BGE 129 V 381 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
58. Auszug aus dem Urteil i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Winterthur Pensionskasse für das Personal betreffend R., und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich |
B 86/02 vom 23. Mai 2003 | |
Regeste |
Art. 1 Abs. 2, Art. 2 Abs. 1 FZG: Verhältnis zwischen Altersleistungen und Austrittsleistung. | |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
Erwägung 3.1 | |
1 | |
In Ziff. 13.2 der "Weiteren Bestimmungen" der beschwerdegegnerischen Vorsorgeeinrichtung wird ausgeführt, dass der Anspruch auf eine Austrittsleistung entfällt, wenn der Versicherte das 60. Altersjahr erreicht hat und er sich deshalb laut diesem Reglement vorzeitig pensionieren lassen kann; es besteht - nach unmissverständlicher, klarer und daher für den Versicherten verbindlicher (SZS 1999 S. 376 ff. Erw. 3a und b mit Hinweisen) reglementarischer Aussage - in jedem Fall nur Anspruch auf die Leistungen bei Pensionierung.
| 2 |
Erwägung 4 | |
4.1 Nach der vor Inkrafttreten des FZG ergangenen Rechtsprechung (BGE 120 V 306) ist bei denjenigen Vorsorgeeinrichtungen, welche die Möglichkeit einer vorzeitigen Pensionierung vorsehen, unter Eintritt des Versicherungsfalls Alter nicht das Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze nach Art. 13 Abs. 1 BVG, sondern das Erreichen der reglementarischen Altersgrenze für eine vorzeitige Pensionierung zu verstehen. Dementsprechend kann die im Verhältnis zu den Altersleistungen subsidiäre Austrittsleistung nicht mehr beansprucht werden, wenn die Kündigung des Arbeitsvertrages in einem Alter erfolgt, in welchem bereits ein Anspruch auf Altersleistungen besteht - und sei es auch im Sinne einer vorzeitigen Pensionierung. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu einem Zeitpunkt, in welchem die reglementarischen Voraussetzungen für eine vorzeitige Pensionierung erfüllt sind, führt demnach zur Entstehung des Anspruches auf die im Reglement vorgesehenen Altersleistungen, dies ungeachtet der Absicht des Versicherten, anderweitig erwerbstätig zu sein. Trotz der in der Literatur geäusserten Kritik (THOMAS KOLLER, Vorzeitige Pensionierung und Anspruch auf Freizügigkeitsleistung: Bemerkungen zu einem eigenartigen Spannungsverhältnis, in: AJP 1995 S. 497 ff., insbes. S. 499 f.; vgl. auch ROLAND A. MÜLLER, Die vorzeitige Pensionierung - Möglichkeiten und Grenzen im Lichte verschiedener Sozialversicherungszweige, in: SZS 1997 S. 348; ERIKA SCHNYDER, La retraite anticipée dans le deuxième pilier, in: SPV 1996 S. 98 Fn. 4) hielt das Gericht an dieser Rechtsprechung fest (SZS 1998 S. 126; nicht veröffentlichtes Urteil G. vom 31. Dezember 1996, B 18/94).
| 3 |
4 | |
Da nach den reglementarischen Bestimmungen der Beschwerdegegnerin die Ausrichtung einer vorzeitigen Altersrente nicht allein von einer Willenserklärung des Versicherten abhängig ist, sondern diese sowohl vom Versicherten als auch von der Gesellschaft verlangt werden kann (Ziff. 3.1 Vorsorgeplan) und somit eine vorzeitige Pensionierung selbst gegen den Willen des Versicherten möglich ist (vgl. dazu auch Ziff. 13.2 "Weitere Bestimmungen"), ist die Frage, ob an BGE 120 V 306 unter dem Geltungsbereich des FZG festgehalten werden kann, nunmehr zu entscheiden.
| 5 |
6 | |
Die Pensionskasse für das Personal der Winterthur Gesellschaften macht geltend, dass die zu beurteilende Reglementsbestimmung im Einklang mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stehe, derzufolge insbesondere nicht entscheidend sei, ob sich die versicherte Person tatsächlich in den Ruhestand begebe oder weiterarbeite. Etwas anderes lasse sich auch der jüngsten Rechtsprechung gemäss Urteil S. vom 24. Juni 2002, B 38/00, nicht entnehmen. Selbst wenn das Gericht zum Schluss kommen sollte, dass dieses Urteil zu einer Praxisänderung betreffend den Eintritt des Versicherungsfalles führte, habe sie im Lichte der bisherigen Rechtsprechung sowie mit Blick auf das Kreisschreiben Nr. 22 der Eidgenössischen Steuerverwaltung vom 4. Mai 1995 gutgläubig auf die Gesetzeskonformität ihres Reglementes vertrauen und im Schreiben vom 24. Mai 1996 den Anspruch auf eine Altersrente bestätigen dürfen.
| 7 |
Der zum Verfahren beigeladene R. schloss sich in seiner ersten Stellungnahme den Überlegungen des BSV an und legte in einer weiteren Eingabe im Wesentlichen dar, inwiefern ihm aus dem Verhalten der Beschwerdegegnerin ein Schaden entstanden sei.
| 8 |
4.4 Nach dem in allen drei sprachlichen Fassungen übereinstimmenden Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 FZG haben Versicherte, welche die Vorsorgeeinrichtung verlassen, bevor ein Vorsorgefall eintritt (Freizügigkeitsfall) (französisch: "avant la survenance d'un cas de prévoyance [cas de libre passage]"; italienisch: "prima che insorga un caso di previdenza [caso di libero passaggio]"), Anspruch auf eine Austrittsleistung. Dass unter dem Eintritt des Vorsorgefalles (nebst Invalidität und Tod, welche hier nicht weiter interessieren) das Erreichen der Altersgrenze nach den reglementarischen Bestimmungen der Vorsorgeeinrichtung zu verstehen ist, ergibt sich aus Art. 1 Abs. 2 FZG, wonach das Gesetz anwendbar ist "auf alle Vorsorgeverhältnisse, in denen eine Vorsorgeeinrichtung [...] aufgrund ihrer Vorschriften (Reglement) bei Erreichen der Altersgrenze, bei Tod oder Invalidität (Vorsorgefall) einen Anspruch auf Leistungen gewährt" (französisch: "où une institution de prévoyance [...] accorde, sur la base de ses prescriptions [règlement], un droit à des prestations lors de l'atteinte de la limite d'âge [...] [cas de prévoyance]"; italienisch: "un istituto di previdenza [...] accorda, sulla base delle sue prescrizioni [regolamento], un diritto alle prestazioni al raggiungimento del limite d'età [...] [caso di previdenza]"). Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 FZG) besteht demnach nur Anspruch auf eine Austrittsleistung, wenn ein Versicherter die Vorsorgeeinrichtung verlässt, bevor er das reglementarische Rentenalter erreicht hat. Von diesem klaren Wortlaut darf indessen ausnahmsweise abgewichen werden, wenn triftige Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe, welche entstehungsgeschichtlicher, teleologischer oder systematischer Natur sein können (vgl. BGE 128 V 24 Erw. 3a, BGE 127 V 5 Erw. 4a, 92 Erw. 1d, 198 Erw. 2c, je mit Hinweisen), liegen nicht vor. Namentlich lassen sich der bundesrätlichen Botschaft zu einem Bundesgesetz über die Freizügigkeit in der beruflichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 26. Februar 1992 (BBl 1992 III 533ff., insbes. S. 570 ff.) keine entsprechenden Ausführungen entnehmen. Soweit sich das BSV auf den allgemeinen Sinn und Zweck des Gesetzes stützt, dem Versicherten zu ermöglichen, bei einem Stellenwechsel den Vorsorgeschutz, den er bei der alten Vorsorgeeinrichtung aufgebaut hat, aufrechtzuerhalten (BBl 1992 III 570), ist dieser zu unbestimmt, um ein Abweichen vom klaren Wortlaut des Gesetzes zu rechtfertigen.
| 9 |
4.5 Was schliesslich die weiter zu prüfenden Voraussetzungen für eine Gesetzeskorrektur mittels Lückenfüllung anbelangt, ist vom Grundsatz auszugehen, dass der Richter rechtspolitische Mängel oder unechte Lücken des geltenden Rechts im Allgemeinen hinzunehmen hat und ihm nur zusteht, sie regelbildend zu schliessen, wo der Gesetzgeber sich offenkundig über gewisse Tatsachen geirrt hat oder wo sich die Verhältnisse seit Erlass des Gesetzes in einem Masse gewandelt haben, dass eine weitere Anwendung als rechtsmissbräuchlich erschiene (BGE 127 V 41 Erw. 4b/cc, BGE 125 V 12 Erw. 3, BGE 124 V 164 Erw. 4c und 275 Erw. 2a, BGE 122 V 98 Erw. 5c und 329 Erw. 4 in fine, je mit Hinweisen; MEYER-BLASER, Die Bedeutung von Art. 4 Bundesverfassung für das Sozialversicherungsrecht, in: ZSR NF 111 [1992] II S. 342 f.). Von solch extremen Fällen krass ungerechter Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung abgesehen, gibt es für den Richter keine Möglichkeit, unbefriedigendes Recht zu berichtigen (vgl. auch GYGI, Vom Anfang und Ende der Rechtsfindung, in: recht 1983 S. 80 f.).
| 10 |
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass der Fall des vorliegend betroffenen Versicherten insofern speziell liegt, als er von Zufälligkeitsmomenten geprägt ist. Diese bestehen darin, dass die Vorsorgeeinrichtung der neuen Arbeitgeberin eine aus einer Fusion hervorgegangene Kasse ist, der es wegen der Fusion möglich war, in einem bestimmten Zeitpunkt ihre aktiven Mitglieder nach Massgabe der je individuell angesammelten Kapitalien an freien Stiftungsmitteln zu beteiligen. Ein Vergleich der beiden Leistungsstatus, nur unter Berücksichtigung der nicht mitgegebenen Austrittsleistung, zeigt, dass der weitaus grösste Teil der finanziellen Einbusse, die der Versicherte erfährt, aus diesem spezifischen, zufälligen Umstand herrührt, der bei einer neuen Vorsorgeeinrichtung normalerweise nicht gegeben ist.
| 11 |
Zu berücksichtigen ist sodann, dass ein Festhalten an der Praxis gemäss BGE 120 V 306 unter dem Geltungsbereich des FZG sich auch zum Vorteil der Züger auswirken kann. Dies ist der Fall, wenn ein Versicherter mit der Austrittsleistung der vormaligen Vorsorgeeinrichtung sich zwar nach Massgabe der Art. 9, 10, 12 und 13 FZG eine Eintrittsleistung bei der neuen Vorsorgeeinrichtung finanzieren kann, deren darauf künftig festzusetzende reglementarischen Leistungen im Altersrentenfall aber tiefer sind als jene der vormaligen Vorsorgeeinrichtung.
| 12 |
Diese Gesichtspunkte in Verbindung mit der Komplexität des Regelungsgegenstandes verbieten ein richterliches Eingreifen. Da, je nach Ausgangslage, verschiedene Möglichkeiten gesetzlicher Gestaltung in Betracht fallen, beschränkt sich das Gericht auf den Hinweis an den Gesetzgeber, dass die geltende Ordnung nicht für alle Fälle zu befriedigenden Ergebnissen führt (vgl. in diesem Sinne zur richterlichen Zurückhaltung: BGE 117 V 318 ff. Erw. 6a und b).
| 13 |
4.6 Demnach muss es bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass an der Rechtsprechung gemäss BGE 120 V 306 auch unter dem Geltungsbereich des FZG festzuhalten ist (für den Fall, dass das Vorsorgereglement die vorzeitige Pensionierung von einer entsprechenden Willenserklärung des Versicherten abhängig macht: in Erw. 4.2 hievor erwähntes Urteil S. vom 24. Juni 2002, B 38/00). Von einer Gesetzwidrigkeit der mit dieser Praxis im Einklang stehenden reglementarischen Bestimmungen der Beschwerdegegnerin kann unter diesen Umständen nicht die Rede sein. Dass die Pensionskasse für das Personal der Winterthur Gesellschaften dem Versicherten nach dessen Ausscheiden eine Altersrente ausgerichtet und nicht eine Austrittsleistung an die neue Vorsorgeeinrichtung überwiesen hat, ist bei dieser Sachlage nicht zu beanstanden.
| 14 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |