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68. Auszug aus dem Urteil vom 14. Juni 1999 i.S. IV-Stelle Bern gegen I. und Verwaltungsgericht des Kantons Bern | |
Regeste |
Art. 5 VwVG; Art. 97 Abs. 1, Art. 98 lit. g und Art. 128 OG; Art. 84 f. AHVG in Verbindung mit Art. 69 IVG: Streitgegenstand. |
- Mit der rückwirkenden Zusprechung einer abgestuften und/oder befristeten Invalidenrente wird ein Rechtsverhältnis im anfechtungs- und streitgegenständlichen Sinne geregelt. Wird nur die Abstufung oder die Befristung der Leistungen angefochten, wird damit die richterliche Überprüfungsbefugnis nicht in dem Sinne eingeschränkt, dass unbestritten gebliebene Bezugszeiten von der Beurteilung ausgeklammert blieben. | |
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b) Streitgegenstand im System der nachträglichen Verwaltungsrechtspflege ist das Rechtsverhältnis, welches - im Rahmen des durch die Verfügung bestimmten Anfechtungsgegenstandes - den auf Grund der Beschwerdebegehren effektiv angefochtenen Verfügungsgegenstand bildet. Nach dieser Begriffsumschreibung sind Anfechtungsgegenstand und Streitgegenstand identisch, wenn die Verwaltungsverfügung insgesamt angefochten wird. Bezieht sich demgegenüber die Beschwerde nur auf einen Teil des durch die ![]() | 2 |
In der Verwaltungsverfügung festgelegte - somit Teil des Anfechtungsgegenstandes bildende -, aber auf Grund der Beschwerdebegehren nicht mehr streitige - somit nicht zum Streitgegenstand zählende - Fragen prüft der Richter nur, wenn die nicht beanstandeten Punkte in engem Sachzusammenhang mit dem Streitgegenstand stehen (BGE 122 V 244 Erw. 2a, BGE 117 V 295 Erw. 2a, BGE 112 V 99 Erw. 1a, BGE 110 V 51 Erw. 3c mit Hinweisen; vgl. auch BGE 122 V 36 Erw. 2a).
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2. a) Nach der Rechtsprechung (BGE 110 V 48 und seitherige Urteile) bilden Anfechtungsgegenstand im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren, formell betrachtet, Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwVG (vgl. BGE 124 V 20 Erw. 1, 25 Erw. 2a, je mit Hinweisen) und - materiell - die in den Verfügungen geregelten Rechtsverhältnisse. Streitgegenstand bildet demgegenüber das auf Grund der Beschwerdebegehren tatsächlich angefochtene, somit als Prozessthema vor den (erst- oder zweitinstanzlichen) Richter gezogene Rechtsverhältnis (vgl. BGE 110 V 51 Erw. 3c). Nach dieser Umschreibung beziehen sich Anfechtungs- und Streitgegenstand auf ein (materielles) Rechtsverhältnis, sei es auf eines (z.B. Rentenanspruch), sei es auf mehrere Rechtsverhältnisse (z.B. Eingliederungs- und Rentenanspruch). Streitgegenstand ist mithin nicht der beschwerdeweise beanstandete "Teil des durch die Verfügung bestimmten Rechtsverhältnisses" (so BGE 110 V 51 Erw. 3c, BGE 112 V 99 Erw. 1a, BGE 117 V 295 Erw. 2a und BGE 122 V 244 Erw. 2a ["partie du rapport juridique déterminé par la décision litigieuse"]). Vielmehr erfolgt die begriffliche Unterscheidung von Streit- und Anfechtungsgegenstand auf der Ebene von Rechtsverhältnissen. Bezieht sich also die Beschwerde nur auf einzelne der durch die Verfügung bestimmten Rechtsverhältnisse, gehören die nicht beanstandeten - verfügungsweise festgelegten - Rechtsverhältnisse zwar wohl zum Anfechtungs-, nicht aber zum Streitgegenstand (vgl. in diesem Sinne BGE 118 V 313 f. Erw. 3b; ferner BGE 119 V 350 Erw. 1b sowie MEYER, Die Rechtspflege in der Sozialversicherung, in: BJM 1989 S. 25). Sache des Richters bleibt es, im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung des materiellrechtlichen Kontextes, des massgeblichen Verfügungsinhaltes und der, in Anbetracht der Beschwerde, konkreten Verfahrenslage zu entscheiden, ![]() | 4 |
b) Für die begriffliche Umschreibung des Streitgegenstandes und seine Abgrenzung vom Anfechtungsgegenstand nicht von Bedeutung sind demzufolge die bestimmenden Elemente ("Teilaspekte", "aspects", vgl. BGE 110 V 51 Erw. 3c und BGE 122 V 244 Erw. 2a) des oder der verfügungsweise festgelegten Rechtsverhältnisse. Dazu zählen bei der Zusprechung von Versicherungsleistungen unter anderem die für die Anspruchsberechtigung als solche massgebenden Gesichtspunkte, wie die versicherungsmässigen Voraussetzungen, ferner die einzelnen Faktoren für die (massliche und zeitliche) Festsetzung der Leistung, bei Invalidenrenten insbesondere der Invaliditätsgrad (BGE 110 V 52 Erw. 3d), die Rentenberechnung und der Rentenbeginn (unveröffentlichte Urteile M. vom 15. Mai 1995 und M. vom 25. April 1994; anders noch, aber im Ergebnis gleich BGE 98 V 34 Erw. 1a). Teilaspekte eines verfügungsweise festgelegten Rechtsverhältnisses dienen in der Regel lediglich der Begründung der Verfügung und sind daher grundsätzlich nicht selbstständig anfechtbar (vgl. BGE 106 V 92 Erw. 1). Sie können folgerichtig erst als rechtskräftig beurteilt und damit der richterlichen Überprüfung entzogen gelten, wenn über den Streitgegenstand insgesamt rechtskräftig entschieden worden ist (in diesem Sinne BGE 122 V 356 Erw. 4b, wo allerdings verknappt die "Kürzung" [der Komplementärrente nach UVG wegen eines unfallfremden Vorzustandes] statt die gekürzte Rente als Streitgegenstand bezeichnet wird; vgl. auch BGE 110 V 52 Erw. 3d).
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c) Dass Teilaspekte des Streitgegenstandes nach dem Gesagten der Rechtskraft in der Regel nicht zugänglich sind, schliesst nicht aus, über gewisse Elemente des streitigen Rechtsverhältnisses (bei Versicherungsleistungen beispielsweise über den Anspruch als solchen) vorab rechtskräftig zu verfügen oder zu entscheiden (vgl. BGE 122 V 153 Erw. 1, BGE 120 V 322 Erw. 2 mit Hinweisen; zur Verbindlichkeit der Erwägungen eines Rückweisungsentscheides für die Verwaltung oder die richterliche Vorinstanz vgl. BGE 120 V 237 Erw. 1a und BGE 113 V 159). In diesem Zusammenhang gilt es zu beachten, dass im Falle einer solchen Ablehnung eines Leistungsbegehrens im Grundsatz die fehlende Anspruchsberechtigung nicht bloss ein Begründungselement oder Teilaspekt des verfügungsweise festgelegten Rechtsverhältnisses ist, sondern im Bestreitungsfalle den Streitgegenstand bildet.
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d) Mit der verfügungsweisen Zusprechung einer unbefristeten Invalidenrente wird ein im Wesentlichen durch die Anspruchsberechtigung an sich sowie die Höhe und den Beginn der Leistung bestimmtes Rechtsverhältnis geordnet. Werden, was die Regel ist, lediglich einzelne Elemente der Rentenfestsetzung (Invaliditätsgrad, Rentenbeginn etc.) beanstandet, bedeutet dies nicht, dass die unbestrittenen Teilaspekte in Rechtskraft erwachsen und demzufolge der richterlichen Überprüfung entzogen sind. Die Beschwerdeinstanz prüft vielmehr von den Verfahrensbeteiligten nicht aufgeworfene Rechtsfragen und nimmt allenfalls selber zusätzliche Abklärungen vor (oder veranlasst solche), unter den in Erw. 2c in fine hievor eben erwähnten Voraussetzungen. Diese Grundsätze gelten auch bei der revisionsweisen Erhöhung, Herabsetzung oder Aufhebung einer laufenden Rente (Art. 41 IVG und Art. 87 ff. IVV). Wird beispielsweise eine halbe auf eine ganze Rente heraufgesetzt und beantragt der Versicherte schon ab einem früheren als dem in der Verfügung festgelegten Zeitpunkt die Erhöhung der Rente, hat der Richter gegebenenfalls, insbesondere wenn dies die Gegenpartei oder weitere Verfahrensbeteiligte verlangen, auch den bisher nicht in Frage gestellten Anspruch auf eine ganze Rente in die Beurteilung miteinzubeziehen (so erwähntes Urteil M. vom 25. April 1994).
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Nicht anders verhält es sich bei der rückwirkenden Zusprechung einer abgestuften und/oder befristeten Rente, wenn also gleichzeitig eine Rente zugesprochen und diese revisionsweise, in sinngemässer Anwendung von Art. 41 IVG und Art. 88a IVV, herauf- oder herabgesetzt und/oder aufgehoben wird (insofern unrichtig die unveröffentlichten Urteile P. vom 24. Dezember 1997 und P. vom 16. Januar 1992, wo die unbestritten gebliebenen befristeten ![]() | 9 |
3. a) Mit der Anfechtungsgegenstand des kantonalen Verfahrens bildenden Verfügung vom 9. Juni 1995 hat die IV-Stelle dem Beschwerdegegner eine ab 1. Oktober 1992 laufende, bis 31. Januar 1994 befristete ganze Invalidenrente zugesprochen. Die Vorinstanz hat, entsprechend den Anträgen in der Beschwerde, lediglich geprüft, ob der Versicherte bereits ab 17. Oktober 1991 Anspruch auf eine Invalidenrente habe und ob die laufende ganze Rente richtigerweise auf Ende Januar 1994 aufgehoben worden sei. In die Beurteilung nicht miteinbezogen hat sie die "Ausrichtung einer ganzen IV-Rente ab 1.10.1992". Dieser Punkt sei unbeanstandet ![]() | 10 |
Die beschwerdeführende IV-Stelle vertritt demgegenüber den Standpunkt, die Vorinstanz wäre verpflichtet gewesen, den Anspruch auf die ganze Rente während der Zeit vom 1. Oktober 1992 bis 31. Januar 1994 ebenfalls zu überprüfen, nachdem sie festgestellt habe, dass dieser Anspruch nicht beurteilt werden könne. Die befristete Anspruchsberechtigung gehöre zwar "an sich nicht zum Streitgegenstand", da sie nicht angefochten und von ihr dazu weder lite pendente eine neue Verfügung erlassen noch ein Antrag auf reformatio in peius gestellt worden sei. Indem aber dieser Rentenanspruch zweifellos zum Anfechtungsgegenstand gehöre, hätte die Vorinstanz nur zu prüfen gehabt, ob ein "enger Sachzusammenhang mit dem Streitgegenstand" bestanden habe. Dies sei zwischen der Anfechtung des Rentenbeginns und der Weiterausrichtung der ganzen Rente einerseits und der befristeten ganzen Rente anderseits offensichtlich der Fall. Der angefochtene Entscheid müsse daher schon aus diesem formellen Grund aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung - unter Wahrung der Verfahrensrechte des Versicherten im Falle seiner Schlechterstellung - an die Vorinstanz zurückgewiesen werden.
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b) Die Vorinstanz ging im Lichte des in Erw. 2 Gesagten richtigerweise davon aus, dass Streitgegenstand des erstinstanzlichen Beschwerdeverfahrens die mit der angefochtenen Verfügung vom 9. Juni 1995 zugesprochene befristete ganze Rente bildet. Dazu gehört auch der nicht beanstandete ganze Rentenanspruch für die Zeit vom 1. Oktober 1992 bis 31. Januar 1994. Das kantonale Gericht argumentiert denn auch zu Recht nicht, dieser Teilaspekt "des verfügungsweise festgelegten Rechtsverhältnisses" sei (unangefochten) in Rechtskraft erwachsen und daher einer gerichtlichen Überprüfung nicht mehr zugänglich. Diese verfahrensrechtliche Rechtslage verkennt die IV-Stelle, wenn sie ausführt, die befristete Anspruchsberechtigung gehöre zwar zum Anfechtungsgegenstand, aber (an sich) nicht zum Streitgegenstand. Im Ergebnis ist der Verwaltung jedoch darin beizupflichten, dass die Vorinstanz ![]() | 12 |
c) Nach dem Gesagten ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie den Anspruch auf eine (ganze) Invalidenrente auch für die Zeit vom 1. Oktober 1992 bis 31. Januar 1994 materiell prüfe. Dabei wird sie bei ihrem Entscheid die Verfahrensrechte der Parteien zu beachten haben, dies insbesondere im Falle einer reformatio in peius durch Herabsetzung oder frühere Aufhebung der befristeten ganzen Rente (vgl. BGE 122 V 166).
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