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22. Auszug aus dem Urteil vom 3. Mai 1996 i.S. B. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Zürich | |
Regeste |
Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK. |
- Im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist es grundsätzlich zulässig, dass Verwaltung und Sozialversicherungsrichter den Entscheid allein auf versicherungsinterne Entscheidungsgrundlagen stützen. An die Unparteilichkeit und Zuverlässigkeit solcher Grundlagen sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen. | |
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Der Beschwerdeführer macht geltend, Einspracheentscheid und Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichts verletzten Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, indem sich die Beurteilung der streitigen Leistungsansprüche ausschliesslich auf medizinische Stellungnahmen anstaltsinterner Ärzte stützten und den Beweisanträgen auf Einholung einer "neutralen Expertise" nicht entsprochen worden sei.
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a) Das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht. Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsrichter von sich aus und ohne Bindung an die Parteibegehren für die richtige und vollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt indessen nicht uneingeschränkt, sondern wird ergänzt durch die Mitwirkungspflichten der Parteien sowie durch die im Anspruch auf rechtliches Gehör mitenthaltenen Parteirechte auf Teilnahme am Verfahren und auf Einflussnahme auf den Prozess der Entscheidfindung (BGE 120 V 360 Erw. 1a, BGE 119 V 211 Erw. 3b, BGE 117 V 283 Erw. 4a und 263 Erw. 3b).
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Der aus Art. 4 BV fliessende Anspruch auf rechtliches Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, anderseits stellt er ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 119 Ia 139 Erw. 2d und 261 Erw. 6a, BGE 119 V 168 Erw. 4a und 211 Erw. 3b, je mit Hinweisen).
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b) Den meisten, durch das Sozialversicherungsrecht versicherten anspruchsbegründenden Risiken (wie Krankheit, Unfall, Arbeitsunfähigkeit, Invalidität, Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Integrität) liegen medizinische Sachverhalte zugrunde. Zur Beurteilung der sich ![]() | 5 |
In der obligatorischen Unfallversicherung kann die Feststellung des rechtserheblichen medizinischen Sachverhaltes erfolgen durch die vom Unfallversicherer eingeholten Berichte der behandelnden Ärzte, einschliesslich der Spezial- und Spitalärzte (Art. 53 Abs. 3 lit. a-c UVV), die Berichte der von der SUVA angestellten Kreisärzte der Agenturen (Art. 65 UVG) und Ärzte der Medizinischen Abteilung am Hauptsitz der SUVA, die von einem andern Unfallversicherer eingeholten Arztberichte (gegebenenfalls auch angestellter Ärzte), durch das vom Versicherten beigezogene Parteigutachten (des behandelnden oder eines konsiliarisch beigezogenen Arztes), das vom Unfallversicherer in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten (Art. 57 UVV und Art. 96 UVG in Verbindung mit Art. 12 lit. e VwVG; BGE 120 V 357 ff.) sowie das vom erst- oder letztinstanzlichen Richter angeordnete medizinische Gutachten. Gerichtsgutachten haben besondern Anforderungen zu genügen, die sich für das letztinstanzliche Verfahren nach den Bestimmungen des Bundeszivilprozesses richten (Art. 135 OG in Verbindung mit Art. 40 OG und Art. 57-61 BZP). Die gleichen Regeln gelten für die Einholung von Sachverständigengutachten durch die SUVA und die an der Durchführung der obligatorischen Unfallversicherung beteiligten Privatversicherer (Art. 96 UVG in Verbindung mit Art. 19 VwVG und Art. 57-61 BZP; BGE 120 V 357 ff.).
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c) Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die einzelnen Beweismittel zu würdigen sind. Für das gesamte Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in Verbindung mit Art. 19 VwVG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 113 und 132 OG). Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsrichter die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 278). Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass der Sozialversicherungsrichter alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf er bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum er auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (RKUV 1991 Nr. U 133 S. 312; vgl. auch MEYER-BLASER, Die Rechtspflege in der Sozialversicherung, in: BJM, 1989 S. 30 f.).
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Ausschlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder Gutachten, sondern dessen Inhalt (OMLIN, Die Invaliditätsbemessung in der obligatorischen ![]() | 9 |
Weil die SUVA in beweisrechtlicher Hinsicht ein zur Objektivität verpflichtetes gesetzesvollziehendes Organ ist (BGE 104 V 211 Erw. c; RKUV 1991 Nr. U 133 S. 313 Erw. 1b), kann auch den Berichten und Gutachten versicherungsinterner Ärzte Beweiswert beigemessen werden, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen (nicht veröffentlichte Urteile S. vom 6. Juli 1993, M. vom 5. April 1984 und M. vom 2. November 1983). Die Tatsache allein, dass der befragte Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht, lässt nicht schon auf mangelnde Objektivität und auf Befangenheit ![]() | 10 |
d) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst auch das Recht, Beweisanträge zu stellen, und - als Korrelat - die Pflicht der Behörde zur Beweisabnahme. Beweise sind im Rahmen dieses verfassungsmässigen Anspruchs indessen nur über jene Tatsachen abzunehmen, die für die Entscheidung der Streitsache erheblich sind. Auf weitere Beweisvorkehren kann auch dann verzichtet werden, wenn der Sachverhalt, den eine Partei beweisen will, nicht rechtserheblich ist, wenn bereits Feststehendes bewiesen werden soll, wenn von vornherein gewiss ist, dass der angebotene Beweis keine Abklärungen herbeizuführen vermag, oder wenn die Behörde den Sachverhalt gestützt auf ihre eigene Sachkenntnis bzw. jene ihrer fachkundigen Beamten zu würdigen vermag (BGE 104 V 211 Erw. a mit Hinweisen). Gelangt die Verwaltung oder der Richter bei pflichtgemässer Beweiswürdigung zur Überzeugung, der Sachverhalt, den eine Partei beweisen will, sei nicht rechtserheblich oder der angebotene Beweis vermöge keine Abklärungen herbeizuführen, kann auf ein beantragtes Beweismittel verzichtet werden. In der damit verbundenen antizipierten Beweiswürdigung kann kein Verstoss gegen das rechtliche Gehör nach Art. 4 BV erblickt werden (BGE 119 V 344 Erw. 3c in fine mit Hinweisen).
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Daraus folgt, dass der Versicherte von Bundesrechts wegen keinen formellen Anspruch auf Beizug eines versicherungsexternen Gutachtens hat, wenn Leistungsansprüche streitig sind. Erachtet der Sozialversicherungsrichter die rechtserheblichen tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen bei pflichtgemässer Beweiswürdigung als schlüssig, darf er den Prozess ohne Weiterungen, insbesondere ohne Beizug eines Gerichtsgutachtens, abschliessen. Er kann dabei abschliessend gestützt auf Beweisgrundlagen urteilen, die im wesentlichen oder ausschliesslich aus dem Verfahren vor dem Sozialversicherungsträger stammen. In solchen Fällen sind an die Beweiswürdigung jedoch strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der ärztlichen Feststellungen, sind ergänzende Abklärungen vorzunehmen. Dabei hat der ![]() | 12 |
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a) Art. 6 Ziff. 1 EMRK lautet, soweit hier von Bedeutung, in der deutschen Fassung wie folgt:
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"Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen (...) zu entscheiden hat."
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Aus dieser, auf das sozialversicherungsgerichtliche Beschwerdeverfahren unmittelbar anwendbaren Bestimmung (BGE 121 V 110 Erw. 3a, BGE 120 V 6 Erw. 3a, BGE 119 V 379 Erw. 4a/aa) ergeben sich nach herrschender Rechtsauffassung im wesentlichen vier Verfahrensgarantien, nämlich der Anspruch auf Zugang zu einem gesetzlich vorgesehenen, unabhängigen und unparteilich zusammengesetzten Gericht, das Recht auf Fairness im Verfahren, das Recht auf Öffentlichkeit der Verhandlungen und der Urteilsverkündung sowie der Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer (VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], Zürich 1993, S. 240 ff.; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, S. 104 ff.; SCHWEIZER, Europäische Menschenrechtskonvention und schweizerisches Sozialversicherungsrecht, in: Festschrift 75 Jahre EVG, S. 24 ff. mit weiteren Hinweisen auf die Literatur).
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b) Das Gebot der Fairness des Verfahrens beinhaltet insbesondere den Anspruch auf persönliche Teilnahme am Verfahren, das Recht auf Waffengleichheit (wozu namentlich das Recht auf gleichen Aktenzugang und auf Teilnahme am Beweisverfahren gehört) und den Anspruch auf rechtliches ![]() | 17 |
c) Der Anspruch auf Waffengleichheit bedeutet u.a., dass sich das Recht auf Zulassung zum Beweis (mit Beweismitteln sowie Beweisanträgen) und die Pflicht zur Beweisabnahme durch das entscheidende Gericht nach dem Grundsatz der Gleichstellung der Parteien zu richten hat (HERZOG, a.a.O., S. 323; KOFMEL, Das Recht auf Beweis im Zivilverfahren, Diss. Bern 1992, S. 43 f.). Aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK ergibt sich jedoch kein unbeschränktes Recht auf Zulassung zum Beweis (KOFMEL, a.a.O. S. 258). Ebensowenig lässt sich der Konventionsbestimmung eine Regel entnehmen, wonach der Richter die Beurteilung nicht allein auf verwaltungsinterne Entscheidungsgrundlagen stützen darf und einem Antrag auf Beizug eines externen Gutachtens stets zu entsprechen hat. Im Urteil H. gegen Frankreich vom 23. Oktober 1989 hat der EGMR die Verweigerung eines Gutachtens als mit der EMRK vereinbar erklärt ![]() | 18 |
Aus dieser Rechtsprechung ist zu schliessen, dass auch im Lichte von Art. 6 Ziff. 1 EMRK kein förmlicher Anspruch auf verwaltungsexterne Gutachten besteht und es im Rahmen der freien Beweiswürdigung grundsätzlich zulässig ist, den Entscheid ausschlaggebend oder gar ausschliesslich auf verwaltungsinterne Abklärungen zu stützen. Aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK und der zugehörigen Rechtsprechung ergeben sich hinsichtlich der vorliegenden Verfahrensfrage somit keine weitergehenden Anforderungen, als sie das Bundesrecht kennt.
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3. Zusammengefasst ergibt sich, dass weder aus Art. 4 BV noch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK eine Regel folgt, wonach bei streitigen Leistungsansprüchen stets auch versicherungsexterne medizinische Entscheidungsgrundlagen einzuholen sind. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist es grundsätzlich somit zulässig, dass Verwaltung und Sozialversicherungsrichter den Entscheid allein auf versicherungsinterne Entscheidungsgrundlagen stützen. An die Unparteilichkeit und Zuverlässigkeit solcher Grundlagen sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen.
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