BGE 125 V 256 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
40. Auszug aus dem Urteil vom 26. Mai 1999 i.S. IV-Stelle des Kantons Zürich gegen A. und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich | |
Regeste |
Art. 42 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 IVG; Art. 35 Abs. 1 und Art. 37 IVV: Massgebender Hilflosigkeitsgrad. | |
Sachverhalt | |
A.- Der 1931 geborene X wurde am 9. Mai 1995 zum Bezug einer Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung angemeldet. Gestützt auf einen Bericht des Abklärungsdienstes der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 26. Juni 1995 erliess diese am 25. August 1995 zwei Verfügungen, mit welchen sie A., der Ehefrau des am 23. Juli 1995 verstorbenen X, ab 1. März bis 31. Mai 1995 eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit leichten Grades und für die Monate Juni und Juli 1995 eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit schweren Grades zusprach.
| 1 |
B.- Gegen die Verfügung vom 25. August 1995, mit welcher für die Monate März bis Mai 1995 eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit leichten Grades gewährt wurde, erhob A. Beschwerde mit dem Antrag auf Zusprechung einer Entschädigung für schwere Hilflosigkeit ab 1. März 1995.
| 2 |
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde hob das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den angefochtenen Verwaltungsakt auf und stellte fest, für die Monate März bis Mai 1995 bestehe Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit mittleren Grades (Entscheid vom 11. September 1998).
| 3 |
C.- Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Begehren um Aufhebung des kantonalen Entscheides.
| 4 |
A. äussert sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ohne einen Antrag zu stellen. Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
| 5 |
Aus den Erwägungen: | |
6 | |
Streitig ist einzig die Frage, ob der Versicherte in der Zeit von März bis Mai 1995 Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit leichten oder aber mittleren Grades hatte, nachdem die Beschwerdegegnerin gegen den vorinstanzlichen Entscheid, mit dem ihrem Begehren nur teilweise entsprochen worden ist, selber nicht Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben hat. Zu prüfen ist, ob und gegebenenfalls wie die Verschlimmerung der Hilflosigkeit während der Wartezeit berücksichtigt werden kann.
| 7 |
b) Die Vorinstanz ist zur Auffassung gelangt, es sei nicht einzusehen, weshalb bei einer Invalidenrente allfällige Verschlechterungen der Arbeitsfähigkeit während des Wartejahres einen Einfluss auf die Höhe der Rente bei Beginn des Anspruchs haben könnten, die Hilflosenentschädigung sich bei Beginn des Anspruchs jedoch danach bemessen sollte, in welchem Ausmass ein Versicherter am Anfang des Wartejahres hilflos sei, und eine allfällige Verschlimmerung seiner Hilflosigkeit erst drei Monate nach Ablauf des Wartejahres berücksichtigt werden könnte. Bei einer allfälligen Verschlimmerung der Hilflosigkeit während des Wartejahres sei deshalb in Anknüpfung an die Entschädigungsansätze für die drei Hilflosigkeitsgrade in Art. 37 IVV ein Durchschnittswert während der Wartezeit zu berechnen. Im konkreten Fall ergebe sich bei drei Monaten leichter und neun Monaten schwerer Hilflosigkeit während der Wartezeit eine durchschnittliche Hilflosigkeit von 65% (3 x 20% plus 9 x 80% = 780% : 12 = 65%). Demnach bestehe nach Ablauf der Wartezeit bereits Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung für eine Hilflosigkeit mittleren Grades.
| 8 |
Demgegenüber vertritt die Beschwerdeführerin die Ansicht, die Höhe der zu gewährenden Hilflosenentschädigung sei nach dem Ausmass der während der Wartezeit bestehenden Hilflosigkeit und nach Massgabe der nach zurückgelegter Wartezeit verbleibenden Hilflosigkeit zu bestimmen. Vorliegend habe ab März 1994 zunächst nur leichte Hilflosigkeit bestanden. Bei Ablauf der Wartezeit im März 1995 habe die schwere Hilflosigkeit erst neun Monate angedauert, weshalb eine Erhöhung der Hilflosenentschädigung - in Anwendung von Art. 88a Abs. 2 IVV - erst drei Monate nach Anspruchsbeginn, somit auf den 1. Juni 1995, erfolgen könne. Eine Durchschnittsberechnung der Hilflosigkeit in Prozenten während der Wartezeit analog zu den Renten sei bei der Hilflosenentschädigung nicht vorgesehen. Die Vorinstanz vermische mit ihrer prozentualen Durchschnittsrechnung die Prüfung der Anspruchsberechtigung mit der Berechnung der Leistung. Ferner beziehe sich die analoge Anwendung von Art. 29 IVG nur auf die Auslegung des Begriffs der "dauernden" Hilflosigkeit und biete keinen Anlass für eine Durchschnittsberechnung.
| 9 |
3. a) Der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung entsteht am ersten Tag des Monats, in dem sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind (Art. 35 Abs. 1 IVV). Als hilflos gilt nur, wer dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung (Art. 42 Abs. 2 IVG) bzw. der Dienstleistungen Dritter (Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV) bedarf. Dieses Erfordernis ist nach ständiger Rechtsprechung und Verwaltungspraxis erfüllt, wenn der die Hilflosigkeit begründende Zustand weitgehend stabilisiert und im Wesentlichen irreversibel ist, wenn also analoge Verhältnisse wie bei Art. 29 Abs. 1 lit. a IVG gegeben sind (Variante 1). Ferner ist das Erfordernis der Dauer als erfüllt zu betrachten, wenn die Hilflosigkeit während eines Jahres (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG) ohne wesentlichen Unterbruch bestanden hat und voraussichtlich weiterhin andauern wird (Variante 2). Im Fall der Variante 1 entsteht der Anspruch auf Hilflosenentschädigung im Zeitpunkt, in dem die leistungsbegründende Hilflosigkeit als bleibend vorausgesehen werden kann (Art. 29 IVV), und im Fall der Variante 2 nach Ablauf eines Jahres, sofern weiterhin mit einer Hilflosigkeit der vorausgesetzten Art zu rechnen ist (vgl. BGE 111 V 227 Erw. 3a; ZAK 1986 S. 487 Erw. 2b, 1983 S. 334 Erw. 3). Die Regeln über die Entstehung des Rentenanspruches (Art. 29 Abs. 1 IVG) finden somit sinngemäss Anwendung (BGE 105 V 67 Erw. 2 mit Hinweisen).
| 10 |
Ändert sich in der Folge der Grad der Hilflosigkeit in erheblicher Weise, so finden die Art. 86 bis 88bis IVV ("E. Die Revision der Rente und der Hilflosenentschädigung") Anwendung (Art. 35 Abs. 3 Satz 1 IVV). Keine Revision liegt vor, wenn bei der erstmaligen Zusprechung einer Hilflosenentschädigung für verschiedene Zeitabschnitte unterschiedliche Entschädigungen zufolge unterschiedlicher Grade der Hilflosigkeit zugesprochen werden; vielmehr handelt es sich diesfalls um eine erstmalige, rückwirkende, abgestufte Zusprechung der Hilflosenentschädigung. Trotzdem kommt in solchen Fällen Art. 88a IVV zur Anwendung, nicht hingegen Art. 88bis IVV; diese hinsichtlich der erstmaligen, rückwirkenden, abgestuften Zusprechung unterschiedlicher Invalidenrenten begründete Rechtsprechung (BGE 121 V 275 Erw. 6b/dd, BGE 109 V 126 f. Erw. 4a) ist auch auf den vergleichbaren Fall der erstmaligen, rückwirkenden, abgestuften Zusprechung einer Hilflosenentschädigung anzuwenden. Gemäss Art. 88a Abs. 2 Satz 1 IVV ist bei einer Verschlimmerung der Hilflosigkeit die anspruchsbeeinflussende Änderung zu berücksichtigen, sobald sie ohne wesentliche Unterbrechung drei Monate angedauert hat.
| 11 |
b) Nach Auffassung der IV-Stelle soll eine während der Wartezeit eingetretene Veränderung der Verhältnisse nicht in der Weise Beachtung finden, dass sie sich bereits auf das Ausmass des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Wartezeit auswirkt. Im Hinblick auf die vorliegend seit Juni 1994 bestehende schwere Hilflosigkeit habe im März 1995 demnach die schwere Hilflosigkeit lediglich neun Monate angedauert, weshalb die Erhöhung der Hilflosenentschädigung nach Massgabe von Art. 88a Abs. 2 IVV erst drei Monate nach Entstehen des Anspruchs, d.h. per 1. Juni 1995 erfolgen könne. Soweit die Beschwerdeführerin sich damit auf den Standpunkt stellt, die erhöhte Hilflosigkeit müsse in jedem Fall zunächst zwölf Monate bestanden haben, bevor sie sich anspruchsändernd auswirke, kann ihr nicht gefolgt werden. Dies stünde im Widerspruch zum von der Beschwerdeführerin ausdrücklich angeführten Art. 88a IVV und liefe im Übrigen auf eine Betrachtungsweise hinaus, wie sie der Revision von Renten der Invalidenversicherung nach Art. 41 IVG vor Inkrafttreten des Art. 88a IVV am 1. Januar 1977 zu Grunde gelegen hat (vgl. BGE 121 V 272 Erw. 6a in fine mit Hinweisen; vgl. auch ZAK 1990 S. 135, wonach die Wartezeit von einem Jahr sich nur auf die erstmalige Entstehung des Hilflosenentschädigungsanspruchs bezieht). Falls die IV-Stelle mit ihrem Einwand zum Ausdruck bringen möchte, eine Verschlimmerung der Hilflosigkeit während der Wartezeit sei nur nach den Revisionsregeln gemäss Art. 86 ff. IVV und erst nach Entstehung des Anspruches zu berücksichtigen, so ist ihr bezüglich der Massgeblichkeit der Revisionsbestimmungen für Sachverhalte der vorliegenden Art teilweise beizupflichten. Richtig ist dabei, dass sich die Art. 86 bis 88bis IVV auf die Revision einer laufenden Hilflosenentschädigung (BGE 109 V 127 Erw. 4a) beziehen und nur Anwendung finden, wenn sich der Grad der Hilflosigkeit "in der Folge" (vgl. Art. 35 Abs. 3 Satz 1 IVV), somit tatsächlich nach Entstehung des Hilflosenentschädigungsanspruchs in erheblicher Weise ändert (zum durch ständige Rechtsprechung erweiterten Anwendungsbereich von Art. 88a IVV vgl. Erw. 3a hievor). Damit ist jedoch, entgegen der Ansicht der IV-Stelle, nicht ausgeschlossen, dass Veränderungen des Hilflosigkeitsgrades während der Wartezeit bei der Zusprechung einer Hilflosenentschädigung berücksichtigt werden können.
| 12 |
c) Wie die Beschwerdeführerin zutreffend feststellt, bezieht sich die analoge Anwendung von Art. 29 Abs. 1 IVG im Bereich der Hilflosenentschädigung auf die gesetzlich geforderte Dauerhaftigkeit der Hilflosigkeit. Dass die Rechtsprechung im Hinblick darauf bei Hilflosigkeitsfällen der Variante 2 eine einjährige Wartezeit eingeführt hat, spricht jedoch nicht für, sondern gegen die Auffassung der IV-Stelle, wonach Veränderungen der Hilflosigkeit während der Wartezeit unbeachtlich seien. Diese Wartezeit ist im Rentenbereich zu berücksichtigen, weil die Variante 2 - im Gegensatz zur Variante 1 (BGE 111 V 23 Erw. 3b) - von sich wandelnden Verhältnissen ausgeht. Beträgt im Rentenfall die Arbeitsunfähigkeit zu Beginn der Wartezeit beispielsweise 30%, steigt diese nach drei Monaten auf 50% und nach weiteren drei Monaten auf 100% an, ergibt sich rückblickend für die einjährige Wartezeit eine durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit von mindestens zwei Dritteln. Bei einer Erwerbsunfähigkeit von entsprechend hohem Ausmass steht dem Versicherten in diesem Fall nach Ablauf der Wartezeit bereits eine ganze Rente zu (vgl. BGE 121 V 272 Erw. 6), obwohl die anfänglich bestehende Arbeitsunfähigkeit - vorausgesetzt, sie hätte während der ganzen Wartezeit unverändert weiter bestanden - nicht einmal für eine Viertelsrente ausreichen würde. Entsprechend haben sich die Anforderungen an die Dauerhaftigkeit gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG nicht nur im Renten-, sondern ebenso im Hilflosigkeitsbereich niederzuschlagen. Richtig ist folglich der Standpunkt der Vorinstanz, wonach auch im Hilflosigkeitsfall Veränderungen während der Wartezeit schon auf den Zeitpunkt des Ablaufs derselben zu beachten sind. Daran vermag nichts zu ändern, dass im Rentenfall während der Wartezeit die Arbeitsunfähigkeit und danach die Erwerbsunfähigkeit relevant ist, bei der Hilflosenentschädigung jedoch sowohl während der Wartezeit als auch später allein die Hilflosigkeit zur Diskussion steht. Gerade weil es in letzterem Fall während beider Phasen um den Begriff der Hilflosigkeit geht, ist nicht einzusehen, weshalb sich Veränderungen des Hilflosigkeitsgrades während der Wartezeit nicht auch auf den Anspruch im Zeitpunkt dessen Beginns auswirken sollten. Das kantonale Gericht hat somit vorliegend der Verschlimmerung der Hilflosigkeit des Verstorbenen während der Wartezeit zu Recht Rechnung getragen.
| 13 |
4. Um im Rentenbereich die durchschnittliche prozentuale Arbeitsfähigkeit während der Wartezeit ermitteln zu können, ist die Verwaltung (und im Beschwerdefall der Richter) auf Unterlagen angewiesen, die der Arzt und gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben. Aufgabe des Arztes ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten der Versicherte arbeitsunfähig ist (BGE 115 V 134 Erw. 2, BGE 114 V 314 Erw. 3c, BGE 105 V 158 f. Erw. 1). Demgegenüber wird der Grad der Hilflosigkeit nicht in Prozenten, sondern nach Massgabe der drei Stufen "leicht", "mittelschwer" und "schwer" ausgedrückt (Art. 36 IVV). Nach Art. 37 IVV beträgt die monatliche Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit schweren Grades 80%, bei Hilflosigkeit mittleren Grades 50% und bei Hilflosigkeit leichten Grades 20% des Mindestbetrages der einfachen Altersrente gemäss Art. 34 Abs. 2 AHVG. Der Rückgriff der Vorinstanz auf diese Entschädigungsansätze zur Ermittlung des durchschnittlichen Hilflosigkeitsgrades während der Wartezeit erweist sich bei dieser Ausgangslage als begründet. Eine Vermischung der Anspruchsberechtigung mit der Leistungsberechnung findet dadurch, entgegen dem in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebrachten Einwand, nicht statt, da die Entschädigungsansätze des Art. 37 IVV vorliegend lediglich zur Ermittlung eines durchschnittlichen Hilflosigkeitsgrades bei sich während der Wartezeit verändernden Verhältnissen herangezogen werden. Der angefochtene Entscheid, mit welchem - nach Massgabe einer im Durchschnitt mittleren Hilflosigkeit während der Wartezeit - vom 1. März bis zum 31. Mai 1995 eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit mittleren Grades zugesprochen wird, ist daher zu bestätigen.
| 14 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |