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1. Auszug aus dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen M. und Versicherungsgericht des Kantons Aargau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
I 910/05 vom 28. Juni 2006 | |
Regeste |
Art. 21 Abs. 5 ATSG; Art. 13 Abs. 1 MVG (in der vom 1. Januar 1994 bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen Fassung); Art. 43 MVG (in der bis 31. Dezember 1993 gültig gewesenen Fassung): Sistierung des IV-Rentenanspruchs bei Untersuchungshaft. | |
Sachverhalt | |
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B. Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau unter Aufhebung des Einspracheentscheides vom 29. April 2005 und mit der Feststellung gut, dass der Versicherten auch während der Untersuchungshaft ein Anspruch auf Invalidenrente zustehe (Entscheid vom 21. Oktober 2005).
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C. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides.
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Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, lässt M., verbeiständet durch R. von der Amtsvormundschaft des Bezirks X., vertreten durch Advokat Dr. ![]() | 4 |
D. Am 28. Juni 2006 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine parteiöffentliche Beratung durchgeführt.
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Aus den Erwägungen: | |
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"Befindet sich die versicherte Person im Straf- oder Massnahmevollzug, so kann während dieser Zeit die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter ganz oder teilweise eingestellt werden; ausgenommen sind die Geldleistungen für Angehörige im Sinne von Absatz 3."
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Die Verfahrensbeteiligten sind sich uneins über die materiellrechtliche Bedeutung dieser Bestimmung. Es stellt sich die Frage, ob die Untersuchungshaft seit 4. Dezember 2004, welche gemäss Urteil des Strafgerichts Y. vom 27. April 2005 an die ausgesprochene Strafe von sieben Monaten und 16 Tagen Gefängnis angerechnet wurde, unter den gesetzlichen Sistierungsgrund des "Straf- oder Massnahmenvollzugs" fällt. Während IV-Stelle und beschwerdeführendes BSV dies bejahen, ziehen kantonales Gericht und Beschwerdegegnerin insbesondere aus dem Gesetzeswortlaut den Schluss (e contrario), Untersuchungshaft berühre - da keinen Straf- oder Massnahmevollzug darstellend - im Gegensatz zu diesem den laufenden IV-Rentenanspruch nicht.
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Erwägung 3 | |
3.1 Bis zum Inkrafttreten des ATSG verhielt es sich mit dem Rentenanspruch während strafrechtlich motivierten Inhaftierungen im Allgemeinen wie folgt: Während die ältere Rechtsprechung von einem Revisionsgrund analog alt Art. 41 IVG (aufgehoben auf den 31. Dezember 2002) ausging (BGE 110 V 286 E. 1b; BGE 107 V 219; ZAK 1981 S. 91), qualifizierte das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 113 V 273 die Inhaftierung als blossen Sistierungsgrund, was die Weiterausrichtung der Zusatzrenten erlaubt (BGE 114 V 143 [entsprechend dem zweiten, hier nicht zur Diskussion stehenden Teil der Satzverbindung von Art. 21 Abs. 5 ATSG], in der Folge bestätigt durch AHI 1998 S. 182; SVR 1995 IV Nr. 35 ![]() | 9 |
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3.2.1 Weil nun alt Art. 13 MVG nahezu wörtlich in den Entwurf zum ATSG in der Fassung des Bundesrates vom 17. August 1994 übernommen wurde (MAESCHI, a.a.O., N. 6 zu Art. 13), zieht KIESER (ATSG-Kommentar, N. 79 zu Art. 21) den Schluss, dass Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht zum Straf- oder Massnahmevollzug zählen, was bisher bezüglich der IV-Leistungen, wie bereits dargelegt, anders betrachtet (vgl. BGE 116 V 323 ff.), hingegen durch alt Art. 13 Abs. 1 MVG (welcher Gesetzesbestimmung Art. 21 Abs. 5 ATSG entspricht; vgl. BBl 1999 S. 4567) für die Militärversicherung so entschieden wurde (vgl. MAESCHI, a.a.O., N. 13 zu Art. 13). Während das kantonale Gericht und ihm folgend die ![]() | 11 |
"Die Frage nach dem Schicksal von Geldleistungen stellt sich bei Freiheitsentzug immer wieder und verdient von daher eine Regelung in einem Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts. Der von uns vorgeschlagene Wortlaut hat seine Grundlage in Einklang mit der Rechtsprechung (BGE 113 V 273, BGE 114 V 143) in Art. 13 des neuen MVG vom 19. Juni 1992."
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Erwägung 4 | |
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Erwägung 4.2.4 | |
4.2.4.1 Unter einem teleologischen Blickwinkel (Sinn und Zweck) - verbunden mit der Forderung nach rechtsgleicher Behandlung ![]() | 18 |
Hinzu kommt folgende Überlegung: In den meisten Fällen, in denen eine Untersuchungshaft von einer gewissen Dauer angeordnet wurde, erfolgt nachmals eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, wobei die Untersuchungshaft in aller Regel an die Freiheitsstrafe angerechnet wird (alt Art. 69 StGB [in Kraft bis 31. Dezember 2006] bzw. Art. 51 StGB [in Kraft ab 1. Januar 2007]). Die Untersuchungshaft ist damit im Ergebnis in den meisten Fällen zugleich ![]() | 19 |
4.2.4.2 Nach dem Gesagten ist der Rentenanspruch einer Person, die sich in Untersuchungshaft befindet, grundsätzlich zu sistieren, da auch eine gesundheitlich unbeeinträchtigte Person während dieser Zeit in der Regel einen Erwerbsausfall zu gewärtigen hat. Dies kann jedoch, wie das Eidgenössische Versicherungsgericht bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung erkannt hat (vgl. u.a. BGE 116 V 326 mit Hinweis), aus Praktikabilitätsgründen lediglich für Untersuchungshaft gelten, welche eine gewisse Zeit angedauert hat ("d'une certaine durée"). Diese "gewisse Dauer" der Untersuchungshaft, während der die Rente noch auszurichten ist, dürfte - in Anlehnung an die gemäss Art. 88a Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 IVV rentenrevisionsrechtlich massgebliche Zeitspanne der anspruchsbeeinflussenden Änderung der Verhältnisse - bis zu drei Monate betragen. Anders als im Falle eines erwerbstätigen Inhaftierten spielt sodann bei einem invaliden Untersuchungshäftling die Verschuldensfrage im Hinblick auf die Weiterausrichtung der Rente keine Rolle. Erweist sich die Inhaftierung im Nachhinein als zu Unrecht angeordnet, so bildet der Rentenverlust nach wie vor Teil des Schadens, den er bei der Behörde geltend machen kann, die ihn ungerechtfertigt inhaftiert hat (BGE 116 V 323; vgl. in diesem Sinne auch zu Art. 324a OR: STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 19 zu Art. 324a/b OR).
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