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31. Urteil vom 19. September 1995 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen G. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen | |
Regeste |
Art. 46 IVG: Nachzahlung von Leistungen. | |
Sachverhalt | |
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Die Invalidenversicherung hat - nach erster Anmeldung vom 7. Oktober 1960 und weiteren Formularanmeldungen am 17. Oktober 1967 und 10. April 1980 - verschiedene Leistungen gewährt wie medizinische Massnahmen, Sonderschulung und Hilfsmittel.
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B.- Beschwerdeweise verlangte G. die Ausrichtung dieser Hilflosenentschädigung rückwirkend bereits ab 1. März 1973. Mit Entscheid vom 19. November 1992 hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Beschwerde gut und stellte fest, dass die Versicherte zufolge leichter Hilflosigkeit ab 1. April 1971 bis 23. Februar 1973 Anspruch auf Pflegebeiträge für Minderjährige und ab 1. März 1973 auf eine Hilflosenentschädigung hat.
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C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde verlangt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und die Anweisung an die Verwaltung, der Versicherten "fünf Jahre rückwirkend ab dem Zeitpunkt der für die Geltendmachung des Anspruchs massgebenden Verfügung (recte: Anmeldung) eine Hilflosenentschädigung leichten Grades auszurichten". Das Amt erachtet die Anmeldung vom 8. Februar 1990 als massgebend und spricht sich für einen Anspruchsbeginn am 1. Februar 1985 aus.
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Die Versicherte beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; eventualiter sei die Hilflosenentschädigung ab März 1975, subeventualiter ab Februar 1985 auszurichten.
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Die Ausgleichskasse schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Im Hinblick auf einen Datum-Verschrieb im kantonalen Urteil, der dem BSV entgangen ist, wurde dem Amt Gelegenheit zu einer zusätzlichen Stellungnahme gegeben. Mit Eingabe vom 29. April 1993 hält das BSV an seiner Auffassung (Hilflosenentschädigung ab 1. Februar 1985) fest.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
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2. Im vorinstanzlichen Entscheid wird zutreffend auf die Rechtsprechung zu Art. 46 IVG verwiesen, wonach sich die im Anschluss an ein Leistungsgesuch durchzuführenden Abklärungen der Verwaltung nur auf die vernünftigerweise ![]() | 10 |
Sodann verweist die Vorinstanz auf die mit BGE 116 V 273 vollzogene Praxisänderung. In diesem Urteil ist die frühere Rechtsprechung, wonach eine hinreichend substantiierte, Leistungsansprüche wahrende Anmeldung nur während fünf Jahren wirkt und demnach eine fünfjährige Verwirkungsfrist ab dieser Anmeldung zu beachten ist, aufgegeben worden und wurde entschieden, dass der Anmeldung zum Leistungsbezug formell eine grundsätzlich unbefristete Wirkung zuzuerkennen ist. Mit diesem die Militärversicherung betreffenden Urteil wurde eine Praxis geändert, die seinerzeit zu Art. 46 IVG entwickelt worden war; sie war mit einer kurzen Bemerkung in BGE 99 V 47 initiiert, in BGE 100 V 118 näher begründet und in BGE 101 V 112 summarisch bestätigt worden.
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Im Anschluss an BGE 116 V 273 haben mehrere Urteile festgehalten, dass sich die erwähnte unbefristete Wirkung dann nicht entfalten kann, wenn die Verwaltung über den Leistungsanspruch mit unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung befunden hat (nicht veröffentlichte Urteile K. vom 13. Oktober 1992 und M. vom 16. April 1991).
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Des weitern kommt es gemäss BGE 116 V 273 trotz grundsätzlich unbefristeter Anmeldung und trotz Fehlens einer den fraglichen Leistungsanspruch betreffenden rechtskräftigen Verfügung zu keiner bis zu dieser Anmeldung zurückreichenden Nachzahlung, wenn für die Folgezeit ein ausdrücklicher oder stillschweigender Verzicht auf Leistungen angenommen werden muss.
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b) Das BSV bezieht sich ebenfalls auf BGE 116 V 273, geht jedoch davon aus, dass diese Rechtsprechung hier nicht anwendbar sei. Einerseits beruft es sich dazu auf das vorne zitierte Urteil M. vom 16. April 1991, ohne allerdings anzugeben, welche der hier im Laufe der Jahre ergangenen Verfügungen der Zuerkennung der unbefristeten Wirkung einer früheren Anmeldung entgegenstehen sollten; anderseits weist es darauf hin, dass die Versicherte in der Neuanmeldung vom 10. April 1980 Hilfsbedürftigkeit ausdrücklich verneint hat. Massgeblich sei erst die Anmeldung vom 8. Februar 1990. Weil die fünfjährige Frist in Art. 48 Abs. 1 IVG eine absolute Verjährungsfrist enthalte, dürfe die Hilflosenentschädigung nur ab Februar 1985 nachgezahlt werden. Das BSV spricht sich dabei für eine fünfjährige Nachzahlung aus, obwohl es "der Ansicht (ist), dass der rechtserhebliche Sachverhalt bereits seit Jahren bekannt war."
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Nachdem das BSV von seinem durch einen Datumfehler der Vorinstanz hervorgerufenen Irrtum bezüglich einer Anmeldung vom "17. Oktober 1987" (recte: 17. Oktober 1967) Kenntnis genommen hatte, vertrat es in einer zusätzlichen Stellungnahme die Auffassung, die Anmeldung vom 17. Oktober 1967 sei deshalb ohne Bedeutung, "weil inzwischen mehr als 5 Jahre verflossen sind. U.E. ist nämlich in jedem Fall die absolute Verjährungsfrist von 5 Jahren gemäss Art. 48 Abs. 1 IVG zu berücksichtigen. Seit 1968 sind mehr als 5 Jahre verstrichen". Es bleibe somit bei der Massgeblichkeit der Anmeldung vom 8. Februar 1990.
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a) Nach Art. 48 Abs. 1 IVG erlischt der Anspruch auf Nachzahlung mit dem Ablauf von fünf Jahren seit Ende des Monats, für welchen die Leistung geschuldet war. Inhaltlich gleich formuliert sind Art. 46 Abs. 1 AHVG sowie Art. 15 Abs. 2 Satz 2 aMVG (vgl. auch den neuen Art. 14 MVG). Dem Wortlaut nach handelt es sich dabei um eine Frist, die vom Monat, für welchen die Leistung geschuldet war, nach vorwärts gerechnet wird und mit diesem Monat ![]() | 19 |
b) Indessen betrachtet das BSV die fünfjährige Frist von Art. 48 Abs. 1 IVG auch als ab Anmeldung nach vorwärts, in die Zukunft gerichtete absolute Verjährungsfrist; in seiner zusätzlichen Stellungnahme vom 29. April 1993 führt es aus, die Anmeldung vom 17. Oktober 1967 sei deshalb unbeachtlich, weil "inzwischen" mehr als fünf Jahre verflossen seien. Diese Auffassung läuft darauf hinaus, einer Anmeldung eine auf fünf Jahre befristete Wirkung zuzuerkennen. Gerade dies aber wurde in BGE 116 V 273 in Änderung der Rechtsprechung verneint, was das BSV - wiewohl es in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde selber auf das zitierte Urteil hinweist - verkennt.
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b) Die vom BSV aufgeworfene Frage ist an sich in BGE 116 V 273 beantwortet. Das Bundesamt für Militärversicherung hatte sich damals auf den mit Art. 48 Abs. 1 IVG übereinstimmenden Art. 15 Abs. 2 Satz 2 aMVG berufen. Das Eidg. Versicherungsgericht erachtete diese Bestimmung jedoch als nicht anwendbar, weil der Versicherte sich nicht erst im Januar 1986 (= Neuanmeldung) und mithin nicht verspätet angemeldet hatte (BGE 116 V 277 Erw. 2b). Wenn das Eidg. Versicherungsgericht schliesslich im Hinblick auf die Erstanmeldung von 1968 dem Versicherten eine Leistung ab Dezember 1976 zusprach (bezogen auf die Neuanmeldung also über rund neun Jahre zurück), so ging es davon aus, dass Art. 15 Abs. 2 Satz 2 aMVG nicht im Sinne einer absoluten Verwirkungsfrist zu verstehen ist.
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Würde BGE 116 V 273 dahingehend verstanden, dass bei Übersehen eines früher hinreichend substantiierten Leistungsanspruchs die Nachzahlung ohne Berücksichtigung irgendeiner absoluten Verwirkungsfrist bis zur massgebenden seinerzeitigen Anmeldung zurück zu erfolgen hat (also gegebenenfalls - wie hier - über 20 Jahre zurück), wäre grundsätzlich dem vorinstanzlichen Entscheid zuzustimmen.
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c) Es stellt sich indessen die Frage, ob mit BGE 116 V 273 wirklich ein solches Ergebnis beabsichtigt wurde, und namentlich, ob dieses mit dem Zweck von periodischen Sozialversicherungsleistungen vereinbar wäre.
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Vorauszuschicken ist, dass BGE 116 V 273 die Höhe einer altrechtlichen ausgekauften Integritätsrente betraf, d.h. die mit einer einmaligen Kapitalleistung abgegoltene Beeinträchtigung der Integrität. Insofern ![]() | 26 |
d) In BGE 116 V 273 wurde - nebst der dargelegten Funktion von periodischen Leistungen - der Umstand zu wenig beachtet, dass der materiellrechtliche Grundanspruch aufgrund einer unbefristet wirkenden Anmeldung eine Sache ist, die Frage der Befristung der Nachzahlung einer in der Folge zugesprochenen Leistung aber eine andere. Wenn in BGE 116 V 273 damit argumentiert wird, Art. 15 Abs. 2 aMVG sei nicht anwendbar, weil sich der Versicherte schon früher angemeldet hat, so dürfte dabei übersehen worden sein, dass Art. 15 Abs. 2 Satz 1 aMVG den auf fünf Jahre beschränkten ![]() | 27 |
Für eine absolute Verwirkungsfrist spricht sodann auch die von MAURER zu Art. 48 Abs. 1 IVG vertretene Auffassung (a.a.O., S. 250 f.). Danach ist die fünfjährige Frist des Abs. 1 nur massgebend, wenn der Versicherte die Anmeldung innerhalb von zwölf Monaten nach Entstehung des Anspruchs eingereicht hat. Dies folge durch Umkehrschluss aus Abs. 2, indem dort bei verspäteter Anmeldung ein Anspruch grundsätzlich nur für die letzten zwölf Monate statuiert werde. Wenn nun aber Abs. 1 einerseits den Fall der rechtzeitigen Anmeldung betrifft, anderseits jedoch jede Leistung ohnehin bloss ab dem Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs in Frage kommen kann, so folgt daraus, dass die fünfjährige Frist dann zum Tragen kommt, "wenn ... die Invalidenversicherung eine Leistung nicht entrichtet, obwohl diese innert der erwähnten zwölf Monate seit Entstehung des Anspruchs geltend gemacht worden ist". So Maurer, der im übrigen folgende möglichen Gründe für ein derartiges Verhalten der Invalidenversicherung anführt (a.a.O., Anm. 548): Die Verwaltung erlässt gar keine Verfügung; sie verweigert verfügungsweise eine Leistung; sie befasst sich in einer allfälligen Verfügung nicht mit der verlangten Leistung. Nach Maurer bezieht sich Art. 48 Abs. 1 IVG demnach auf all jene Fälle, wo die Verwaltung - trotz rechtzeitiger Anmeldung und aus welchen Gründen auch immer - die in Frage kommende Leistung nicht zugesprochen hat: Der Anspruch auf jede Leistung erlischt für einen Zeitpunkt, der weiter als fünf Jahre (ab einer späteren Anmeldung) zurückliegt.
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Demnach ist die mit BGE 116 V 273 begründete Rechtsprechung insofern zu ändern, als dann, wenn die Verwaltung einen hinreichend substantiiert geltend gemachten Leistungsanspruch übersehen hat, die spätere Nachzahlung von Leistungen einer absoluten Verwirkungsfrist von 5 Jahren, rückwärts gerechnet ab dem Zeitpunkt der Neuanmeldung, unterliegt.
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In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 19. November 1992 und die Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen vom 12. September 1991 aufgehoben, und es wird festgestellt, dass der Beschwerdegegnerin ab 1. Februar 1985 eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades zusteht.
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