BGE 125 V 377 | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
62. Auszug aus dem Urteil vom 29. November 1999 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen G. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen | |
Regeste |
Art. 3 Abs. 3, Art. 8 Abs. 2 AHVG; Art. 19 AHVV: Beitragsbefreiung wegen Geringfügigkeit des Einkommens aus Nebenerwerb. | |
Sachverhalt | |
A.- Die verheiratete G. führt den Haushalt, während ihr Ehemann erwerbstätig ist. Daneben arbeitet sie ca. 3 Stunden pro Woche bei sich zu Hause als selbstständige Physiotherapeutin. Mit Verfügung vom 9. Juni 1997 verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen G. zur Bezahlung des AHV/IV/EO-Mindestbeitrages von je Fr. 390.-- für die Jahre 1996 und 1997 (eingeschlossen Fr. 12.-- Verwaltungskostenbeitrag).
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C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die Verfügung der Ausgleichskasse für das Beitragsjahr 1997 sei unter Aufhebung des kantonalen Entscheids zu bestätigen.
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G. lässt sich nicht vernehmen. Die Ausgleichskasse schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Aus den Erwägungen: | |
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Beträgt das Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit Fr. 7'700.-- oder weniger im Jahr, so ist laut Art. 8 Abs. 2 AHVG der Mindestbeitrag von Fr. 324.-- zu entrichten (Satz 1). Der Bundesrat kann anordnen, dass von geringfügigen Einkommen aus einer nebenberuflich ausgeübten selbstständigen Erwerbstätigkeit nur auf Verlangen des Versicherten Beiträge erhoben werden (Satz 2). Als geringfügiger Nebenerwerb aus selbstständiger Erwerbstätigkeit gilt nach Art. 19 AHVV ein Einkommen, das Fr. 2'000.-- im Kalenderjahr nicht übersteigt.
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b) Die Beitragsbefreiung für einen geringfügigen Nebenerwerb im Rahmen des Grenzbetrages setzt - abgesehen vom Einverständnis der Beitragspflichtigen - eine Haupttätigkeit voraus. Diese kann in einer selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit, darüber hinaus aber auch in einer nichterwerblichen Beschäftigung, namentlich in der Besorgung des Familienhaushaltes bestehen (BGE 113 V 246 Erw. 4c). Der Aufgabenbereich als Hausfrau und Mutter galt denn auch seit jeher als eine zur Befreiung von der Beitragspflicht für nebenberuflichen Bagatellerwerb führende Haupttätigkeit (EVGE 1964 S. 145 Erw. 2 mit Hinweisen; ZAK 1954 S. 112, 1951 S. 417). Dementsprechend hielt die Verwaltungsweisung in der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherung über den Bezug der Beiträge (WBB) in der bis 31. Dezember 1996 gültigen Fassung fest, dass das von einer Frau erzielte Einkommen, deren Haupttätigkeit im Führen des eigenen Familienhaushaltes bestehe, als Nebenerwerb gelte (Rz. 2087). Mit Inkrafttreten des mit der 10. AHV-Revision eingeführten Grundsatzes der allgemeinen Beitragspflicht der Nichterwerbstätigen (vgl. CADOTSCH, Die 10. AHV-Revision im Bereich der Beiträge, in: CHSS 1996 S. 234) änderte das BSV Rz. 2087 WBB dahingehend ab, dass das Führen des eigenen Familienhaushaltes nicht mehr als Haupterwerb gilt.
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c) Verwaltungsweisungen sind für den Sozialversicherungsrichter nicht verbindlich. Er soll sie bei seiner Entscheidung mit berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Er weicht anderseits insoweit von Weisungen ab, als sie mit den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen nicht vereinbar sind (BGE 123 V 72 Erw. 4a, BGE 122 V 253 Erw. 3d, 363 Erw. 3c, je mit Hinweisen).
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b) Das BSV macht in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Wesentlichen geltend, nach der bisherigen Rechtsprechung setze eine nebenberufliche selbstständige Erwerbstätigkeit begriffsnotwendig einen Hauptberuf voraus, und zwar eine unselbstständige Erwerbstätigkeit. Ausnahmen hätten bloss zu Gunsten nichterwerbstätiger Ehefrauen und Witwen gegolten, deren Hauptbeschäftigung in der Besorgung ihres eigenen Familienhaushaltes bestehe, welchem Wirken die Bedeutung eines Berufes beigemessen werde. Die Ausnahmen beruhten ohne den geringsten Zweifel darauf, dass nichterwerbstätige Ehefrauen von Versicherten sowie nichterwerbstätige Witwen bis Ende 1996 generell nicht beitragspflichtig gewesen seien. Auf nicht von der Beitragspflicht als Nichterwerbstätige befreite Personen mit einer nichterwerblichen Haupttätigkeit sei Art. 19 AHVV denn auch nie angewendet worden, also insbesondere nicht auf allein stehende Personen sowie auf Frauen, deren Ehemann der schweizerischen Versicherung nicht unterstellt gewesen sei. Administrativ-organisatorische Überlegungen seien zur Begründung der Rechtsprechung bloss hilfsweise herangezogen worden. Ausserdem gelte es zu beachten, dass Art. 8 Abs. 2 AHVG eine Ausnahme vom Grundsatz schaffe, wonach von jedem Erwerbseinkommen Beiträge zu erheben seien, und deshalb keine ausdehnende Interpretation ertrage. Art. 8 Abs. 2 Satz 2 AHVG und Art. 19 AHVV hätten zwar in der 10. AHV-Revision keine Änderungen erfahren. Jedoch sei in deren Rahmen der Grundsatz der allgemeinen Beitragspflicht eingeführt worden. Folgerichtig seien die erwähnten generellen Beitragsbefreiungen für nichterwerbstätige Ehefrauen und Witwen aufgehoben worden. Im Zuge der erforderlichen Bereinigungen im Zusammenhang mit der 10. AHV-Revision seien deshalb auch die Verwaltungsweisungen betreffend Nebenerwerb an die neuen rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst worden. Unter Berücksichtigung auch des Umstandes, dass Art. 8 Abs. 2 AHVG nicht ausdehnend ausgelegt werden sollte, sei die Praxisänderung begründet, weil trotz Art. 3 Abs. 3 AHVG längst nicht mehr alle Ehefrauen von Versicherten von der Beitragspflicht als Nichterwerbstätige befreit seien. Nachdem Art. 3 Abs. 2 lit. c AHVG ersatzlos aufgehoben worden sei, gelte Entsprechendes erst recht für die nichterwerbstätigen Witwen. Fehl gehe weiter die Meinung, bei Nichtanwendung von Art. 19 AHVV würden die betroffenen Personen um die Beitragsbefreiungsmöglichkeit nach Art. 3 Abs. 3 AHVG gebracht. Die Befreiung nach Art. 3 Abs. 3 AHVG beziehe sich nur auf die Beiträge als Nichterwerbstätige, nie auf solche, die - wie diejenigen nach Art. 8 AHVG - auf dem Erwerbseinkommen erhoben würden. Nichterwerbstätig könne selbstverständlich auch sein, wer auf dem Erwerbseinkommen den Mindestbeitrag entrichtet habe. Nicht einzuleuchten vermöge, weshalb in einem solchen Fall eine verheiratete Person hinsichtlich der Beiträge, die sie als Nichterwerbstätige grundsätzlich schulde, nicht von der Befreiung nach Art. 3 Abs. 3 AHVG profitieren könne. Es treffe denn auch nicht zu, dass der Begriff der Nichterwerbstätigkeit nicht einheitlich ausgelegt werde. Administrative Gründe vermöchten dagegen nicht aufzukommen. Darauf abgestützte Argumente träten mit der fortschreitenden Entwicklung der EDV ohnehin immer mehr in den Hintergrund.
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c) Auszugehen ist vom Zweck der in Art. 8 Abs. 2 Satz 2 AHVG vorgesehenen Beitragsbefreiung wegen Geringfügigkeit des Einkommens aus Nebenerwerb und der dazu ergangenen Rechtsprechung. Der Gesetzgeber führte diese Beitragsbefreiung "im Interesse der Vereinfachung der Verwaltung und zwecks Vermeidung einer zu weit gehenden Erfassung kleiner und kleinster Nebenverdienste" ein (Botschaft des Bundesrates zum Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend die Abänderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 9. Juni 1950, BBl 1950 II 193; ausführlich zur Entstehungsgeschichte BGE 113 V 244 ff. Erw. 4b; vgl. auch BGE 125 V 5 Erw. 4c). In ZAK 1951 S. 417 und 1954 S. 112 befand das Eidg. Versicherungsgericht, dass im vorliegenden Zusammenhang auch das Wirken als Hausfrau und Mutter die Bedeutung eines Berufes habe, sodass die in untergeordnetem Umfang erwerbstätige Hausfrau die Beitragsbefreiung in Anspruch nehmen könne. Dabei wurde der grundsätzlichen Beitragspflicht bei Erwerbstätigkeit die Beitragsbefreiung der nichterwerbstätigen Ehefrauen von Versicherten einerseits und für nebenberufliche Tätigkeit anderseits gegenübergestellt. Beide Beitragsbefreiungsgründe wurden bei nebenberuflicher Tätigkeit einer im Hauptberuf als Hausfrau und Mutter tätigen Versicherten als gegeben erachtet, und es wurde darauf hingewiesen, dass es sich mit der gesetzlich statuierten Beitragsbefreiung der nichterwerbstätigen Hausfrauen schlecht vertragen würde, wenn sie wegen einer untergeordneten Nebenbeschäftigung doch beitragspflichtig würden. Zum gleichen Schluss würden administrativ-organisatorische Überlegungen führen. In EVGE 1964 S. 146 Erw. 3 wurde die verwaltungsökonomische Begründung in den Vordergrund gestellt. Die Rechtsprechung wurde in BGE 113 V 246 Erw. 4c schliesslich dahingehend zusammengefasst, dass die zur Beitragsbefreiung vorausgesetzte Haupttätigkeit in einer selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit, darüber hinaus aber auch in einer nichterwerblichen Beschäftigung, namentlich in der Besorgung des Familienhaushaltes, bestehen könne.
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Diese Überlegungen bleiben unter dem neuen Recht nach wie vor aktuell. Das Eidg. Versicherungsgericht nahm in ZAK 1951 S. 417 nebst anderen Begründungen auch Bezug auf die Beitragsbefreiung der nichterwerbstätigen Ehefrau, die nicht aufgehoben werden dürfe, indem diese Versicherten wegen eines geringfügigen Nebenverdienstes beitragspflichtig erklärt würden, obwohl das Gesetz Nebentätigkeiten grundsätzlich nicht der Beitragspflicht unterstelle. Zwar sind die nichterwerbstätigen Ehegatten gemäss dem seit 1. Januar 1997 in Kraft stehenden Art. 3 Abs. 3 AHVG nicht mehr beitragsbefreit. Indessen gilt laut Art. 3 Abs. 3 lit. a AHVG ihr Beitrag als bezahlt, sofern der in der AHV versicherte Ehegatte Beiträge von mindestens der doppelten Höhe des Mindestbeitrages bezahlt hat. Diese neue gesetzliche Bestimmung würde ebenso wie die aufgehobene von Art. 3 Abs. 2 lit. b AHVG unterlaufen, wenn der zur Hauptsache nichterwerbstätige Ehegatte einer versicherten Person auf einer geringfügigsten Erwerbstätigkeit Beiträge bezahlen müsste. Sodann haben die verwaltungsökonomischen Gründe nicht an Bedeutung verloren (vgl. hiezu die bei GION PIEDER CASAULTA/ROLF LINDENMANN, Vollzugsprobleme rund um das AHVG, in: SZS 1998 S. 237 f. geschilderten Beispiele). Entscheidendes Gewicht kommt jedoch dem Umstand zu, dass das Wirken als Haufrau und Mutter auch unter dem neuen Recht die Bedeutung eines Berufes hat, was in den rentenbildenden Erziehungs- und Betreuungsgutschriften (Art. 29sexies und Art. 29septies AHVG) zum Ausdruck kommt. Eine Änderung der Rechtsprechung zu Art. 8 Abs. 2 Satz 2 AHVG lässt sich daher nicht mit dem im Rahmen der 10. AHV-Revision eingeführten Grundsatz der allgemeinen Beitragspflicht der Nichterwerbstätigen rechtfertigen. Unter diesen Umständen erweist sich Rz. 2087 WBB als gesetzwidrig.
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