BGE 130 V 459 | |||
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68. Urteil i.S. S. gegen SWICA Gesundheitsorganisation und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich |
K 102/03 vom 21. Juli 2004 | |
Regeste |
Art. 27, Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG; Art. 19a Abs. 1 lit. a, Art. 19a Abs. 2 Ziff. 22 KLV: Notwendigkeit der durch ein Geburtsgebrechen bedingten zahnärztlichen Behandlung. |
Wird trotz Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen für die Behandlung damit über Jahre oder gar Jahrzehnte zugewartet, ist die Notwendigkeit der zahnärztlichen Behandlung im Sinne der erwähnten Verordnungsbestimmung nicht mehr gegeben (Erw. 3). | |
Sachverhalt | |
A. Der 1947 geborene S. ist bei der SWICA Gesundheitsorganisation (nachfolgend SWICA) krankenversichert. Im Bericht vom 30. Oktober 2000 diagnostizierte Dr. med. dent. I., Zahnärztliche Klinik G., eine anlagebedingte Mikromaxillie und Progenie mit einem Winkel ANB von mindestens -3 Grad und qualifizierte das Leiden als Geburtsgebrechen Ziff. 210 des Anhangs zur Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV). Der Zahnarzt stellte bei der vorgenommenen totalprothetischen Versorgung eine Kauunfähigkeit fest und plante die Wiederherstellung der Stützzone des Unterkiefers mittels Implantaten, einer prothetischen Korrektur sowie einer kaufunktionellen akzeptablen zirkulären Abstützung. S. ersuchte die SWICA um Kostengutsprache für die von Dr. med. dent. I. veranschlagten Behandlungskosten in der Höhe von ca. Fr. 15'000.- zuzüglich allfälliger Kosten für den stationären Aufenthalt und für die Narkose.
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Mit Verfügung vom 23. Februar 2001 lehnte es die SWICA ab, aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung Leistungen für die geplante zahnärztliche Behandlung zu erbringen. Nach Einholung einer Stellungnahme zum Vorliegen des Geburtsgebrechens Nr. 210 GgV Anhang bei der Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin des Spitals Z. vom 17. Dezember 2001 sowie nach Rücksprache mit dem Ombudsmann der sozialen Krankenversicherung hielt die SWICA mit Einspracheentscheid vom 21. Januar 2002 an ihrem Standpunkt fest.
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B. Die Beschwerde, mit welcher S. die Feststellung des Vorliegens eines Geburtsgebrechens sowie die Verpflichtung der SWICA zur Übernahme der Kosten einer geeigneten Behandlung, eventualiter zur Übernahme eines Kostenanteils, subeventualiter die Rückweisung an die Krankenkasse zu weiteren Abklärungen beantragte, wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 23. Juni 2003 ab.
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C. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt S. sinngemäss die Vornahme weiterer medizinischer Abklärungen unter Einbezug des ersten für ihn angefertigten Gebisses und die Festsetzung des Umfangs der Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, eventualiter die Rückweisung an die Vorinstanz zu weiteren Abklärungen und neuer Beurteilung.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
Erwägung 1 | |
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2.3 Die Vorinstanz hielt fest, dass für die Abklärung der Geburtsgebrechen Ziff. 208-210 GgV Anhang angesichts deren Komplexität - wie dies der Ombudsmann unter Verweis auf das Kreisschreiben des Bundesamtes für Sozialversicherung über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung ausgeführt habe - ausschliesslich die kieferorthopädischen Abteilungen der zahnärztlichen Universitätsinstitute sowie die im Spezialistenregister eingetragenen Kieferorthopäden und -orthopädinnen der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft (SSO) zuständig seien. Auf die Bestätigung des Dr. med. dent. I. könne bereits aus diesem Grund nicht abgestellt werden. Eine Einholung ergänzender Abklärungen bei den obigen Stellen erübrige sich indessen, da in der Stellungnahme der Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin vom 17. Dezember 2001 in überzeugender und nachvollziehbarer Weise dargelegt worden sei, dass ohne ein früheres, zumindest vor Eingliederung der Vollprothese datiertes Fernröntgenbild eine schlüssige Beurteilung nicht möglich sei. Eine Aussage zum Vorliegen eines Geburtsgebrechens sei daher rein spekulativ. Auch der vom Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren nach Abschluss des Schriftenwechsels wiedergefundene erste Abdruck seines Gebisses vermag nach Auffassung der Vorinstanz angesichts der mangelnden Aussagekraft über die Kieferrelation keinen genügenden Beweis zu erbringen. Weder das Vorliegen noch das Nichtvorliegen eines Geburtsgebrechens gemäss Art. 19a Abs. 2 Ziff. 22 KLV könne zum heutigen Zeitpunkt mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit bewiesen werden, wobei sich die Beweislosigkeit zu Ungunsten des Versicherten auswirke.
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3. Im bisherigen Verfahren wurde im Wesentlichen die Frage des Vorliegens eines Geburtsgebrechens geprüft und dessen rechtsgenüglicher Nachweis verneint. Diesbezüglich kann auf die zutreffenden Ausführungen des kantonalen Gerichts verwiesen werden. Fraglich ist dabei höchstens, ob das nach Abschluss des vorinstanzlichen Schriftenwechsels aufgefundene Gebiss nachträglich in die Abklärungen über das Bestehen eines Geburtsgebrechens hätte einbezogen werden müssen. Darauf braucht jedoch nicht näher eingegangen zu werden, da im konkreten Fall angesichts der in Erw. 1.2 zitierten jüngsten Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts diese Frage nicht abschliessend beantwortet werden muss. Selbst wenn nämlich im heutigen Zeitpunkt noch mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden könnte, dass der Beschwerdeführer in seiner Kindheit und Jugendzeit am Geburtsgebrechen Prognathia inferior congenita gelitten hat, bestünde für die von Dr. med. dent. I. vorgeschlagene zahnärztliche Behandlung keine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Im Zeitpunkt der Diagnosestellung durch Dr. med. dent. I. war der Beschwerdeführer 53-jährig. Keinesfalls kann eine Behandlung in diesem Alter als "durch ein Geburtsgebrechen bedingte nach dem 20. Lebensjahr notwendige zahnärztliche Behandlung" im Sinne von Art. 19a Abs. 1 lit. a KLV bezeichnet werden. Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist es nämlich, zu ermöglichen, dass Behandlungen unter dem Gesichtspunkt der Wirksamkeit im aus medizinischer Sicht richtigen Zeitpunkt vorgenommen werden können. Wie den Materialien zu entnehmen ist, sollen Behandlungen von Geburtsgebrechen im Kiefer- und Gesichtsbereich grundsätzlich so geplant und durchgeführt werden, dass sie bis zur Vollendung des 20. Altersjahres und somit bis zum Ende der Leistungspflicht der Invalidenversicherung abgeschlossen werden können. In einem Teil der Fälle kollidiert aber diese Altersgrenze mit medizinischen Erfordernissen wie auch mit dem minimal vorausgesetzten Entwicklungsstand bezüglich Skelettwachstum und/oder Zahnentwicklung als Vorbedingung für gewisse Massnahmen. So können gerade bei der Prognathia inferior congenita die skelettal begründeten Kieferstellungsanomalien erst dann mit Aussicht auf bleibenden Erfolg korrigiert werden, wenn der pubertäre Wachstumsschub abgeschlossen ist (Stellungnahme der SSO vom 5. Juli 1996 und Protokoll der Eidgenössischen Fachkommission für allgemeine Leistungen der Krankenversicherung [ELK], Sitzung vom 29. August 1996). Sind diese Voraussetzungen einmal erfüllt, liegt dann aber von der medizinischen Indikation her der richtige Zeitpunkt für die Durchführung und für den Abschluss der zahnärztlichen oder kieferchirurgischen Behandlung eines Geburtsgebrechens vor. Wird damit über Jahre oder gar Jahrzehnte zugewartet, ist die Notwendigkeit der zahnärztlichen Behandlung im Sinne der erwähnten Verordnungsbestimmung nicht mehr gegeben und die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für eine durch ein Geburtsgebrechen bedingte zahnärztliche Behandlung zu verneinen.
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