BGE 122 V 270 | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
40. Auszug aus dem Urteil vom 17. Juli 1996 i.S. D. AG gegen Kantonale Arbeitslosenkasse Nidwalden und Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden | |
Regeste |
Art. 31 Abs. 3 lit. c, Art. 95 Abs. 1 und 4 AVIG: Rückforderung der dem mitarbeitenden Verwaltungsratsmitglied einer AG zu Unrecht ausbezahlten Kurzarbeitsentschädigung; Verwirkung. |
- Die einjährige relative Verwirkungsfrist des Art. 95 Abs. 4 AVIG beginnt in jenem Zeitpunkt zu laufen, in welchem die Arbeitslosenkasse zumutbarerweise Kenntnis vom rückforderungsbegründenden Sachverhalt haben konnte. Aufgrund der Publizitätswirkung des Handelsregisters, aus welchem die Verwaltungsratsstellung ersichtlich ist, muss sich die Arbeitslosenkasse die den Entschädigungsanspruch ausschliessende Mitgliedschaft des Arbeitnehmers im Verwaltungsrat von Anfang an entgegenhalten lassen. Eines zweiten Anlasses für den Beginn der Frist im Sinne von BGE 110 V 306 f. Erw. 2b bedarf es nicht. | |
Aus den Erwägungen: | |
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Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, in Wiedererwägung ziehen, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE 119 V 183 Erw. 3a, 477 Erw. 1, je mit Hinweisen).
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Von der Wiedererwägung ist die prozessuale Revision von Verwaltungsverfügungen zu unterscheiden. Danach ist die Verwaltung verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen, wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden, die geeignet sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE 119 V 184 Erw. 3a, 477 Erw. 1a, je mit Hinweisen).
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Die für die Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen massgebenden Voraussetzungen gelten auch mit Bezug auf die Rückerstattung zu Unrecht bezogener Geldleistungen der Arbeitslosenversicherung gemäss Art. 95 AVIG (BGE 110 V 179 Erw. 2a mit Hinweisen; SVR 1995 ALV Nr. 53 S. 162 Erw. 3a).
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3. Laut Art. 31 Abs. 1 AVIG haben Arbeitnehmer, deren normale Arbeitszeit verkürzt oder deren Arbeit ganz eingestellt ist, Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung, wenn sie bestimmte, in lit. a-d näher umschriebene Voraussetzungen erfüllen. Keinen Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung haben gemäss Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG u.a. Personen, die in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter, als finanziell am Betrieb Beteiligte oder als Mitglieder eines obersten betrieblichen Entscheidungsgremiums die Entscheidungen des Arbeitgebers bestimmen oder massgeblich beeinflussen können, sowie ihre mitarbeitenden Ehegatten. Nach der Rechtsprechung (BGE 113 V 74) ist der Ausschluss der in Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG genannten Personen vom Entschädigungsanspruch absolut zu verstehen. Wie in BGE 120 V 523 Erw. 1 unter Bezugnahme auf GERHARDS, Kommentar zum AVIG, Bd. I, N. 43 zu Art. 31, dargelegt wurde, steht hinter dieser Regelung der Gedanke der Verhütung von Missbräuchen (Selbstausstellung von für die Kurzarbeitsentschädigung notwendigen Bescheinigungen, Gefälligkeitsbescheinigungen, Unkontrollierbarkeit des tatsächlichen Arbeitsausfalls, Mitbestimmung oder Mitverantwortung bei der Einführung von Kurzarbeit u.ä., vor allem bei Arbeitnehmern mit Gesellschafts- oder sonstiger Kapitalbeteiligung in Leitungsfunktion des Betriebes). Nach der Rechtsprechung muss bei Arbeitnehmern, bei denen sich aufgrund ihrer Mitwirkung im Betrieb die Frage stellt, ob sie einem obersten betrieblichen Entscheidungsgremium angehören und ob sie in dieser Eigenschaft massgeblich Einfluss auf die Unternehmensentscheidungen nehmen können, jeweils geprüft werden, welche Entscheidungsbefugnisse ihnen aufgrund der internen betrieblichen Struktur zukommen. Es ist nicht zulässig, Angestellte in leitenden Funktionen allein deswegen generell vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung auszuschliessen, weil sie für einen Betrieb zeichnungsberechtigt und im Handelsregister eingetragen sind (BGE 120 V 525 f. Erw. 3b). Amtet ein Arbeitnehmer dagegen als Verwaltungsrat, so ist eine massgebliche Entscheidungsbefugnis im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG ex lege gegeben. Denn es gehört nach dem Obligationenrecht (Art. 716-716b) begriffsnotwendigerweise zum Wesen eines Verwaltungsrates, dass er auf die Entscheidfindung der Aktiengesellschaft massgeblichen Einfluss hat, und sei es auch bloss in Form der Oberleitung oder der Oberaufsicht über die mit der Geschäftsführung betrauten Personen (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 und 5 OR). Handelt es sich somit um einen mitarbeitenden Verwaltungsrat, so greift der persönliche Ausschlussgrund des Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG ohne weiteres Platz, und es bedarf diesfalls keiner weiteren Abklärungen im Sinne von BGE 120 V 525 f. Erw. 3b (unveröffentlichte Urteile A. SA vom 13. Februar 1995 und C. vom 28. Oktober 1994).
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Die Ausrichtung von Kurzarbeitsentschädigung im vorliegenden Fall steht demzufolge in klarem Widerspruch zur gesetzlichen Regelung, womit die erste Voraussetzung für die streitige Rückforderung erfüllt ist.
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Soweit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde sinngemäss der Grundsatz von Treu und Glauben (dazu BGE 119 V 307 Erw. 3a, BGE 118 Ia 254 Erw. 4b, BGE 118 V 76 Erw. 7) und die auf einer Interessenabwägung beruhende bundesgerichtliche Praxis zur Rücknahme von Verfügungen (BGE 121 II 95 Erw. 3b, BGE 120 Ib 46 f. Erw. 2b) angerufen werden, sind diese Einwände unbegründet. (...). Indessen ist nicht ersichtlich, inwiefern die Beschwerdeführerin im Vertrauen auf die erfolgten Auszahlungen und die Richtigkeit der seitens der Verwaltung abgegebenen Zusicherung Dispositionen getroffen hat, die nicht mehr ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können. Insbesondere macht sie nicht geltend, dass sie den durch familiäre Bande und die Mitgliedschaft im Verwaltungsrat an die Firma gebundenen Mitarbeiter K. jun. entlassen oder freigestellt und auf diese Weise Lohnkosten eingespart hätte, wenn sie um die fehlende Entschädigungsberechtigung gewusst hätte. Damit gebricht es an einer der rechtsprechungsgemäss erforderlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Berufung auf den öffentlichrechtlichen Vertrauensschutz.
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Was sodann die Abwägung der Interessen zwischen der materiell richtigen Durchführung des Kurzarbeitsentschädigungsrechts einerseits, und der für die Beschwerdeführerin beachtlichen Rechtssicherheit, sich andererseits auf einmal getroffene Entscheidungen der Durchführungsorgane verlassen zu dürfen, anbelangt, ist festzustellen, dass im Bereich der sozialversicherungsrechtlichen Rückforderung das Institut des Erlasses für den gebotenen Interessenausgleich sorgt. In diesem Sinne hat das Eidg. Versicherungsgericht denn auch in einem neueren Urteil auf die auch den juristischen Personen offenstehende Erlassmöglichkeit nach Art. 95 Abs. 2 AVIG und Rz. 57 ff. des Kreisschreibens des BIGA über die Rückforderung unrechtmässig bezogener Leistungen, die Verrechnung und über die Behandlung von Erlassgesuchen hingewiesen (SVR 1995 ALV Nr. 53 S. 163 Erw. 3c/cc).
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a) Gemäss Art. 95 Abs. 4 Satz 1 AVIG verjährt der Rückforderungsanspruch innert einem Jahr nachdem die auszahlende Stelle davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber fünf Jahre nach der Auszahlung der Leistung. Bei diesen Fristen handelt es sich um Verwirkungsfristen (RDAT 1993 II 76 S. 210 Erw. 2). Unter dem Ausdruck "nachdem die auszahlende Stelle davon Kenntnis erhalten hat" ist der Zeitpunkt zu verstehen, in welchem die Verwaltung bei Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen (vgl. BGE 119 V 433 Erw. 3a, 112 V 181 Erw. 4a, 110 V 307; ZAK 1989 S. 559 Erw. 4b). Die zitierte Bestimmung unterwirft den Rückforderungsanspruch somit - gleich wie Art. 47 Abs. 2 Satz 1 AHVG - einer doppelten Verwirkungsdrohung: Einerseits ist die Rückforderung zeitlich daran gebunden, dass die Verwaltung innert Jahresfrist seit zumutbarer Kenntnis des rückforderungsbegründenden Sachverhalts verfügt. Erlässt die Verwaltung innert dieser einjährigen relativen Verwirkungsfrist die Rückerstattungsverfügung, kann sie gegebenenfalls die Erstattung bis auf die in den letzten fünf Jahren ausgerichteten Leistungen ausdehnen, indem die Rückforderung andererseits absolut verwirkt ist, soweit die Leistungsauszahlung mehr als fünf Jahre zurückliegt.
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b) Die Vorinstanz erachtete die Rückforderung insoweit als zulässig, als diese die im Jahr vor dem 15. November 1994 (Verfügungsdatum) ausgerichtete Kurzarbeitsentschädigung erfasst.
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Die Frage, ob die Rückforderung der Arbeitslosenkasse ganz oder teilweise verwirkt ist, stellt sich nur unter dem Blickwinkel der relativen einjährigen Verwirkungsfrist, wogegen die absolute Verwirkungsfrist von fünf Jahren jedenfalls gewahrt ist, da Kurzarbeitsentschädigungen erst seit März 1992 ausgerichtet wurden. Entscheidend ist somit, ob die Verfügung vom 15. November 1994 innert Jahresfrist, seitdem die Verwaltung zumutbarerweise Kenntnis von der den Entschädigungsanspruch ausschliessenden Verwaltungsratsstellung des K. jun. haben konnte, erlassen wurde.
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aa) Als das Eidg. Versicherungsgericht in BGE 110 V 304 in Änderung der Rechtsprechung zu Art. 47 Abs. 2 AHVG erkannte, dass mit Bezug auf den Beginn der einjährigen relativen Verwirkungsfrist nicht mehr die tatsächliche, sondern die zumutbare Kenntnis des zur Rückforderung Anlass gebenden Sachverhalts massgebend ist, hat es nicht das erstmalige unrichtige Handeln der Amtsstelle als fristauslösend genügen lassen. Vielmehr stellte es auf jenen Tag ab, an dem sich die Verwaltung später - beispielsweise anlässlich einer Rechnungskontrolle - unter Anwendung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit über ihren Fehler hätte Rechenschaft geben müssen (BGE 110 V 306 f. Erw. 2b in fine). Bei einer durch das Handelsregister und die entsprechenden Bekanntmachungen im Schweizerischen Handelsamtsblatt (Art. 931 OR) mit Publizität versehenen Tatsache kann indessen für die zumutbare Kenntnis der Rückerstattungsvoraussetzungen nicht ein zweiter Anlass im Sinne dieser Rechtsprechung, d.h. die Wahrnehmung der Unrichtigkeit der Leistungsausrichtung aufgrund eines zusätzlichen Indizes, verlangt werden. Vielmehr muss sich die Verwaltung die Publizitätswirkung des Handelsregisters und die Bekanntmachungen daraus im Schweizerischen Handelsamtsblatt entgegenhalten lassen, wie dies nach der Rechtsprechung beispielsweise auch in bezug auf die zumutbare Kenntnis des Schadenseintritts durch die Ausgleichskasse im Sinne von Art. 82 Abs. 1 AHVV bei Einstellung eines Konkurses mangels Aktiven gilt (ZAK 1990 S. 289 Erw. 4b und S. 290 Erw. 4c/bb). Auch wenn das Handelsregister in erster Linie dem privatrechtlichen Rechtsverkehr dient, (HIS, a.a.O., N. 13 f. zu Art. 927 OR), wird auch im öffentlichen Recht verschiedentlich an den Handelsregistereintrag angeknüpft, beispielsweise hinsichtlich der Beitragspflicht der Teilhaber von Personengesellschaften (BGE 121 V 80) oder der Dauer der Beitragspflicht eines Selbständigerwerbenden, dessen Einzelfirma in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wird (BGE 102 V 103; ZAK 1986 S. 399 Erw. 3c). Nach dem Gesagten muss sich die Arbeitslosenkasse im Hinblick auf die während mehr als zwei Jahren erfolgte Auszahlung von Kurzarbeitsentschädigung für K. jun. die Kenntnis von dessen den Entschädigungsanspruch ausschliessender Mitgliedschaft im Verwaltungsrat aufgrund des Handelsregistereintrages von Anfang an entgegenhalten lassen.
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bb) Daran ändert nichts, dass die Ausrichtung der Kurzarbeitsentschädigung noch nicht abgeschlossen war; denn der andauernde Leistungsbezug berührt die Frage der Fristwahrung an sich nicht und lässt den Lauf der einjährigen relativen Verwirkungsfrist durchaus zu (BGE 119 V 434 Erw. 3b i.f. mit Hinweis). Doch ist zu beachten, dass die Kurzarbeitsentschädigung für eine Abrechnungsperiode von einem Monat oder vier zusammenhängenden Wochen ausgerichtet wird (Art. 32 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 AVIG). Es stellt sich somit im Hinblick auf diese periodische Leistungserbringung die Frage, wie es mit der Verwirkungsfolge in bezug auf jene Monatsbetreffnisse zu halten sei, die im Zeitpunkt der zumutbaren Kenntnis des rechtserheblichen Sachverhalts (Wissen um die Verwaltungsratsstellung) noch gar nicht zur Ausrichtung gelangt waren. Der Rückforderungsanspruch auf eine unrechtmässig ausgerichtete monatliche Entschädigung kann solange nicht verwirken, als diese einzelne Leistung im Rahmen der gesamten Anspruchsberechtigung tatsächlich noch nicht ausbezahlt war. Dem hat das kantonale Gericht im Ergebnis zutreffend Rechnung getragen: Bezüglich der länger als ein Jahr vor Erlass der Verfügung vom 15. November 1994 ausbezahlten Kurzarbeitsentschädigungen ist der Rückforderungsanspruch der Arbeitslosenkasse verwirkt, dagegen nicht mit Bezug auf die später (ab Dezember 1993) ausgerichteten Betreffnisse.
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