BGE 125 V 470 | |||
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77. Urteil vom 3. Dezember 1999 i.S. Kantonales Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit, Bern, gegen W. und Verwaltungsgericht des Kantons Bern | |
Regeste |
Art. 13 Abs. 2bis und 2ter AVIG; Art. 11b Abs. 2 AVIV: Wirtschaftliche Zwangslage; Berechnungsgrundlage. | |
Sachverhalt | |
A.- Die 1953 geborene W., Mutter zweier Kinder (geb. 1981 und 1982), lebt seit 1993 getrennt von ihrem Ehemann. Nachdem dieser auf Ende November 1996 seine Stelle als Direktor gekündigt hatte in der Absicht, künftig als Hausmann und Praxishilfe bei seiner neuen Lebensgefährtin tätig zu sein, stellte W. am 27. November 1996 Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ab 1. Dezember 1996. Nach Abklärung der finanziellen Verhältnisse lehnte das Kantonale Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit, Bern, Abteilung Arbeitslosenversicherung (KIGA), die Anspruchsberechtigung mit Verfügung vom 28. Februar 1997 ab, weil die Erziehungsperiode mangels Vorliegens einer wirtschaftlichen Zwangslage nicht als Beitragszeit angerechnet werden könne.
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B.- In teilweiser Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die angefochtene Verfügung auf mit der Feststellung, dass W. sich ab 1. Dezember 1996 in einer wirtschaftlichen Zwangslage befunden habe, und wies die Sache an das KIGA zurück, damit es, nach Abklärung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen, über den Entschädigungsanspruch neu befinde (Entscheid vom 10. Februar 1998). In der Begründung ging es davon aus, dass unter bestimmten Voraussetzungen, die hier erfüllt seien, für die Beurteilung der Frage, ob eine wirtschaftliche Zwangslage bestehe, auf die aktuellen Einkommensverhältnisse bei Einreichung des Antrags auf Arbeitslosenentschädigung abgestellt werden könne. Anrechenbar sei daher nur das vom Ehemann nach Aufgabe der Stelle als Direktor erzielte Einkommen als Praxishilfe, das sich auf lediglich Fr. 3'000.-- im Monat belaufe.
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C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das KIGA, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
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Während W. sich nicht vernehmen lässt, schliesst das Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit (seit 1. Juli 1999: Staatssekretariat für Wirtschaft [seco]) auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
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Die Beitragszeit hat erfüllt, wer innerhalb der dafür vorgesehenen Rahmenfrist für die Beitragszeit (zwei Jahre vor dem ersten Tag, für den sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind; Art. 9 Abs. 2 und 3 AVIG) während mindestens sechs Monaten eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat (Art. 13 Abs. 1 AVIG). Abs. 2 derselben Gesetzesbestimmung zählt in lit. a-d Zeiten auf, die ebenfalls als Beitragszeiten angerechnet werden. Gemäss Art. 13 Abs. 2bis AVIG (in Kraft seit 1. Januar 1996) werden Zeiten, in denen Versicherte keine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt haben, weil sie sich der Erziehung von Kindern unter 16 Jahren widmeten, als Beitragszeiten angerechnet, sofern die Versicherten im Anschluss an die Erziehungsperiode auf Grund einer wirtschaftlichen Zwangslage eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aufnehmen müssen. Die Anrechenbarkeit von Erziehungszeiten als Beitragszeiten setzt einen Kausalzusammenhang zwischen der Kindererziehung und dem Verzicht auf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit voraus (ARV 1998 Nr. 45 S. 258 f. Erw. 3a). Nach Art. 13 Abs. 2ter AVIG (in Kraft seit 1. Januar 1996) liegt eine wirtschaftliche Zwangslage vor, wenn das anrechenbare Einkommen der Versicherten und ihres Ehegatten einen vom Bundesrat festgelegten Grundbetrag nicht erreicht. Der Bundesrat legt den anrechenbaren Teil des Vermögens fest. Gestützt auf diese Delegationsnorm hat der Bundesrat Art. 11b AVIV erlassen. Gemäss Abs. 1 dieser Verordnungsbestimmung kann ein Anspruch nach Art. 13 Abs. 2bis AVIG geltend gemacht werden, wenn das anrechenbare Einkommen zusammen mit dem anrechenbaren Teil des Vermögens weniger als 35% des Höchstbetrags des versicherten Verdienstes nach Art. 23 Abs. 1 AVIG beträgt. Dieser Prozentsatz erhöht sich um 10%, wenn der Versicherte verheiratet ist (lit. a) sowie um 10% für das erste Kind und 5% für jedes weitere Kind, für das eine Unterhaltspflicht im Sinne von Art. 33 besteht, höchstens aber um 30% (lit. b).
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Laut Art. 11b Abs. 2 AVIV werden das anrechenbare Einkommen und der anrechenbare Teil des Vermögens grundsätzlich auf Grund der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der letzten zwölf Monate vor Einreichung des Entschädigungsantrages berechnet, wobei die gesamten Bruttoeinkommen des Versicherten und seines Ehegatten (lit. a) und 10% des Vermögens des Versicherten und seines Ehegatten (lit. b) anrechenbar sind.
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a) Während die Vorinstanz diese Frage ohne nähere Ausführungen bejahte, bestreitet das KIGA einen solchen Zusammenhang, indem es geltend macht, die Beschwerdegegnerin habe nicht nur der Kinder wegen, sondern auch deshalb auf eine Erwerbstätigkeit verzichtet, weil ihr Ehemann ein überdurchschnittliches Einkommen erzielt habe, womit der Unterhalt der ganzen Familie ohne weiteres sichergestellt gewesen sei. Nun berufe sie sich allein deshalb auf Erziehungszeiten, weil der von ihr getrennt lebende Ehemann absichtlich seine familiären Unterhaltspflichten vernachlässige.
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b) Zwar mag es zutreffen, dass die Beschwerdegegnerin nicht allein wegen der Kindererziehung, sondern auch auf Grund des hohen Einkommens ihres Ehemannes davon abgesehen hat, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Dadurch wird der erforderliche Kausalzusammenhang jedoch nicht unterbrochen. Würde der Auffassung des KIGA gefolgt, könnte nur diejenige Erziehungszeit als Beitragszeit angerechnet werden, während welcher für die mit Erziehungsaufgaben befasste Person eine wirtschaftliche Notwendigkeit bestand, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, sie sich aber trotzdem nicht um Arbeit bemühte (vgl. ARV 1998 Nr. 45 S. 258 f. Erw. 3a). Ein solches Erfordernis geht jedoch weit über den von den gesetzgebenden Instanzen verfolgten Zweck hinaus, die Anspruchsberechtigung auf Personen zu beschränken, die sich im Anschluss an die Erziehungsperiode in einer wirtschaftlichen Zwangslage befinden (vgl. BGE 125 V 131 Erw. 6b/aa mit Hinweisen auf die Gesetzesmaterialien).
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Wie den Erläuterungen des damaligen Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit (heute Staatssekretariat für Wirtschaft, seco) vom 21. September 1995 zur Revision der AVIV auf den 1. Januar 1996 zu entnehmen ist, war in Art. 11b Abs. 2 zunächst vorgesehen, zur Bestimmung des anrechenbaren Einkommens und des anrechenbaren Teils des Vermögens grundsätzlich auf die letzte Steuerveranlagung des Versicherten und seines Ehegatten bei der Kantonssteuer (Staatssteuer) abzustellen (S. 9). Das Wort "grundsätzlich" wurde eingefügt, damit erhebliche Einkommensunterschiede zwischen dem Zeitpunkt der Steuererklärung und der Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs berücksichtigt werden konnten; es müsse möglich sein, die Zahlen den aktuellen Verhältnissen anzupassen. Obwohl die Berechnungsgrundlage im definitiven Verordnungstext eine Änderung erfuhr, wurde das Wort "grundsätzlich" belassen. Dies ist dahin zu verstehen, dass auch bei grundsätzlichem Abstellen auf die Verhältnisse während der letzten zwölf Monate vor Einreichung des Entschädigungsantrages bei einer erheblichen Veränderung vom Grundsatz abgewichen werden kann und die aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse massgeblich sein sollen. Anders entscheiden hiesse, dass die Erziehungsperiode nur als Beitragszeit angerechnet werden könnte, wenn die wirtschaftliche Zwangslage bereits ein Jahr oder mindestens längere Zeit angedauert hat, während andererseits nach einjähriger Zwangslage Arbeitslosenentschädigung beansprucht werden könnte, obwohl sich die Einkommens- und Vermögenssituation im Zeitpunkt der Antragstellung (wieder) in einem wesentlich günstigeren Licht präsentiert. Zweck von Art. 13 Abs. 2bis AVIG ist indessen die grundsätzliche Gleichstellung von Perioden der Erwerbs- und Erziehungsarbeit als Beitragszeiten. Aus Kostengründen knüpfte das Parlament die Anrechnung der Erziehungszeit an das Erfordernis der Arbeitssuche auf Grund einer wirtschaftlichen Zwangslage (BGE 125 V 131 f. Erw. 6b/aa). Die Annahme, dass diese Zwangslage bis zur Geltendmachung des Anspruchs in jedem Fall innerhalb eines Jahres bereits längere Zeit gedauert haben müsse, findet auch im Gesetz keine Grundlage. Eine gesetzeskonforme Auslegung (BGE 125 V 4 Erw. 3b) führt somit ebenfalls zum Schluss, dass Art. 11b Abs. 2 AVIV es zulässt, ausnahmsweise auf die im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung vorliegende finanzielle Situation abzustellen, wenn innerhalb der zwölf vorangegangenen Monate eine erhebliche Verschlechterung (oder Verbesserung) eingetreten ist (Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz. 185).
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Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Denn angesichts der Einkommensverhältnisse des unterhaltspflichtigen Ehegatten, der seit Dezember 1996 Fr. 3'000.-- im Monat verdient, ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdegegnerin bei Anstrengung der erwähnten Verfahren Unterhaltsbeiträge erhältlich machen könnte, welche eine Zwangslage ausschliessen würden. Vielmehr ist auf Grund der Unterlagen betreffend die finanziellen Verhältnisse des Ehemannes als erstellt zu betrachten, dass die Beschwerdegegnerin nicht wesentlich höhere Unterhaltsbeiträge als die ihr ab Dezember 1996 ausbezahlten Alimente von Fr. 2'685.-- im Monat realisieren könnte.
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5. Nach den zutreffenden Berechnungen des kantonalen Gerichts befand sich die Beschwerdegegnerin am 1. Dezember 1996 in einer wirtschaftlichen Zwangslage. Da dies sowohl bei Abstellen auf das Einkommen des Ehemannes wie auch bei Berücksichtigung allein der Unterhaltsbeiträge zutrifft, indem der vom KIGA ermittelte Grenzbetrag von Fr. 58'320.-- bei weitem nicht erreicht wird, kann im vorliegenden Fall offen bleiben, welche Berechnungsart bei faktisch getrennt lebenden Eheleuten anzuwenden ist.
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