BGE 130 V 352 | |||
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51. Auszug aus dem Urteil i.S. N. gegen IV-Stelle Bern und Verwaltungsgericht des Kantons Bern |
I 683/03 vom 12. März 2004 | |
Regeste |
Art. 4 und 28 Abs. 2 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung): Somatoforme Schmerzstörungen und Invaliditätsbegriff. | |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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Erwägung 2.2 | |
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2.2.3 Das Vorliegen eines fachärztlich ausgewiesenen psychischen Leidens mit Krankheitswert - worunter anhaltende somatoforme Schmerzstörungen grundsätzlich fallen - ist aus rechtlicher Sicht wohl Voraussetzung, nicht aber hinreichende Basis für die Annahme einer invalidisierenden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit (Urteil S. vom 17. Februar 2003 [I 667/01] Erw. 3; MEYER-BLASER, Der Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung in der Sozialversicherung, namentlich für den Einkommensvergleich in der Invaliditätsbemessung, in: SCHAFFHAUSER/SCHLAURI [Hrsg.], Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen 2003, S. 64 f. mit Anm. 93). Namentlich vermag nach der Rechtsprechung eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche in der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu bewirken (hierzu eingehend MEYER-BLASER, a.a.O., S. 76 ff., insb. S. 81 f.). Ein Abweichen von diesem Grundsatz fällt nur in jenen Fällen in Betracht, in denen die festgestellte somatoforme Schmerzstörung nach Einschätzung des Arztes eine derartige Schwere aufweist, dass der versicherten Person die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt bei objektiver Betrachtung - und unter Ausschluss von Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die auf aggravatorisches Verhalten zurückzuführen sind (vgl. AHI 2002 S. 150 Erw. 2b; Urteile A. vom 24. Mai 2002 [I 518/01] Erw. 3b/bb und R. vom 2. Dezember 2002 [I 53/02] Erw. 2.2; siehe auch MEYER-BLASER, a.a.O., S. 83, 87 f.) - sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder dies für die Gesellschaft gar untragbar ist (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine; hinsichtlich somatoformer Störungen siehe insb. Urteile R. vom 2. Dezember 2002 [I 53/02] Erw. 2.2, Y. vom 5. Juni 2001 [I 266/00] Erw. 1c, S. vom 2. März 2001 [I 650/99] Erw. 2c, B. vom 8. Februar 2001 [I 529/00] Erw. 3c und A. vom 19. Oktober 2000 [I 410/00] Erw. 2b).
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Die - nur in Ausnahmefällen anzunehmende - Unzumutbarkeit einer willentlichen Schmerzüberwindung und eines Wiedereinstiegs in den Arbeitsprozess setzt jedenfalls das Vorliegen einer mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer oder aber das Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser Intensität und Konstanz erfüllter Kriterien voraus. So sprechen unter Umständen (1) chronische körperliche Begleiterkrankungen und mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission, (2) ein ausgewiesener sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens, (3) ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn ["Flucht in die Krankheit"]; vgl. zum sekundären Krankheitsgewinn hinten Erw. 3.3.2) oder schliesslich (4) unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und/oder stationärer Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person für die ausnahmsweise Unüberwindlichkeit der somatoformen Schmerzstörung (vgl. AHI 2000 S. 152 f. Erw. 2c [=VSI 2000 S. 155 Erw. 2c]; siehe etwa auch Urteile S. vom 29. August 2001 [I 703/00] Erw. 4c, P. vom 30. April 2002 [I 382/01] Erw. 4a, G. vom 11. September 2002 [I 597/01] Erw. 2.3, A. vom 23. Januar 2003 [I 379/02] Erw. 1.3; zum Ganzen ausführlich MEYER-BLASER, a.a.O., S. 76 ff., insb. 80 ff.).
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2.2.5 Die ärztlichen Stellungnahmen zum psychischen Gesundheitszustand und zu dem aus medizinischer Sicht (objektiv) vorhandenen Leistungspotential bilden unabdingbare Grundlage für die Beurteilung der Rechtsfrage, ob und gegebenenfalls inwieweit einer versicherten Person unter Aufbringung allen guten Willens die Überwindung ihrer Schmerzen und die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft zumutbar ist. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in Verbindung mit Art. 19 VwVG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 113 und 132 OG; AHI 2001 S. 113 Erw. 3a) darf sich dabei die Verwaltung - und im Streitfall das Gericht - weder über die (den beweisrechtlichen Anforderungen genügenden; Erw. 2.1 hievor, in fine) medizinischen Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen noch sich die ärztlichen Einschätzungen und Schlussfolgerungen zur (Rest-) Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten sozialversicherungsrechtlichen Relevanz und Tragweite zu eigen machen. Letzteres gilt namentlich dann, wenn die begutachtende Fachperson allein aufgrund der Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit attestiert. Die rechtsanwendenden Behörden haben diesfalls mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob die ärztliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit auch invaliditätsfremde Gesichtspunkte (insbesondere psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren) mit berücksichtigt, welche vom sozialversicherungsrechtlichen Standpunkt aus unbeachtlich sind (vgl. BGE 127 V 299 Erw. 5a; AHI 2000 S. 153 Erw. 3), und ob die von den Ärzten anerkannte (Teil-)Arbeitsunfähigkeit auch im Lichte der für eine Unüberwindlichkeit der Schmerzsymptomatik massgebenden rechtlichen Kriterien (Erw. 2.2.3 und 2.2.4 hievor) standhält.
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Erwägung 3 | |
3.1 Abweichend vom Gutachten des Zentrums für Medizinische Begutachtung (ZMB) vom 23. April 2002, welches der Beschwerdeführerin aufgrund der diagnostizierten anhaltenden somatoformen Schmerzstörung sowie der rezividierenden depressiven Störung (gegenwärtig leichte Episode) bei histrionisch strukturierter Persönlichkeit eine Arbeitsunfähigkeit von 40 % attestiert, ging die Vorinstanz von einer - wie bisher - 100%igen Arbeitsfähigkeit für körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten aus; zur Begründung wurde ausgeführt, die soziokulturellen und psychosozialen Umstände träten bei der Versicherten derart stark in den Vordergrund, dass ein verselbstständigter (krankheitswertiger) psychischer Gesundheitsschaden mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit zu verneinen sei; namentlich liege auch keine andauernde Depression im fachmännischen Sinne vor. Da somit weder in somatischer noch psychischer Hinsicht ein medizinisches Substrat für die Schmerzsymptomatik ausgewiesen sei, falle ein Rentenanspruch ausser Betracht.
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Soweit in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht wird, die von den ZMB-Gutachtern bescheinigte Arbeitsunfähigkeit von 40 % lasse sich im Lichte der im Bericht des Psychiaters Dr. med. G. vom 19. März 2002 angenommenen "Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit" von 80 bis 100 % nicht halten, kann dem nicht beigepflichtet werden. Zum einen gründet die Einschätzung des Psychiaters auf der Annahme eines klassischen Fibromyalgie-Syndroms. Ein solches aber wurde von den Gutachtern des ZMB in der Folge nachvollziehbar und überzeugend ausgeschlossen; somatisch objektiviert werden könne einzig ein leichtes femoropatelläres Schmerzsyndrom. Zum andern begründet Dr. med. G. die nahezu vollständige Einschränkung des Leistungsvermögens allein mit dem Hinweis auf die bisher fehlgeschlagenen Versuche einer andauernden Symptomlinderung sowie die diesbezüglich ungünstige Prognose; damit aber liefert der Arzt keine hinreichende Beweisgrundlage für die Beurteilung der Frage, ob und inwiefern der Beschwerdeführerin die Ausübung einer Erwerbstätigkeit mit Blick auf die vorhandenen psychischen Ressourcen objektiv möglich und zumutbar wäre. Im Lichte der bescheidenen Befunde und der - im Übrigen nicht mit Eindeutigkeit gestellten - Diagnose leuchtet zumindest nicht ein, weshalb eine Schmerzüberwindung nahezu gänzlich ausserhalb des Bereichs des Zumutbaren liegen soll. Indem Dr. med. G. sich schliesslich ohne nähere Präzisierungen zur "Erwerbsfähigkeit" und damit zu den wirtschaftlichen Folgen des Gesundheitsschadens äussert (Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 28 Abs. 2 IVG), überschreitet er seinen Aufgabenbereich als Arzt (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen). Vor diesem Hintergrund ist nicht zu beanstanden, dass Vorinstanz und Verwaltung dem Bericht vom 19. März 2002 keinen ausschlaggebenden Beweiswert beigemessen haben.
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3.3.2 Der psychische Gesundheitsschaden der Beschwerdeführerin vermag nach den unter Erw. 2.2 hievor dargelegten Grundsätzen über die invalidisierende Wirkung somatoformer Schmerzstörungen nur unter besonderen Voraussetzungen die - ausnahmsweise - Annahme einer rechtserheblichen Arbeitsunfähigkeit zu begründen. Diese sind, wie die Vorinstanz im Ergebnis richtig erkannte, hier nicht erfüllt. So bewirken die körperlichen Begleiterkrankungen (Adipositas, arterielle Hypertension, Status nach abdominaler Hysterektomie, anamnestische Kolpitis und rezidivierende Zystitiden, Status nach Varizen-Operation links ca. 1992) bezüglich körperlich leichten bis mittelschweren Tätigkeiten aus ärztlicher Sicht weder Einschränkungen des funktionellen Leistungsvermögens, noch bestehen Anhaltspunkte dafür, dass sie eine ausgeprägte, die zumutbare Willensanstrengung (vgl. Erw. 2.2.3 hievor) negativ beeinflussende psychische Belastungssituation verursachen. Sodann geben die Angaben der Versicherten keine Indizien für einen schwerwiegenden, nahezu umfassenden sozialen Rückzug mit gleichsam apathischem Verharren in sozialer Isolierung. Ferner besteht im Lichte der Aktenlage kein Grund zur Annahme eines ausgeprägten, therapeutisch nicht mehr angehbaren primären Krankheitsgewinns; einen sekundären Krankheitsgewinn (z.B. vermehrte Zuwendung, Unterstützung, Entlastung von alltäglichen Verpflichtungen etc.) scheinen die Ärzte bei der durch eine histrionisch strukturierte Persönlichkeit geprägten Versicherten zwar nicht auszuschliessen, doch bliebe ein solcher rechtlich ohnehin grundsätzlich unbeachtlich (MEYER-BLASER, a.a.O., S. 86). Schliesslich wiegt der Umstand, dass die Behandlungsergebnisse trotz wiederholter, längerer Therapieversuche bei aktiver Mitwirkung und vorhandener Motivation der Versicherten insgesamt nicht wie erhofft ausfielen, in Würdigung der Gesamtsituation nicht derart schwer, dass dies allein die Unzumutbarkeit einer Schmerzüberwindung rechtfertigen lässt. Dies gilt umso mehr, als die Gutachter des ZMB ausdrücklich die Fortführung einer psychotherapeutischen Betreuung empfehlen und hievon zumindest längerfristig eine Verbesserung des Gesundheitszustands erwarten.
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Nach dem Gesagten sprechen aus rechtlicher Sicht keine hinreichenden Gründe dafür, dass die psychischen Ressourcen es der relativ jungen Versicherten nicht erlaubten, trotz ihrer Schmerzen eine leichte bis mittelschwere Tätigkeit - wie sie sie bereits bis anhin ausgeführt hat - weiterhin in vollem Umfange auszuüben. Die von den Ärzten wiederholt hervorgehobenen deutlichen psychosozialen Belastungsfaktoren und die gesamten Umstände des Krankheitsgeschehens genügen mithin für die rechtliche Anerkennung einer 40%igen Leistungseinbusse aus psychischen Gründen nicht, womit der vorinstanzliche Entscheid standhält.
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