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19. Urteil vom 18. April 2000 i. S. I. gegen Concordia, Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung, und Verwaltungsgericht des Kantons Bern | |
Regeste |
Art. 27 KVG: Leistungen bei Geburtsgebrechen. Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei einem geburtsgebrechlichen Kind, das die invalidenversicherungsrechtliche Versicherungsklausel gemäss Art. 6 IVG nicht erfüllt. | |
Sachverhalt | |
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C.- I., gesetzlich vertreten durch seinen Vater, lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des kantonalen Gerichts- und des Einspracheentscheides sei die Concordia zu verpflichten, ihm die für die Behandlung seines Herzleidens erforderlichen Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenpflegeversicherung zu erbringen.
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Während die Concordia auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) deren Gutheissung.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin für das Herzleiden des Beschwerdeführers die gesetzlichen Leistungen zu dessen Diagnostizierung und Behandlung nach Massgabe des Art. 25 KVG zu erbringen hat. In sachverhaltsmässiger Hinsicht ist unbestritten und steht auf Grund der Akten fest, dass der Beschwerdeführer an einem grossen Defekt im Vorhofseptum leidet, zu dessen definitiver Diagnostizierung noch eine Herzkatheteruntersuchung durchgeführt werden muss. Die Verfahrensbeteiligten stimmen zu Recht darin überein, dass dieses Herzleiden unter Ziff. 313 des Anhanges zur Geburtsgebrechensverordnung (angeborene Herz- und Gefässmissbildungen) fällt und die Pflicht der Invalidenversicherung, hiefür medizinische Massnahmen nach Art. 13 IVG zu leisten, einzig daran scheitert, dass der Anfang September 1997 in die Schweiz eingereiste, damals knapp zweijährige Beschwerdeführer, die versicherungsmässigen Voraussetzungen, somit die Versicherungsklausel nach Art. 6 IVG, nicht erfüllt. Denn das Kind, bei welchem ärztlicherseits am 9. Januar 1998 der beschriebene Defekt festgestellt wurde, hat sich bei Eintritt seiner Invalidität weder ununterbrochen während mindestens zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten, noch während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet (Art. 6 Abs. 2 IVG, in der seit 1. Januar 1997 geltenden Fassung). Der in der genannten Bestimmung vorbehaltene Art. 9 Abs. 3 IVG führt ebenfalls nicht zur Erfüllung der Versicherungsklausel, weil der Beschwerdeführer weder in der Schweiz invalid ![]() | 5 |
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a) Der Wortlaut des deutschen Textes von Art. 27 KVG, namentlich die Formulierung "bei Geburtsgebrechen, die nicht durch die Invalidenversicherung gedeckt sind", weist nach dem gewöhnlichen Sprachverständnis darauf hin, dass bei einem weniger als zwanzig Jahre alten Leistungsansprecher, der an einem anerkannten Geburtsgebrechen leidet, die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nicht deswegen entfällt, weil er die Versicherungsklausel gemäss Art. 6 IVG nicht erfüllt. Mit Blick darauf, dass bei der grammatikalischen Auslegung von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der drei Amtssprachen auszugehen ist (Art. 9 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 21. März 1986 über die Gesetzessammlungen und das Bundesblatt; SR 170.512) und dass diesem Auslegungselement nur untergeordnete Bedeutung zukommt, wenn die drei verschiedenen sprachlichen Versionen nicht vollständig übereinstimmen oder sich gar widersprechen (BGE 119 V 127 Erw. 4a mit Hinweis), ist zu prüfen, wie es sich mit der französischen und der italienischen Fassung verhält. Die französische Version lautet: "En cas d'infirmité congénitale non couverte par l'assurance-invalidité...". Der italienische Wortlaut ist wie folgt: "Per le infermità congenite che non sono coperte dall'assicurazione invalidità...". Die französische wie die italienische Fassung weisen ![]() | 9 |
b) Zu prüfen ist, ob die Materialien zuverlässigen Aufschluss über die vorliegend strittige Auslegung des Art. 27 KVG geben. Nach ständiger Rechtsprechung stellen sie, gerade bei jüngeren Gesetzen, ein wichtiges Erkenntnismittel dar, von dem im Rahmen der Auslegung stets Gebrauch zu machen ist. Nach ebenso gefestigter Rechtsprechung sind sie aber für sich allein nicht geeignet, direkt auf den Rechtssinn einer Gesetzesbestimmung schliessen zu lassen, weil das Gesetz mit seinem Erlass sich von seinen Schöpfern löst und ein eigenständiges rechtliches Dasein entfaltet (BGE 124 V 189 Erw. 3a). Insbesondere hat es die Rechtsprechung wiederholt abgelehnt, einer mit den Materialien übereinstimmenden Auslegung den Vorzug zu geben, wenn eine Lösung vom Bundesrat, in den vorberatenden Kommissionen oder in den Räten diskutiert worden ist, jedoch im Gesetz gewordenen Text keinen Niederschlag gefunden hat. Schliesslich sind die Materialien als Auslegungshilfe nicht dienlich, wo sie keine klare Antwort geben (BGE 124 V 190 Erw. 3a mit Hinweisen).
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aa) In der bundesrätlichen Botschaft über die Revision der Krankenversicherung vom 6. November 1991 (BBl 1992 I 93 ff., 154 f.) heisst es u.a.:
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"Die obligatorische Krankenversicherung übernimmt die Kosten der erforderlichen Leistungen, sobald das Geburtsgebrechen nicht mehr unter die Invalidenversicherung fällt, sei es, weil der Versicherte volljährig wird
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Vorinstanz und Beschwerdegegnerin haben aus dem Umstand, dass in der Botschaft nur zwei Sachverhalte genannt werden, in denen die obligatorische Krankenpflegeversicherung nach Art. 27 KVG leistungspflichtig ist, geschlossen, es gäbe keine weiteren anspruchsbegründende Geschehnisse. Fälle wie der vorliegende seien nach dem Willen des historischen Gesetzgebers durch Art. 27 KVG nicht abgedeckt.
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bb) Die Botschaft bezweckt mit der Darlegung der beiden Sachverhalte ausdrücklich, die neu auf Gesetzesstufe und nicht mehr wie bisher auf Verordnungsebene (Art. 14 Abs. 1 der Verordnung III vom 15. Januar 1965 über die Krankenversicherung betreffend die Leistungen der vom Bund anerkannten Krankenkassen und Rückversicherungsverbände [Vo III; SR 832.140]) geregelte Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei Geburtsgebrechen zu verdeutlichen (BBl 1992 I 154 f.). Ob ihr dabei - wofür der Wortlaut des Textes spricht - die Auffassung zu Grunde liegt, andere anspruchsbegründende Geschehnisse als die von ihr genannten seien ausgeschlossen, braucht nicht abschliessend erörtert zu werden. Selbst wenn dem so wäre, ist zu berücksichtigen, dass aus den nachfolgenden Beratungen in den Kommissionen der Räte ein entsprechender, einschränkender Wille nicht ersichtlich ist: Auf die Auslegung der in Frage stehenden Bestimmung angesprochen, erklärte der Vertreter des BSV anlässlich der Sitzung der Kommission des Nationalrates vom 1. und 2. April 1993 in unbestimmter Weise, "es könnte Fälle geben, die nicht (durch die Invalidenversicherung) gedeckt (sind), aber trotzdem als Krankheit zu definieren sind" (Protokoll der Sitzung vom 1. und 2. April 1993, S. 30). Anlässlich der Kommissionssitzung vom 12. und 13. Oktober 1992 votierte ein Ständerat dafür, es sei zweitrangig, welcher Sozialversicherungsträger leistungspflichtig werde, vorrangig sei, dass im Bereich der Geburtsgebrechen keine Leistungslücken bestünden (Protokoll der Sitzung vom 12. und 13. Oktober 1992, S. 42). Ob daraus - in den Räten gab der Art. 21, welcher dem heutigen Art. 27 KVG entspricht, keinen Anlass zu weiteren Diskussionen (Amtl. Bull. 1992 S 1300 und N 1842) - mit dem ![]() | 15 |
c) Der im 1. Abschnitt (Umschreibung des Leistungsbereichs) des 3. Kapitels des Gesetzes (Leistungen) unter der Marginalie "Geburtsgebrechen" stehende Art. 27 KVG bezweckt, die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei Geburtsgebrechen zu regeln. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird mit Recht geltend gemacht, die Betrachtungsweise der Vorinstanz und der Beschwerdegegnerin würde bedeuten, dass ein geburtsgebrechliches, folglich schon zur Zeit seiner Einreise in die Schweiz mit diesem Leiden behaftetes Kind von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ausgeschlossen wäre, dies im Gegensatz zu einem Kind, das - vor oder nach seiner Einreise in die Schweiz - an einem nach der Geburt erworbenen Gebrechen leidet, für welches die Krankenkasse fraglos aufzukommen hätte. Damit würde die vom historischen Gesetzgeber durch Art. 13 IVG angestrebte Besserstellung der Geburtsgebrechlichen in ihr Gegenteil verkehrt, indem allein das Kriterium des Angeborenseins der Schädigung zum Anlass genommen würde, sie aus dem Kreise der leistungsbegründenden Krankheiten auszugrenzen. Sinn und Zweck des Art. 27 KVG liegt nicht darin, bei einem weniger als zwanzig Jahre alten Leistungsansprecher, der an einem anerkannten Geburtsgebrechen leidet, die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung deswegen zu verneinen, weil er die Versicherungsklausel gemäss Art. 6 IVG nicht erfüllt.
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4. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die bisher geprüften, normunmittelbaren Auslegungselemente die auf den Wortlaut des Art. 27 KVG gestützte Auslegung weit überwiegend stützen. Dieses Auslegungsergebnis wird durch die Grundsätze der verfassungskonformen oder verfassungsbezogenen Auslegung bestätigt, da die von Vorinstanz und Beschwerdegegnerin vertretene Interpretation zu einer sachlich nicht gerechtfertigten krankenversicherungsrechtlichen Ungleichbehandlung führen würde zwischen einem Kind, das mit einem Geburtsgebrechen in die Schweiz einreist und einem Kind, das - vor oder nach seiner Einreise in die Schweiz - an einem nach der Geburt erworbenen Gebrechen leidet (Erw. 3c hievor).
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