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61. Urteil i.S. Regionales Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) Rapperswil, vertreten durch das Amt für Arbeit, St. Gallen, gegen F. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen |
C 192/04 vom 14. September 2005 | |
Regeste |
Art. 27 Abs. 2 ATSG: Beratungspflicht der Versicherungsträger. |
Folgen der Verletzung der Beratungspflicht. (Erw. 5) | |
Sachverhalt | |
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Anlässlich des Erstgespräches vom 18. Dezember 2003 gab F. an, dass er beabsichtige, im Februar 2004 einen fünfmonatigen Sprachaufenthalt in Z. anzutreten, was er in einem an das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) Rapperswil gerichteten Schreiben vom 19. Januar 2004 bestätigte. Das von der Arbeitslosenkasse um Prüfung der Vermittlungsfähigkeit angefragte RAV eröffnete dem Versicherten mit Verfügung vom 20. Januar 2004, er sei ab Antragstellung (d.h. ab 21. November 2003) nicht vermittlungsfähig gewesen. Zur Begründung gab es im Wesentlichen an, dass die nur gerade zweieinhalb Monate betragende Zeit zwischen der Antragstellung und dem Beginn des Sprachaufenthaltes zu kurz sei, um die Vermittlungsfähigkeit zu bejahen, und dass eine ![]() | |
F. schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
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2. Gemäss Art. 27 des - im vorliegenden Fall anwendbaren - Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 sind die Versicherungsträger und Durchführungsorgane der einzelnen Sozialversicherungen verpflichtet, im Rahmen ihres Zuständigkeitsbereiches die interessierten Personen über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären (Abs. 1). Jede Person hat Anspruch auf grundsätzlich ![]() | 5 |
Nach der gleichzeitig mit dem ATSG am 1. Januar 2003 in Kraft gesetzten Ausführungsbestimmung des Artikels 19a AVIV klären die in Artikel 76 Absatz 1 Buchstaben a-d AVIG genannten Durchführungsstellen die Versicherten über ihre Rechte und Pflichten auf, insbesondere über das Verfahren der Anmeldung und über die Pflicht, Arbeitslosigkeit zu vermeiden und zu verkürzen (Abs. 1). Die Kassen klären die Versicherten über die Rechte und Pflichten auf, die sich aus dem Aufgabenbereich der Kassen (Art. 81 AVIG) ergeben (Abs. 2). Die kantonalen Amtsstellen und die regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) klären die Versicherten über die Rechte und Pflichten auf, die sich aus den jeweiligen Aufgabenbereichen (Art. 85 und 85b AVIG) ergeben (Abs. 3).
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Der Aufgabenbereich der von den Kantonen zu errichtenden (Art. 85b Abs. 1 Satz 1 AVIG) RAV ist im AVIG nicht näher umschrieben. In Art. 85b Abs. 1 Satz 2 und 3 AVIG wird lediglich festgehalten, dass die Kantone den RAV Aufgaben der kantonalen Amtsstelle übertragen und ihnen die Durchführung der Anmeldung zur Arbeitsvermittlung übertragen können. Im Kanton St. Gallen schreibt Art. 6 der Verordnung über regionale Arbeitsvermittlungszentren vom 13. November 1995 und 19. März 1996 vor, dass die RAV eine Auskunftsstelle der kantonalen Arbeitslosenkasse betreiben (Abs. 1 lit. h), dass sie die Vermittlungsfähigkeit von Arbeitslosen überprüfen (Abs. 1 lit. i [in Kraft seit 1. März 2001]) und dass sie Fälle entscheiden, die der kantonalen Amtsstelle von den Kassen unterbreitet werden (Abs. 1 lit. k [in Kraft seit 1. März 2001]).
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Erwägung 3 | |
3.1 Nach Auffassung der Vorinstanz hätte das RAV den Versicherten gestützt auf Art. 27 Abs. 2 ATSG am 18. Dezember 2003, als er anlässlich des Beratungsgesprächs seine Pläne betreffend Auslandaufenthalt (ab Februar 2004) bekanntgegeben hatte, auf ![]() | 8 |
3.2 Das Beschwerde führende RAV vertritt demgegenüber den Standpunkt, weder der RAV-Personalberater noch ein anderes Vollzugsorgan sei verpflichtet gewesen, den Versicherten auf die möglicherweise fehlende Vermittlungsfähigkeit hinzuweisen. Die Beratungspflicht sei auf Handlungen zu beschränken, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geltendmachung und Erhaltung des Leistungsanspruchs und der Schadenminderungspflicht ständen. Hätte der Beschwerdegegner - wie die Vorinstanz annehme - durch Beratung in die Lage versetzt werden sollen, seine geplante Reise rechtzeitig zu verschieben, um in den Genuss von Arbeitslosenentschädigung zu kommen, hätte diesem im Ergebnis nahe gelegt werden müssen, seine Arbeitslosigkeit zu verlängern und damit die Schadenminderungspflicht zu verletzen. Sodann habe die Vorinstanz aufgrund einer blossen Parteibehauptung angenommen, dass der Versicherte ohne weiteres in der Lage und bereit gewesen wäre, den Sprachaufenthalt z.B. auf Ende 2004 zu verschieben, was angesichts der langfristigen Zukunftsplanung und des beabsichtigten Studiums aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung als gewagt bezeichnet werden dürfe, dies namentlich in Anbetracht des Umstandes, dass der Versicherte seinen fünfmonatigen Sprachaufenthalt als wichtig für das Studium erachtet habe, womit eine Verschiebung desselben auf Ende 2004 notgedrungen eine Verzögerung des Studienbeginns um ein Jahr zur Folge gehabt hätte. Die fehlende frühzeitige Information des Versicherten sei damit nicht kausal für die unterlassene ![]() | 9 |
Erwägung 4 | |
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Mit der Einführung dieser allgemeinen Aufklärungs- und Beratungspflicht der Sozialversicherer auf den 1. Januar 2003 wurde in ![]() | 11 |
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Nach der vor In-Kraft-Treten des ATSG ergangenen (und mithin für die dem ATSG unterstehenden Sozialversicherungszweige heute überholten) Rechtsprechung (BGE 124 V 220 Erw. 2b; ARV 2002 S. 113, BGE 124 V 2000 Nr. 20 S. 98 Erw. 2b) bestand indessen keine umfassende Auskunfts-, Beratungs- und Belehrungspflicht der Behörden (unter Vorbehalt von Art. 16 KVG in der bis 31. Dezember 2002 geltenden Fassung), namentlich auch nicht gestützt auf den verfassungsmässigen Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. auch RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Basel 1990, Nr. 74 B/Vb S. 229). Unter der damals herrschenden Rechtslage brauchten die Organe der Arbeitslosenversicherung daher - vorbehältlich des vom 1. Januar 1997 bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Art. 20 Abs. 4 AVIV (bis Ende 1996 Art. 19 Abs. 4 AVIV) - nicht von sich aus - spontan, ohne vom Versicherten angefragt worden zu sein - Auskünfte zu erteilen oder auf drohende Rechtsnachteile aufmerksam zu machen. Dies galt auch für drohende Verluste sozialversicherungsrechtlicher Leistungen. Eine in ihrer Tragweite beschränkte Abweichung davon ergab sich aus Art. 20 Abs. 4 AVIV (in der bis ![]() | 13 |
4.3 In der Lehre wird - anders als im Bericht der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999 - einhellig die Auffassung vertreten, dass mit Art. 27 ATSG eine wesentlich weiter gehende Beratungspflicht (welche namentlich auch Leistungsansprüche gegenüber anderen Sozialversicherungen umfassen kann; Abs. 3) stipuliert wird und die Bestimmung eine bedeutende Neuerung darstellt (vgl. KIESER, a.a.O., S. 323 unten f.; IMHOF/ZÜND, a.a.O., S. 306 unten f.; SPIRA, a.a.O., S. 527 unten f.; LOCHER, a.a.O., S. 430 f.). Nach der Literatur bezweckt die Beratung, die betreffende Person in die Lage zu versetzen, sich so zu verhalten, dass eine den gesetzgeberischen Zielen des betreffenden Erlasses entsprechende Rechtsfolge eintritt. Dabei sei die zu beratende Person über die für die Wahrnehmung der Rechte und Pflichten massgebenden Umstände rechtlicher oder tatsächlicher Art zu informieren, wobei gegebenenfalls ein Rat bzw. eine Empfehlung für das weitere Vorgehen abzugeben sei (KIESER, a.a.O., S. 319; SCHNEIDER, a.a.O., S. 80 ff.; vgl. auch zur Bestimmung des bis 31. Dezember 2002 in Kraft gewesenen Art. 16 KVG: GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, ![]() | 14 |
Die Norm des Art. 27 Abs. 2 ATSG ist § 14 des deutschen Sozialgesetzbuches (SGB) nachgebildet (vgl. SPIRA, a.a.O., S. 525 f.), gemäss welcher Bestimmung jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch hat (Satz 1) und zuständig für die Beratung die Leistungsträger sind, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind (Satz 2). Dabei wird unter Beratung das individuelle Gespräch mit dem Einzelnen zur gezielten und umfassenden Unterrichtung über seine Rechte und Pflichten nach dem SGB verstanden (BURDENSKI/VON MAYDELL/SCHELLHORN, Kommentar zum Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil, Darmstadt 1976, S. 121, N 11 zu § 14). Sie dient dazu, dem Berechtigten positiv den Weg aufzuzeigen, auf dem er zu der gesetzlich vorgesehenen Leistung gelangt (PETER MROZYNSKI, Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil [SGB I], Kommentar, 2. Aufl., München 1995, S. 119, N 13 zu § 14). Der Umfang der Beratung richtet sich in erster Linie nach der Kompliziertheit des jeweiligen Normenkomplexes und sodann nach dem Grad der Angewiesenheit des Sozialleistungsberechtigten auf beratende Hilfe (MROZYNSKI, a.a.O., S. 117, N 8 zu § 14). Nach dem Kommentar von BURDENSKI/VON MAYDELL/SCHELLHORN (a.a.O., S. 121, N 12 zu § 14) hat der Leistungsträger die ihm aus dem Gesprächszusammenhang ersichtliche Situation des Ratsuchenden im Blick auf den in Frage stehenden besonderen Teil des SGB möglichst erschöpfend zu klären und gegebenenfalls durch eigene Fragen den Ausgangssachverhalt weiter aufzuklären. Im von BLEY et al. herausgegebenen Gesamtkommentar zum Sozialgesetzbuch (Band 1, Erstes Buch, Allgemeiner Teil, S. 192/1) wird sodann unter Hinweis auf Rechtsprechung und Lehre ausgeführt, dass der Versicherungsträger den Versicherten bei jeder gebotenen Befassung mit dessen Versicherungsangelegenheit auf Befugnisse zur Gestaltung seines Versicherungsverhältnisses, die offen zutage liegen und von jedem Versicherten verständigerweise ausgeübt würden, von Amts wegen hinzuweisen habe, selbst wenn fraglich sei, ob der Versicherte die Gestaltungsmöglichkeit tatsächlich nutzen könne und werde (vgl. auch MROZYNSKI, a.a.O., S. 117, N 8 zu § 14).
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Wo die Grenzen der in Art. 27 Abs. 2 ATSG statuierten Beratungspflicht in generell-abstrakter Weise zu ziehen sind, braucht ![]() | 16 |
5. Unterbleibt eine Auskunft entgegen gesetzlicher Vorschrift oder obwohl sie nach den im Einzelfall gegebenen Umständen geboten war, hat die Rechtsprechung dies der Erteilung einer unrichtigen Auskunft gleichgestellt (BGE 124 V 221 Erw. 2b, BGE 113 V 71 Erw. 2, BGE 112 V 120 Erw. 3b; ARV 2003 S. 127 Erw. 3b, BGE 112 V 2002 S. 115 Erw. 2c, 2000 S. 98 Erw. 2b; vgl. auch MEYER-BLASER, Die Bedeutung von Art. 4 Bundesverfassung für das Sozialversicherungsrecht, in: ZSR 1992 2. Halbbd., S. 299 ff., S. 412 f.). Abgeleitet aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, welcher den Bürger in seinem berechtigten Vertrauen auf behördliches Verhalten schützt, können falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Rechtsuchenden gebieten. Gemäss Rechtsprechung und Doktrin ist dies der Fall, 1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug auf bestimmte Personen gehandelt hat; 2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig war oder wenn die rechtsuchende Person die Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte; 3. wenn die Person die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres erkennen konnte; 4. wenn sie im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können, und 5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunftserteilung keine Änderung erfahren hat (BGE 127 I 36 Erw. 3a, BGE 126 II 387 Erw. 3a; RKUV 2000 Nr. KV 126 S. 223; zu Art. 4 Abs. 1 aBV ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 121 V 66 Erw. 2a mit Hinweisen). In analoger ![]() | 17 |
Es sind keine Gründe ersichtlich, diese Gleichstellung von pflichtwidrig unterbliebener Beratung und unrichtiger Auskunftserteilung nach der Kodifizierung einer umfassenden Beratungspflicht im ATSG aufzugeben, dies um so weniger als diese Folgen einer Verletzung der Beratungspflicht in den Sitzungen der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 8. Mai (Protokoll S. 9) und 11./12. September 1995 (Protokoll S. 12) diskutiert worden sind. Im Übrigen wird auch in der Lehre die Auffassung vertreten, dass eine ungenügende oder fehlende Wahrnehmung der Beratungspflicht gemäss Art. 27 Abs. 2 ATSG einer falsch erteilten Auskunft des Versicherungsträgers gleichkommt und dieser in Nachachtung des Vertrauensprinzips hiefür einzustehen hat (KIESER, a.a.O., S. 320, N 17 zu Art. 27; IMHOF/ZÜND, a.a.O., S. 317; FREIVOGEL, a.a.O., S. 96; zu alt Art. 16 KVG: EUGSTER, a.a.O., Rz 406 und FN 1031).
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