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21. Auszug aus dem Urteil i.S. D. gegen IV-Stelle des Kantons Aargau und Versicherungsgericht des Kantons Aargau I 727/00 vom 23. Juli 2002 | |
Regeste |
Art. 50 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 85bis IVV: Drittauszahlung rückwirkend zugesprochener Taggelder. | |
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b) Nach Art. 20 Abs. 1 AHVG ist jeder Rentenanspruch unabtretbar, unverpfändbar und der Zwangsvollstreckung entzogen (Satz 1); jede Abtretung oder Verpfändung ist nichtig (Satz 2); vorbehalten bleibt Art. 45 (Satz 3). Art. 45 AHVG seinerseits ermächtigt den Bundesrat, nach Anhörung der Kantone Massnahmen ![]() | 2 |
Art. 76 AHVV ist auf Grund des Verweises in Art. 84 IVV für die Gewährleistung zweckgemässer Verwendung der Taggelder, der Renten und der Hilflosenentschädigungen der Invalidenversicherung sinngemäss anwendbar.
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c) Die Verwaltungspraxis hat die Drittauszahlung seit jeher unter bestimmten Voraussetzungen auch dann zugelassen, wenn die Bedingungen des Art. 76 AHVV über die Gewährleistung zweckmässiger Rentenverwendung nicht erfüllt waren, obschon laut Art. 50 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 AHVG grundsätzlich jede Abtretung einer Invalidenrente nichtig ist. So konnten Rentennachzahlungen auf Gesuch hin privaten oder öffentlichen Fürsorgestellen ausbezahlt werden, welche entsprechende Vorschussleistungen erbracht haben. Solche Drittauszahlungen setzten nach der Praxis der Verwaltungsbehörden jedoch voraus, dass die Vorschussleistungen tatsächlich erbracht worden waren und der Leistungsberechtigte oder sein gesetzlicher Vertreter der Drittauszahlung schriftlich zugestimmt hatte (BGE 118 V 91 Erw. 1b).
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Diese Praxis hat das Eidgenössische Versicherungsgericht wiederholt unbeanstandet gelassen (BGE 118 V 91 Erw. 1b mit Hinweisen). Angesichts des ihr zukommenden Ausnahmecharakters hat es in BGE 118 V 88 indessen erkannt, dass an die Einwilligung des Versicherten zur Drittauszahlung strenge Anforderungen zu stellen sind. Sie dürfe nur Rechtswirksamkeit entfalten, wenn die Tragweite der Zustimmungserklärung klar ersichtlich ist. Der bereits ![]() | 5 |
d) Als Antwort auf die Feststellung in BGE 118 V 88, wonach für eine allein auf die zum Voraus erteilte Einwilligung der leistungsberechtigten Person abstellende Drittauszahlung keine eindeutige gesetzliche Grundlage besteht, hat der Verordnungsgeber Art. 85bis IVV mit dem Randtitel "Nachzahlungen an bevorschussende Dritte" erlassen, welcher am 1. Januar 1994 in Kraft getreten ist (vgl. BGE 123 V 29 Erw. 3b). Ihre ausdrückliche gesetzliche Grundlage erhalten hat diese Verordnungsbestimmung indessen erst mit der Ergänzung des Art. 50 IVG durch den im Rahmen der 10. AHV-Revision per 1. Januar 1997 neu hinzugefügten Abs. 2, gemäss welchem Nachzahlungen von Leistungen in Abweichung von Art. 20 Abs. 1 AHVG an Drittpersonen oder Drittstellen ausgerichtet werden können, welche im Hinblick auf die Leistungen der Invalidenversicherung Vorschussleistungen erbracht haben (Erw. 2a hievor; vgl. MEYER-BLASER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], in: MURER/STAUFFER [Hrsg.], Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Zürich 1997, S. 289 f.).
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e) Nach Abs. 1 von Art. 85bis IVV (in der seit 1. Januar 1999 geltenden, redaktionell bereinigten Fassung) können Arbeitgeber, Einrichtungen der beruflichen Vorsorge, Krankenversicherungen, öffentliche und private Fürsorgestellen oder Haftpflichtversicherungen mit Sitz in der Schweiz, welche im Hinblick auf eine Rente der Invalidenversicherung Vorschussleistungen erbracht haben, verlangen, dass die Nachzahlung dieser Rente bis zur Höhe ihrer Vorschussleistung verrechnet und an sie ausbezahlt wird (Satz 1); vorbehalten bleibt die Verrechnung nach Art. 20 AHVG (Satz 2); die bevorschussenden Stellen haben ihren Anspruch mit besonderem ![]() | 7 |
Laut Abs. 2 von Art. 85bis IVV gelten als Vorschussleistungen einerseits freiwillige Leistungen, sofern die versicherte Person zu deren Rückerstattung verpflichtet ist und sie der Auszahlung der Rentennachzahlung an die bevorschussende Stelle schriftlich zugestimmt hat (lit. a), und andererseits vertraglich oder auf Grund eines Gesetzes erbrachte Leistungen, soweit aus dem Vertrag oder dem Gesetz ein eindeutiges Rückforderungsrecht infolge der Rentennachzahlung abgeleitet werden kann (lit. b).
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In Abs. 3 schliesslich sieht Art. 85bis IVV vor, dass die Nachzahlung der bevorschussenden Stelle höchstens im Betrag der Vorschussleistung und für den Zeitraum, in welchem diese erbracht worden ist, ausbezahlt werden darf.
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a) Der Verordnungstext in Art. 85bis IVV spricht in allen drei Amtssprachen an sich klar für eine Regelung, die ausschliesslich für die Drittauszahlung nachträglich zugesprochener Renten gilt. Nach dem Wortlaut von Abs. 1 der Bestimmung können mit Vorschussleistungen, welche im Hinblick auf eine Rente der Invalidenversicherung erbracht wurden, Nachzahlungen dieser Rente bis zur Höhe der Vorschussleistung verrechnet und an die bevorschussende Drittstelle ausbezahlt werden (Satz 1). In der französischsprachigen Version ist davon die Rede, dass Institutionen, "qui, en vue de l'octroi d'une rente de l'assurance-invalidité, ont fait une avance, peuvent exiger qu'on leur verse l'arriéré de cette rente en compensation de leur avance et jusqu'à concurrence de celle-ci". Die italienischsprachige Fassung sieht vor, dass Drittstellen, "che, in vista della concessione di una rendita dell'assicurazione invalidità, hanno effettuato anticipi, possono esigere che si versi loro l'arretrato di questa rendita come compensazione e fino a concorrenza dei loro anticipi".
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aa) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 127 IV 194 Erw. 5b/aa, BGE 127 V 5 Erw. 4a, 92 Erw. 1d, 198 Erw. 2c, je mit Hinweisen).
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Eine historisch orientierte Auslegung ist für sich allein nicht entscheidend. Anderseits vermag aber nur sie die Regelungsabsicht des Gesetzgebers aufzuzeigen, welche wiederum zusammen mit den zu ihrer Verfolgung getroffenen Wertentscheidungen verbindliche Richtschnur des Richters und der Richterin bleibt, auch wenn sie das Gesetz mittels teleologischer Auslegung oder Rechtsfortbildung veränderten Umständen anpassen oder es ergänzen (BGE 125 V 356 Erw. 1b, BGE 123 V 301 Erw. 6a mit Hinweisen).
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bb) Aus gesetzessystematischer Sicht spricht für einen sich über den Wortlaut hinaus auch auf andere Leistungen als Rentennachzahlungen erstreckenden Anwendungsbereich des Art. 85bis IVV die Tatsache, dass die unter dem Titel "D. Die Ausrichtung der Leistungen" nachträglich eingefügte Norm nicht etwa dessen Untertitel "III. Renten und Hilflosenentschädigungen" zugeordnet, sondern unter "IV. Gemeinsame Bestimmungen" eingereiht wurde. Bedeutsam erscheint auch, dass die unter derselben Ziffer IV enthaltenen, dem Art. 85bis unmittelbar vorangehenden Verweisungen in den Art. 84 und 85 Abs. 1 IVV die Art. 76 resp. 77 AHVV ausdrücklich auch für Taggelder - und nicht nur für die dort erwähnten Renten - als sinngemäss anwendbar erklären. Dies deutet darauf hin, dass Art. 85bis IVV ebenfalls nicht nur für Fälle von Rentennachzahlungen, sondern von rückwirkend ausgerichteten ![]() | 15 |
Andererseits könnte allerdings gerade die unterbliebene Nennung anderer Leistungsarten in dem die Art. 84 und 85 unmittelbar folgenden Art. 85bis IVV auch als Indiz dafür gesehen werden, dass der Verordnungsgeber bewusst darauf verzichten wollte, die Nachzahlung von Taggeldern und allenfalls weiteren Geldleistungen der Invalidenversicherung in die für Renten geltende normative Regelung der Drittauszahlung an bevorschussende Stellen mit einzubeziehen. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Art. 85bis IVV lässt diese Interpretationsmöglichkeit jedoch in den Hintergrund treten.
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cc) Wie erwähnt, hat die Verwaltungspraxis Drittauszahlungen über Jahre hinweg auch zugelassen, wenn die Bedingungen des - nach Art. 84 IVV im Invalidenversicherungsbereich sinngemäss anwendbaren - Art. 76 AHVV über die Gewährleistung zweckmässiger Rentenverwendung nicht erfüllt waren (Erw. 2c). Die mit BGE 118 V 88 erfolgte Einschränkung dieser Praxis - dahingehend, dass eine bereits im Zeitpunkt der Anmeldung zum Rentenbezug erfolgte Zustimmung als Grundlage für die Anordnung einer Drittauszahlung nicht mehr genügte (vgl. Erw. 2c hievor) - hatte zur Folge, dass Sozialhilfestellen oftmals der Möglichkeit verlustig gingen, Leistungen, welche sie für die gleiche Zeit erbracht hatten, für die später seitens der Invalidenversicherung auch die Rentenberechtigung anerkannt wurde, erhältlich
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zu machen. Umgekehrt konnten die betroffenen Versicherten für die nämliche Periode über die Leistungen sowohl der Invalidenversicherung als auch der Einrichtungen der Sozialhilfe verfügen. In dieser unbefriedigenden Situation zeichnete sich für den Gesetz- wie auch den Verordnungsgeber dringender Handlungsbedarf ab. Es galt, durch die Zulassung der Drittauszahlung von nachzuzahlenden Invalidenrenten einen Vermögensvorteil auszugleichen, welchen die Versicherten ansonsten zufolge des Bezugs von für die nämliche Zeit bereits vorschussweise ausgerichteten Fürsorgegeldern hätten erlangen können. Mit dem Anliegen eines sparsamen, gegenseitig abgestimmten und insofern haushälterischen Umgangs mit Steuergeldern ![]() | 18 |
Obschon nicht mit den Bestrebungen der 10. AHV-Revision in Zusammenhang stehend, wurde anlässlich der Beratung dieser Revision im Nationalrat vom 11. März 1993 die Ergänzung des Gesetzes durch den heutigen Art. 50 Abs. 2 IVG vorgeschlagen, welcher den Bundesrat ermächtigt, das Verfahren sowie die Voraussetzungen der Drittauszahlung zwecks Verrechnung mit im Hinblick auf die Leistungen der Invalidenversicherung erbrachten Vorschussleistungen zu regeln, und damit die gesetzliche Grundlage für Art. 85bis IVV bildet (Amtl.Bull. 1993 N 294). Begründet wurde dieses Vorgehen damit, dass das in BGE 118 V 88 publizierte Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts in vielen Fällen zu erheblichen Verlusten der Gemeinden oder der privaten Institutionen geführt habe, welche während der Dauer der Abklärungen der Invalidenversicherung den Lebensunterhalt der Rentenberechtigten bevorschusst hatten und sich dann mit der Tatsache konfrontiert sahen, dass die von ihnen bevorschussten Leistungen nur schwer oder kaum mehr zurückzuerhalten waren; Kantone und Gemeinden hätten sich deshalb an den Bund gewandt und ihn ersucht, diese auf Grund des Gerichtsurteils entstandene unbefriedigende Situation zu korrigieren; über die Schaffung eines neuen Absatzes von Art. 50 IVG solle eine Kompetenzdelegation an den Bundesrat erfolgen; der Bundesrat solle das Verfahren und die Voraussetzungen für die Auszahlung an Drittpersonen regeln können. Betont wurde, dass es sich dabei "selbstverständlich nur um Nachzahlungen und nicht um laufende Renten" handelt; erfasst würden "ausdrücklich Nachzahlungen von Leistungen, die im Hinblick auf eine Leistung der Invalidenversicherung - seien es Renten, Taggelder, Ergänzungsleistungen oder Hilflosenentschädigungen - als Vorschussleistungen erbracht worden sind" (Amtl.Bull. 1993 N 294; Votum Heberlein).
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Diese Ausführungen des Antrag stellenden Nationalratsmitglieds zur vorgeschlagenen und schliesslich ohne wesentliche Diskussion angenommenen Ergänzung des IVG (Amtl.Bull. 1993 N 294 sowie 1994 S 608) lassen erkennen, dass nach Auffassung des Gesetzgebers bei Rentennachzahlungen einerseits sowie bei rückwirkend ausgerichteten Taggeldern oder andern Geldleistungen andererseits ![]() | 20 |
dd) Schliesslich sprechen auch Sinn und Zweck der neu eingefügten Verordnungsbestimmung von Art. 85bis IVV dafür, dass neben Renten auch andere Geldleistungen, namentlich nachträglich zugesprochene Taggelder, einer auf Art. 85bis IVV gestützten Auszahlung an bevorschussende Dritte zugänglich sein sollen. Ein plausibler Grund dafür, andere Leistungen als Invalidenrenten von dieser Drittauszahlungsmöglichkeit auszunehmen, ist nicht ersichtlich (vgl. AHI 1993 S. 50 und 210 f.).
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