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26. Urteil i.S. A. gegen Winterthur-Versicherungen und Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau |
U 412/99 vom 19. Dezember 2002 | |
Regeste |
Art. 6 Abs. 1 UVG; Art. 9 Abs. 1 UVV: Adäquanzbeurteilung bei psychischer Schädigung nach Schreckereignis. |
Der adäquate Kausalzusammenhang beurteilt sich bei Schreckereignissen ohne körperliche Verletzung der versicherten Person nach der allgemeinen Adäquanzformel (gewöhnlicher Lauf der Dinge und allgemeine Lebenserfahrung). | |
Sachverhalt | |
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Die Winterthur-Versicherungen anerkannte dieses Ereignis als Unfall. Sie erbrachte A., welche am 10. Juni 1992 ihren Hausarzt, Dr. med. F., FMH Allgemeine Medizin, aufsuchte, Krankenpflege- und -taggeldleistungen. Da das mit Schlaflosigkeit, Angstgefühlen, panikartigen Stimmungszuständen und Isolationstendenzen geprägte psychopathologische Bild andauerte, überwies der Hausarzt sie am 6. September 1992 der Psychiaterin Dr. med. S., welche A. seither behandelte. Ein entsprechender Verlaufsbericht vom 25. September 1993, welcher im Ganzen keine namhafte Besserung auswies, veranlasste die Winterthur-Versicherungen, bei Dr. med. P., Spezialärztin FMH Psychiatrie und Psychotherapie, ein Administrativgutachten vom 9. Juni 1994 einzuholen (mitsamt Ergänzungen vom 29. November 1995 und 29. September 1997). Danach liegt eine andauernde Persönlichkeitsveränderung (ICD-10 F62.0) nach chronischer posttraumatischer Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) vor. Nachdem Dr. med. C., Psychiatrie und Psychotherapie FMH, beratender Psychiater der Winterthur-Versicherungen, zunächst ein Aktengutachten durch Prof. Dr. med. K. vorgeschlagen hatte, was dieser jedoch ablehnte, wies die Winterthur-Versicherungen mit Verfügung vom 24. Juni 1998 Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung ab.
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Die von A. und ihrem Krankenversicherer, der Eidgenössischen Gesundheitskasse, eingereichten Einsprachen lehnte die Winterthur-Versicherungen mit Entscheiden vom 5. und 6. November 1998 ab, indem sie die Leistungen mangels adäquater Kausalität auf den 30. Juni 1998 einstellte.
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C.- A. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung von kantonalem Gerichts- und Einspracheentscheid sei die Winterthur-Versicherungen zu verpflichten, ihr die gesetzlichen Versicherungsleistungen für den Unfall vom 3. Juni 1992 zu erbringen. Ferner ersucht sie um unentgeltliche Verbeiständung.
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Die Winterthur-Versicherungen schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das kantonale Gericht, die Eidgenössische Gesundheitskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.
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D.- Am 19. Dezember 2002 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine parteiöffentliche Beratung durchgeführt.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
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Erwägung 2 | |
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Rechtsprechung und Lehre haben schreckbedingte plötzliche Einflüsse auf die Psyche seit jeher als Einwirkung auf den menschlichen Körper (im Sinne des geltenden Unfallbegriffes) anerkannt und für ihre unfallversicherungsrechtliche Behandlung besondere Regeln entwickelt. Danach setzt die Annahme eines Unfalles voraus, dass es sich um ein aussergewöhnliches Schreckereignis, verbunden mit einem entsprechenden psychischen Schock, handelt; die seelische Einwirkung muss durch einen gewaltsamen, in der unmittelbaren Gegenwart des Versicherten sich abspielenden Vorfall ausgelöst werden und in ihrer überraschenden Heftigkeit geeignet sein, auch bei einem gesunden Menschen durch Störung des seelischen Gleichgewichts typische Angst- und Schreckwirkungen (wie Lähmungen, Herzschlag etc.) hervorzurufen (EVGE 1939 S. 116 ![]() | 10 |
2.2 Die Verfahrensbeteiligten sind stillschweigend davon ausgegangen, dass es sich beim Raubüberfall vom 3. Juni 1992 um ein aussergewöhnliches Schreckereignis im Sinne der Rechtsprechung und damit um einen Unfall im Sinne von Art. 9 Abs. 1 UVV handelt. Der hier zu beurteilende Vorfall zeichnet sich dadurch aus, dass weder die Beschwerdeführerin noch Drittpersonen Verletzungen des Körpers erlitten haben. Unter diesen Umständen bereitet die Frage Schwierigkeiten, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Unfall anzunehmen ist, wenn das Ereignis den Körper überhaupt nicht oder doch nur unwesentlich verletzt, hingegen derart wirkt, dass es eine psychische Störung verursacht. MAURER (a.a.O., S. 184) mahnt unter Hinweis auf PAUL PICCARD, Der Unfall, (in: GELPKE/SCHLATTER, Unfallkunde für Ärzte und Juristen, 2. Aufl., Bern 1930, S. 23 ff.) zur Zurückhaltung und spricht psychischen Affektionen, die weder die Folge einer plötzlichen schweren Körperschädigung noch auch umgekehrt die unmittelbare Ursache einer solchen sind, die Eigenschaft eines Unfalles im Rechtssinne ab. Ob bei Ereignissen, bei denen weder die versicherte Person noch Drittpersonen verletzt oder getötet werden, namentlich bei deliktischen Handlungen wie Raub, Drohung, Erpressung etc. die bisherige Rechtsprechung zum Begriff ![]() | 11 |
Erwägung 3 | |
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Ob zwischen einem schädigenden Ereignis und einer gesundheitlichen Störung ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, ist eine Tatfrage, worüber die Verwaltung bzw. im Beschwerdefall das Gericht im Rahmen der ihm obliegenden Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Die blosse Möglichkeit eines Zusammenhangs genügt für die Begründung eines Leistungsanspruches nicht (BGE 119 V 338 Erw. 1, BGE 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen).
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3.3 Lehre und Rechtsprechung lassen den sozialen Unfallversicherer für Schäden nur dann einstehen, wenn diese sowohl in einem natürlichen wie auch in einem adäquaten Kausalzusammenhang mit ![]() | 15 |
Ob psychische Störungen mit einem Unfall oder einer Berufskrankheit in einem adäquaten Kausalzusammenhang stehen, hängt ![]() | 16 |
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Zu prüfen ist daher zunächst, nach welchen Kriterien der adäquate Kausalzusammenhang zu beurteilen ist. Neben der allgemeinen Adäquanzformel (vgl. Erw. 3.2 hievor) hat das Eidgenössische Versicherungsgericht besondere Regeln für die Beurteilung der Adäquanz psychischer Fehlentwicklungen nach einem Unfall entwickelt. Danach setzt die Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs grundsätzlich voraus, dass dem Unfallereignis für die Entstehung einer psychisch bedingten Erwerbsunfähigkeit eine massgebende Bedeutung zukommt. Dies trifft dann zu, wenn es objektiv eine gewisse Schwere aufweist oder mit anderen Worten ernsthaft ins Gewicht fällt (BGE 115 V 141 Erw. 7). Für die Beurteilung dieser Frage ist gemäss BGE 115 V 138 Erw. 6 an das Unfallereignis anzuknüpfen, wobei - ausgehend vom augenfälligen Geschehensablauf - eine Katalogisierung der Unfälle in leichte (banale), im mittleren Bereich liegende und schwere Unfälle vorzunehmen ist. Bei leichten Unfällen kann der adäquate Kausalzusammenhang zwischen Unfall und psychischen Gesundheitsstörungen in der Regel ohne weiteres verneint (BGE 115 V 139 Erw. 6a), bei schweren Unfällen bejaht werden (BGE 115 V 139 Erw. 6b). Bei Unfällen aus dem mittleren Bereich lässt sich die Frage nicht auf Grund des Unfalls allein beantworten. Weitere, objektiv erfassbare Umstände, welche unmittelbar mit dem Unfall im Zusammenhang stehen oder als direkte bzw. indirekte Folgen davon erscheinen, sind in eine ![]() | 19 |
- besonders dramatische Begleitumstände oder besondere
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Eindrücklichkeit des Unfalls;
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- die Schwere oder besondere Art der erlittenen (somatischen)
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Verletzungen, insbesondere ihre erfahrungsgemässe Eignung, psychische
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Fehlentwicklungen auszulösen;
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- ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung;
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- (körperliche) Dauerschmerzen;
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- ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich
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verschlimmert;
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- schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen;
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- Grad und Dauer der (physisch) bedingten Arbeitsunfähigkeit.
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Zwar könnten die Schreckereignisse ebenfalls unterteilt werden. Zu beachten ist jedoch, dass bei den üblichen Unfällen mit psychischer Problematik zusätzlich ein somatisches Geschehen vorliegt, eine Körperverletzung, die nach den massgebenden Kriterienraster in zahlreichen Fällen entscheidend ist (somatisch bedingte Arbeitsunfähigkeit, körperliche Dauerschmerzen etc.). Bei Schreckereignissen liegt demgegenüber bei der versicherten Person kein somatisches Geschehen vor, sondern eine psychische Stresssituation, allenfalls verbunden mit einer Lebensbedrohung. Die Adäquanzkriterien gemäss BGE 115 V 133 eignen sich zudem wegen fehlender sachlicher Übereinstimmung und von der Natur des Ereignisses her ebenfalls nicht. Das Gleiche gilt für die analoge ![]() | 32 |
4.3 Beurteilt nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung, ist festzustellen, dass der Raubüberfall vom 3. Juni 1992 - unter Berücksichtigung der weiten Bandbreite der Versicherten - nicht geeignet war, eine psychische Störung mit vollständiger Erwerbsunfähigkeit herbeizuführen. Beim Raubüberfall wurde die Beschwerdeführerin zwar mit einer Faustfeuerwaffe bedroht. Es kam jedoch weder zu Handgreiflichkeiten noch fiel ein Schuss. Im Anschluss an die Geldübergabe entfernte sich der Täter. Ein solches Ereignis ist nicht geeignet, beim 50-jährigen Opfer einen dauernden, erheblichen psychischen Schaden mit anhaltender Erwerbsunfähigkeit zu verursachen. Die übliche und einigermassen typische Reaktion auf einen solchen Überfall dürfte erfahrungsgemäss darin bestehen, dass zwar eine Traumatisierung stattfindet, diese aber vom Opfer in aller Regel innert einiger Wochen oder Monate überwunden wird, wie dies der Psychiater Dr. med. C. im Bericht vom 16. September 1998 einleuchtend beschreibt. Die psychische Störung und die lang andauernde Erwerbsunfähigkeit können daher nicht mehr in einem weiten Sinne als angemessene und einigermassen typische Reaktion auf das Schreckereignis bezeichnet werden (BGE 115 V 141 Erw. 7 mit Hinweis auf KARL OFTINGER, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 4. Aufl., Zürich 1975, S. 75). Im Ergebnis gleich hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in Anwendung der in BGE 115 V 133 publizierten Adäquanzkriterien in einem Fall entschieden, in dem eine Versicherte auf der Strasse von einem Unbekannten angegriffen, zu Boden gedrückt und mit Tötungsabsicht gewürgt wurde (RKUV 1996 Nr. U 256 S. 215). Fehlt es somit am adäquaten Kausalzusammenhang, hat die Beschwerdegegnerin ihre Leistungen zu Recht auf den 30. Juni 1998 eingestellt. Nicht zu prüfen ist, ob eine fehlerhafte ärztliche Behandlung ![]() | 33 |
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