dann ein volles Beitragsjahr angerechnet werden könne, wenn dieser in einem Jahr kein oder nur ein geringfügiges Erwerbseinkommen erziele. Dieses Problem bestehe aber nur für jene Beitragspflichtigen, die im Hauptberuf selbständigerwerbend seien. Die nebenberuflich Selbständigerwerbenden würden schon auf ihrem massgebenden Lohn Beiträge leisten; die ratio legis entfalle. Art. 8 Abs. 2 Satz 1 AHVG meine in Wirklichkeit nur die hauptberuflich Selbständigerwerbenden.
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b) Diese Argumentation trifft indessen aus mehreren Gründen nicht zu.
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aa) Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Botschaft nur unvollständig zitiert wird. Der Bundesrat hat das Problem der nebenberuflich Selbständigerwerbenden mit einem Erwerbseinkommen von (damals) Fr. 4'000.-- (heute Fr. 7'200.--) nämlich durchaus gesehen. Er diskutierte in seiner Botschaft insbesondere die Frage, ob die Freigrenze gemäss Art. 8 Abs. 2 Satz 2 (in Verbindung mit Art. 19 AHVV) nicht auf den unteren Grenzwert von (damals) Fr. 4'000.-- (heute Fr. 7'200.--) angehoben werden sollte. Eine solche Freigrenze fiel jedoch nach der Auffassung des Bundesrats "ausser Betracht, ist doch die Entrichtung des Mindestbeitrags von Einkommen dieser Grössenordnung aus einer nebenberuflichen, selbständigen Erwerbstätigkeit zumutbar" (Botschaft zur neunten AHV-Revision, a.a.O. S. 26). Daraus geht unzweideutig hervor, dass die Verpflichtung der nebenberuflich Selbständigerwerbenden (mit einem Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit über der Freigrenze nach Art. 19 AHVV und unter dem unteren Grenzbetrag) zur Bezahlung des Mindestbeitrags nicht aus Irrtum erfolgte, sondern auf einer klaren Wertung des Gesetzgebers beruhte. Dies auch dann, wenn sich der Mindestbeitrag in Einzelfällen als reiner Solidaritätsbeitrag erweisen sollte. Die Auffassung der Vorinstanz lässt sich somit aufgrund der Entstehungsgeschichte nicht begründen.
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bb) Die Vorinstanz unterscheidet zwischen haupt- und nebenberuflich Selbständigerwerbenden. Sie will die letzteren von der Bezahlung des Mindestbeitrags mit der Begründung befreien, dass sie bei hauptberuflich unselbständiger Erwerbstätigkeit schon auf dem massgebenden Lohn AHV/IV/EO-Beiträge bezahlten. Indessen kann auch ein hauptberuflich Selbständigerwerbender im Nebenberuf unselbständigerwerbend sein und auf dem massgebenden Lohn Beiträge bezahlen. Die Auslegung der Vorinstanz löst somit das von ihr aufgeworfene Problem nicht.
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cc) Das BSV hätte Rz. 1312 WSN selbst dann nicht erlassen dürfen, wenn die Auslegung der Vorinstanz richtig wäre. Bezieht sich Art. 8 Abs. 2 Satz 1 AHVG nämlich nur auf die hauptberuflich Selbständigerwerbenden, besteht für die nebenberuflich Selbständigerwerbenden mit Erwerbseinkommen zwischen Fr. 2'100.-- und Fr. 7'200.-- keine Regelung und mithin eine echte Lücke. Diese wäre nicht vom BSV, sondern in erster Linie vom Bundesrat zu schliessen (RHINOW/KRÄHENMANN, Verwaltungsrechtsprechung, Nr. 23 B VI b, S. 75). Dem BSV fehlt die Zuständigkeit. Dies umso mehr, als der Bundesrat Art. 8 Abs. 1 Satz 1 AHVG nach dem Wortlaut ausgelegt und damit das Vorliegen einer echten Lücke verneint hat.
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