BGE 133 V 446 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
56. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen und L. gegen IV-Stelle Bern sowie Verwaltungsgericht des Kantons Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
I 218/06 / I 259/06 vom 23. Juli 2007 | |
Regeste |
Art. 44 und Art. 55 Abs. 1 ATSG; Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 57 Abs. 2 BZP: Anhörung zu den Fragen an den medizinischen Gutachter im Abklärungsverfahren. | |
Aus den Erwägungen: | |
1 | |
2 | |
7.2 Der unter der Überschrift "Gutachten" im Abschnitt Sozialversicherungsverfahren stehende Art. 44 ATSG enthält keine Vorschrift zur strittigen Frage der vorgängigen Bekanntgabe und der Mitwirkungsrechte bei der Formulierung von Expertenfragen. Nach Art. 55 Abs. 1 ATSG bestimmen sich in den Art. 27 bis 54 ATSG oder in den Einzelgesetzen nicht abschliessend geregelte Verfahrensbereiche nach dem VwVG. Vorausgesetzt ist somit zum Mindesten eine teilweise Regelung des Teilbereiches durch das ATSG. Massgebend ist, ob dieses eine abschliessende Regelung enthält, was aufgrund einer Auslegung der massgebenden Bestimmungen zu ermitteln ist. Ist das Vorliegen einer abschliessenden Regelung zu bejahen, fällt die Anwendung des VwVG ausser Betracht. Mit dem in Art. 55 Abs. 1 ATSG verwendeten Kriterium der "abschliessenden" Regelung wird sodann zum Ausdruck gebracht, dass eine bereits vorliegende Normierung des ATSG durch Heranziehen der VwVG-Bestimmungen zusätzlich konkretisiert wird. Hingegen schliesst die getroffene Ordnung aus, dass eine eingehendere Regelung des VwVG (vgl. dazu Art. 4 VwVG) im Anwendungsbereich des ATSG übernommen wird. Es sind somit nur jene VwVG- Bestimmungen ergänzend anzuwenden, die - innerhalb eines im ATSG nicht abschliessend geregelten Verfahrensbereiches - eine Frage ergänzend (jedoch weder vom ATSG oder den Einzelgesetzen abweichend noch bloss eingehender regeln) beantworten (KIESER, ATSG-Kommentar, N. 5 ff. zu Art. 55 ATSG).
| 3 |
4 | |
7.4 Im sozialversicherungsrechtlichen Abklärungsverfahren obliegt die Leitung des Verfahrens dem Versicherungsträger (Grundsatz des Amtsbetriebes); dieser hat einen Sozialversicherungsfall hoheitlich zu bearbeiten (vgl. Art. 43 ATSG) und mit dem Erlass einer materiellen Verfügung zu erledigen (vgl. Art. 49 Abs. 1 ATSG). Partizipatorische, auf präventive Mitwirkung im Rahmen der Gutachtensbestellung abzielende Verfahrensrechte stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zum Gebot des raschen und einfachen Verfahrens (vgl. Art. 61 lit. a ATSG). Anzustreben ist ein vernünftiges Verhältnis zwischen den Mitwirkungsrechten im Verwaltungsverfahren und dem Ziel einer raschen und korrekten Abklärung (vgl. BGE 132 V 93 E. 6.5 S. 109). Es kann daher nicht Sinn und Zweck von Art. 44 ATSG sein, dass sich die Parteien vor oder zusammen mit der Gutachtensanordnung über die Fragen zuhanden der medizinischen Sachverständigen zu einigen hätten, geschweige denn, diese in einer anfechtbaren Zwischenverfügung festzulegen wären, zumal auch die Anordnung eines Gutachtens nicht Verfügungsgegenstand zu bilden hat (vgl. BGE 132 V 93). Dies spricht dafür, dass Art. 44 ATSG für das Sozialversicherungsverfahren mit Bezug auf die Parteirechte hinsichtlich der Fragen an die Sachverständigen abschliessend ist und die darüber hinausgehende Regelung von Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 57 Abs. 2 BZP keine Anwendung findet. Die Rechte der versicherten Person bleiben insofern gewahrt, als sie sich im Rahmen des rechtlichen Gehörs zum Beweisergebnis wird äussern und erhebliche Beweisanträge wird vorbringen können (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 42 ATSG; vgl. BGE 132 V 368 zum Gehörsanspruch im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren).
| 5 |
7.5 Dies schliesst indessen nicht aus, dass zur besseren Akzeptanz in der Praxis den Parteien die Expertenfragen vorgängig zur Stellungnahme unterbreitet werden (vgl. MERKLI/AESCHLIMANN/HERZOG, Kommentar zum Gesetz vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Bern [VRPG], Bern 1997, N. 25 zu Art. 19 VRPG, welches im Übrigen ebenfalls keinen Anspruch einräumt, sich zu den Expertenfragen zu äussern). So sieht beispielsweise Rz. 2082 des vom Bundesamt für Sozialversicherungen herausgegebenen Kreisschreibens über das Verfahren in der Invalidenversicherung (KSVI) im Kapitel "Medizinische Gutachten" und unter der Überschrift "Auftragserteilung an die begutachtende Stelle" vor: "Falls die versicherte Person Fragen stellen möchte, leitet die IV-Stelle diese unverändert an die begutachtende Stelle weiter. Die IV-Stelle hält in der Regel an ihrer Fragestellung fest." Gemäss Rz. 2077 KSVI sind die Modalitäten einer Begutachtung soweit möglich mit den versicherten Personen zu besprechen.
| 6 |
7.6 Die Beschwerdeführerin begründet ihren Antrag damit, nur wenn die Fragen vorgängig genannt würden, könne sie überprüfen, ob mit Blick auf die bereits vorliegenden Berichte ein weiteres Gutachten notwendig sei, der vorgesehene Arzt dafür fachlich kompetent sei und ob die in Aussicht genommenen Fragen geeignet seien, die noch bestehenden Unklarheiten zu beseitigen. Diese Bedenken materieller Natur können nicht Gegenstand eines Ablehnungsgesuches sein, sondern sind allenfalls im Rahmen der materiellen Würdigung der medizinischen Unterlagen vorzubringen (BGE 132 V 93 E. 6.5 S. 108 f.). Das Nichteintreten des kantonalen Gerichts erweist sich daher als zutreffend.
| 7 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |