BGE 125 V 475 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
78. Urteil vom 4. November 1999 i.S. Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen gegen K. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen | |
Regeste |
Art. 23 Abs. 1 und 3, Art. 24 Abs. 3 AVIG: Bestimmungsfaktoren für den versicherten Verdienst. | |
Sachverhalt | |
A.- Der 1964 geborene K. arbeitete seit dem 15. Oktober 1994 als Jugendarbeiter und Religionslehrer bei der Kirchgemeinde X (im Folgenden: Kirchgemeinde). Es handelte sich dabei um eine Vollzeitbeschäftigung von 42 Wochenstunden, dies bei einer Normalarbeitszeit der Kirchgemeinde von 42 Wochenstunden. Diese Stelle kündigte die Arbeitgeberin auf den 31. August 1997. Seit dem 4. Februar 1997 war K. ausserdem als Ausbildner und Kursleiter bei der Asyl-Organisation für den Kanton Y (im Folgenden: Asyl-Organisation) tätig. Die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit belief sich auf 16,8 Wochenstunden, während die Normalarbeitszeit des Betriebes 42 Wochenstunden betrug. Auf diese umgerechnet, versah K. somit eine 40%-Stelle. Dieses Arbeitsverhältnis wurde auf den 31. Juli 1997 aufgelöst.
| 1 |
Ab 1. August 1997, also ab dem Zeitpunkt des Verlustes des 40%-Pensums bei der Asyl-Organisation, beantragte K. Arbeitslosenentschädigung. Mit Taggeldabrechnung vom 2. Oktober 1997 für den Monat September setzte die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen den Beginn der Rahmenfrist für den Leistungsbezug auf den 1. September 1997, d.h. auf den Zeitpunkt des Verlustes der 100%-Stelle bei der Kirchgemeinde fest. Gleichzeitig veranschlagte sie den versicherten Verdienst auf Fr. 5'054.--, und zwar nach Massgabe des bei der Kirchgemeinde erzielten Lohnes, der sich laut Arbeitgeberbescheinigung vom 2. Juli 1997 auf monatlich Fr. 4'665.25 zuzüglich Anteil des 13. Monatslohnes in der Höhe von Fr. 388.75 belief.
| 2 |
B.- Beschwerdeweise machte K. geltend, er habe Taggeldanspruch auf der Basis aller beitragspflichtigen Einkommen der letzten sechs Monate vor Eintritt der Arbeitslosigkeit, auch wenn der Beschäftigungsgrad von 100% überschritten werde. Nachdem eines der beiden Arbeitsverhältnisse bereits auf Ende Juli 1997 beendet worden sei, habe er sich für August 1997 als teilarbeitslos gemeldet, jedoch für diesen Monat keine Leistungen erhalten.
| 3 |
In Gutheissung der Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Taggeldabrechnung der Arbeitslosenkasse vom 2. Oktober 1997 auf und wies die Sache an diese zurück, damit sie - in Berücksichtigung der Tätigkeit bei der Asyl-Organisation - über den Taggeldanspruch ab August 1997 neu verfüge (Entscheid vom 20. Oktober 1998).
| 4 |
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Arbeitslosenkasse, der kantonale Entscheid sei aufzuheben. K. und das Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit (ab 1. Juli 1999: Staatssekretariat für Wirtschaft) lassen sich nicht vernehmen.
| 5 |
D.- Am 4. November 1999 hat das Eidg. Versicherungsgericht eine parteiöffentliche Beratung durchgeführt.
| 6 |
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
1. Der Abrechnung des Monats September 1997 vom 2. Oktober 1997 kommt materiell Verfügungscharakter zu. Denn sie stellt eine behördliche Anordnung dar, mit welcher der Entschädigungsanspruch für die in Frage stehende Kontrollperiode verbindlich festgelegt wird (BGE 122 V 368 Erw. 2 mit Hinweisen). Das kantonale Gericht ist deshalb zu Recht auf die hiegegen eingereichte Beschwerde eingetreten.
| 7 |
8 | |
9 | |
b) Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner im Zeitpunkt, in welchem er die Beschäftigung bei der Asyl-Organisation verlor (Ende Juli 1997), über eine Anstellung bei der Kirchgemeinde verfügte. Diese dauerte noch bis Ende August 1997. Als Arbeitszeit waren - wie betriebsüblich - 42 Stunden vereinbart. Der Beschwerdegegner stand daher im Monat August 1997 in einem Arbeitsverhältnis und ging einer Vollzeitbeschäftigung nach. Er war demnach in dieser Zeit weder ganz noch teilweise arbeitslos (ARV 1996/97 Nr. 4 S. 11).
| 10 |
(Ganz) arbeitslos wurde der Beschwerdegegner erst mit der Auflösung der Vollzeitbeschäftigung bei der Kirchgemeinde auf Ende August 1997. Die Arbeitslosenkasse hat somit richtig gehandelt, als sie Arbeitslosigkeit ab 1. September 1997 angenommen und den Beginn der Rahmenfrist für den Leistungsbezug auf diesen Zeitpunkt festgesetzt hat.
| 11 |
12 | |
Nicht versichert ist ein Nebenverdienst. Als solcher gilt jeder Verdienst, den ein Versicherter ausserhalb seiner normalen Arbeitszeit als Arbeitnehmer oder ausserhalb des ordentlichen Rahmens seiner selbstständigen Erwerbstätigkeit erzielt (Art. 23 Abs. 3 AVIG).
| 13 |
b) Das kantonale Gericht vertritt die Auffassung, es sei dem Beschwerdegegner von den jeweiligen Arbeitszeiten her möglich gewesen, die Tätigkeit bei der Kirchgemeinde und diejenige bei der Asyl-Organisation nebeneinander auszuüben. Deshalb stelle der Beschäftigungsgrad von insgesamt 140% den Normalfall im Sinne von Art. 23 Abs. 1 AVIG dar. Insbesondere könne auf Grund der Höhe der bei der Asyl-Organisation in der Zeit vom 4. Februar bis 31. Juli 1997 erzielten Einkünfte (Fr. 33'613.45) nicht von einem Nebenverdienst ausgegangen werden, zumal sie den im gleichen Zeitraum bei der Kirchgemeinde verdienten Lohn (6 x Fr. 5'054.-- = Fr. 30'324.--) überstiegen.
| 14 |
15 | |
In BGE 116 V 281 hat das Eidg. Versicherungsgericht den unbestimmten Rechtsbegriff "normalerweise" in Art. 23 Abs. 1 erster Teilsatz AVIG im Zusammenhang mit einer Überzeitentschädigung ausgelegt. Dabei hat es festgehalten, dass das AVIG den versicherten Personen einen angemessenen Ersatz für Erwerbsausfälle u.a. wegen Arbeitslosigkeit garantieren will. Eine Entschädigung für ausgefallene Überzeitarbeit widerspräche dem auch in anderen Bereichen des Gesetzes zum Ausdruck kommenden Grundgedanken der Arbeitslosenversicherung: Diese soll nur für eine normale übliche Arbeitnehmertätigkeit Versicherungsschutz bieten, dagegen keine Entschädigung für Erwerbseinbussen ausrichten, die aus dem Ausfall einer Überbeschäftigung stammen (BGE 116 V 283 Erw. 2d mit Hinweisen).
| 16 |
Im Hinblick auf diese Ziele erwog das Eidg. Versicherungsgericht im nicht veröffentlichten Urteil H. vom 2. September 1996 - in welchem es um die Ausscheidung des Nebenverdienstes bei einem Versicherten ging, der im Bemessungszeitraum für den versicherten Verdienst bei einem Arbeitgeber nahezu eine Vollzeit- und bei einem zweiten ungefähr eine Halbzeitbeschäftigung ausübte -, dass es darum richtig ist, den Verdienst ausser Acht zu lassen, der ausserhalb einer normalen üblichen Arbeitszeit erzielt wird. Wie GERHARDS (Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz, Bd. I, N. 54 zu Art. 23), auf den im erwähnten Urteil Bezug genommen wird, ausführt, liegt ein Nebenverdienst ausserhalb der in Art. 23 Abs. 1 AVIG festgeschriebenen Normalität; er hat ausserordentlichen Charakter, und zwar auch dann, wenn ein Versicherter durch eine Nebentätigkeit ein höheres Einkommen erzielt als durch die eigentliche Haupttätigkeit.
| 17 |
b) Im hier zu beurteilenden Fall verhält es sich so, dass der Beschwerdegegner bei der Kirchgemeinde einer Vollzeitbeschäftigung nachging, und zwar im Rahmen seiner normalen Arbeitszeit als Arbeitnehmer, welche betriebsübliche 42 Wochenstunden betrug. Dagegen lag die Tätigkeit bei der Asyl-Organisation bei 16,8 Wochenstunden; dies bei einer betriebsüblichen Arbeitszeit von 42 Wochenstunden. Hiebei handelt es sich somit um einen Verdienst, den der Beschwerdegegner "ausserhalb seiner normalen Arbeitszeit als Arbeitnehmer" (Art. 23 Abs. 3 Satz 2 AVIG) erzielt hat.
| 18 |
Entgegen der Ansicht der Vorinstanz spielt es keine Rolle, in welchem Verhältnis der Nebenverdienst zu dem aus der Haupttätigkeit erzielten Lohn steht. Quantitativ massgebend ist einzig, dass der Nebenerwerb über eine normale übliche Arbeitnehmertätigkeit hinausgeht und darum nicht versichert ist.
| 19 |
c) Die Arbeitslosenkasse hat daher zu Recht nur den bei der Kirchgemeinde bezogenen Lohn als versicherten Verdienst berücksichtigt, wobei dessen rechnerische Festlegung auf Fr. 5'054.-- (einschliesslich des anteiligen 13. Monatslohnes) nicht umstritten ist.
| 20 |
21 | |
In BGE 123 V 230 war streitig, ob eine seit Beginn der Arbeitslosigkeit erfolgte Ausweitung einer bisherigen Nebenbeschäftigung, die nun allein weitergeführt wurde, diese zur Zwischenbeschäftigung werden lässt. Dazu hat das Eidg. Versicherungsgericht u.a. ausgeführt, würde der zur Hauptbeschäftigung zusätzlich erzielte Verdienst regelmässig nahe an den Hauptverdienst herankommen oder diesen gar übersteigen, könnte die Tätigkeit nicht mehr als Nebenbeschäftigung und das dabei realisierte Einkommen nicht mehr als Nebenverdienst bezeichnet werden (BGE 123 V 233 Erw. 3c). In der Folge erkannte es im Urteil P. vom 12. Januar 1999, dass das neben der Vollzeitbeschäftigung erwirtschaftete Einkommen, das höher war als der Lohn aus der Vollzeittätigkeit, zum versicherten Verdienst gehört. Die Streitsache hatte sich um die Frage gedreht, ob das Einkommen, das die versicherte Person (am Abend und am Wochenende) parallel neben dem - weniger einträglichen - vollzeitlichen Besuch eines Beschäftigungsprogrammes erzielte, als Zwischenverdienst gilt.
| 22 |
b) Diese unterschiedliche Rechtsprechung liegt in der ungleichen Sachverhaltskonstellation begründet. Denn in BGE 123 V 230 wurden die fraglichen Einkünfte während der kontrollierten Arbeitslosigkeit erzielt, und die im Urteil P. vom 12. Januar 1999 nach Eintritt der Arbeitslosigkeit ausgeübte vollzeitliche Haupttätigkeit erfolgte im Rahmen einer vorübergehenden Beschäftigung nach Art. 72 Abs. 1 AVIG, welche subsidiärer Natur ist; sie kann erst dann zugesprochen werden, wenn dem Versicherten keine zumutbare Beschäftigung zugewiesen werden kann und keine andere arbeitsmarktliche Massnahme angezeigt ist (Art. 72a Abs. 1 AVIG; BGE 125 V 362). Damit verfügten die Versicherten - anders als hier - über keine "normale" Tätigkeit, in Bezug auf die sich die Frage einer "ausserhalb" davon geleisteten Arbeit (und die Berücksichtigung des daraus erzielten Einkommens) hätte stellen können.
| 23 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |