![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
57. Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle des Kantons St. Gallen gegen G. sowie Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
I 211/05 vom 23. Juli 2007 | |
Regeste |
Art. 8 Abs. 1 und 2, Art. 9 BV; Art. 9 ATSG; Art. 42 IVG; Art. 37 Abs. 3 lit. e und Art. 38 IVV; Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG; SR 151.3): Lebenspraktische Begleitung. |
Rz. 8053 KSIH beinhaltet keine Verletzung des Gebots der rechtsgleichen Behandlung (Art. 8 Abs. 1 BV), des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV), des Willkürverbots (Art. 9 BV) oder des BehiG (E. 6.2). |
Im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung nach Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV ist die direkte und indirekte Dritthilfe zu berücksichtigen. Demnach kann die Begleitperson die notwendigerweise anfallenden Tätigkeiten auch selber ausführen, wenn die versicherte Person dazu gesundheitsbedingt trotz Anleitung oder Überwachung/Kontrolle nicht in der Lage ist (E. 10.2). | |
Sachverhalt | |
![]() ![]() | 1 |
B. In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde sprach das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen dem Versicherten ab 1. Januar 2004 eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit leichten Grades zu (Entscheid vom 17. Februar 2005).
| 2 |
C. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle die Aufhebung des kantonalen Entscheides.
| 3 |
Das kantonale Gericht und der Versicherte schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Letzterer verlangt zusätzlich eventuell die Rückweisung der Sache zur ergänzenden Abklärung an die IV-Stelle. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
| 4 |
Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut.
| 5 |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
Erwägung 1 | |
6 | |
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die ![]() | 7 |
Erwägung 2 | |
8 | |
Erwägung 2.2 | |
9 | |
2.2.2 Nach Art. 42 IVG (in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung) haben Versicherte mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt (Art. 13 ATSG) in der Schweiz, die hilflos (Art. 9 ATSG) sind, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Vorbehalten bleibt Art. 42bis (Abs. 1). Es ist zu unterscheiden zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit (Abs. 2). Als hilflos gilt ebenfalls eine Person, welche zu Hause lebt und wegen der ![]() | 10 |
11 | |
Ist lediglich die psychische Gesundheit beeinträchtigt, so muss für die Annahme einer Hilflosigkeit gleichzeitig ein Anspruch auf mindestens eine Viertelsrente bestehen (Art. 38 Abs. 2 IVV).
| 12 |
Zu berücksichtigen ist nur diejenige lebenspraktische Begleitung, die regelmässig und im Zusammenhang mit den in Abs. 1 erwähnten Situationen erforderlich ist. Nicht darunter fallen insbesondere Vertretungs- und Verwaltungstätigkeiten im Rahmen vormundschaftlicher Massnahmen nach Art. 398-419 des Zivilgesetzbuches (Art. 38 Abs. 3 IVV).
| 13 |
Der Anspruch auf lebenspraktische Begleitung ist nicht auf Menschen mit Beeinträchtigung der psychischen oder geistigen Gesundheit beschränkt. Es ist durchaus möglich, dass auch andere Behinderte einen Bedarf an lebenspraktischer Begleitung geltend machen können. Zu denken ist insbesondere an hirnverletzte Menschen (vgl. Rz. 8042 des vom BSV herausgegebenen Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH] in der seit 1. Januar 2004 gültigen Fassung; zu Art. 38 IVV: vgl. die Erläuterungen des BSV in: AHI 2003 S. 327 f.).
| 14 |
2.2.4 Verwaltungsweisungen richten sich an die Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung aber berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben ![]() | 15 |
Erwägung 3 | |
16 | |
Vorab ist festzuhalten, dass die in Art. 42 Abs. 3 Satz 2 IVG und Art. 38 Abs. 2 IVV statuierte Voraussetzung eines Rentenanspruchs erfüllt ist, da der Versicherte seit 1. Juli 2003 eine ganze Invalidenrente bezieht.
| 17 |
18 | |
Die Eintretensfrage steht vorliegend nicht mehr zur Beurteilung (vgl. BGE 109 V 108 E. 2b S. 114; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts I 117/05 vom 28. Juli 2005, E. 3, und I 359/04 vom 12. Oktober 2004, E. 1.2.2).
| 19 |
Erwägung 4 | |
4.1 Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid im Wesentlichen erwogen, die lebenspraktische Begleitung solle nicht das allein Wohnen, sondern der behinderten Person ermöglichen, den Alltag so weit zu bewältigen (z.B. durch eine Hilfe bei der Tagesstrukturierung, Unterstützung bei der Bewältigung der Alltagsprobleme oder durch die Anleitung zur Erledigung des Haushalts), dass sie zu Hause wohnen könne und nicht in einem Behindertenheim untergebracht werden müsse. Laut den Ausführungen des BSV im IV-Rundschreiben Nr. 201 vom 19. Mai 2004 solle der Anspruch auf Hilflosenentschädigung nicht mehr auf jene Personen beschränkt sein, die - meist als Folge eines körperlichen Gebrechens - auf eine Hilfe bei den alltäglichen Lebensverrichtungen angewiesen seien. Die Situation der psychisch und geistig Behinderten solle verbessert werden, also die Situation derjenigen, die grundsätzlich in der Lage seien, mit ihrem Lebensalltag in erheblichem Umfang selbst fertig zu werden, wenn sie dabei begleitet würden. Auch diesen Personen solle es ermöglicht werden, zu Hause zu wohnen und ![]() | 20 |
4.2 Die IV-Stelle wendet letztinstanzlich ein, sie anerkenne, dass der Versicherte nicht in einem Heim lebe und somit ein Anspruch auf lebenspraktische Begleitung grundsätzlich möglich wäre. Ebenfalls anerkenne sie, das Erfordernis des selbstständigen Wohnens bedeute lediglich, dass einem Versicherten so geholfen werde, damit er nicht in ein Heim eintreten müsse. Die Vorinstanz habe indessen nicht geprüft, ob das Erfordernis der Regelmässigkeit gemäss Art. 38 Abs. 3 Satz 1 IVV erfüllt sei. Die Regelmässigkeit sei gegeben, wenn die lebenspraktische Begleitung über eine Periode von drei Monaten im Durchschnitt mindestens zwei Stunden pro Woche benötigt werde (Rz. 8053 KSIH). Relevant für die geforderten zwei Stunden wöchentlich könnten nur Tätigkeiten Dritter sein, die sich als (indirekte) Hilfe in Form einer Anleitung oder einer Art Hilfe zur Selbsthilfe definieren liessen. Jede Form (direkter) Hilfe, wo die eigentliche Tätigkeit durch eine Drittperson erledigt werde, könne nicht berücksichtigt werden. Gemäss der Abklärung an Ort und Stelle vom 24. März 2004 sei der Versicherte bei der Tagesstrukturierung selbstständig, soweit nicht Ungewohntes dazwischen komme. Die Anrechnung eines Zeitbedarfs für die lebenspraktische Begleitung komme demnach diesbezüglich nicht in Frage. Kochen könne der Versicherte nicht alleine, da dies zu gefährlich sei; dies übernehme die Drittperson, weshalb eine Anrechnung ebenfalls nicht in Frage komme. Für einfache administrative Angelegenheiten werde er einmal monatlich von einem Elternteil zur Bank begleitet, was einen Aufwand von einer Stunde ausmache. Lediglich einmal pro Jahr erfolge noch eine Begleitung bei einem Behördengang, was ca. 1 Stunde dauere. Haushaltarbeiten (Bett frisch anziehen, Zimmer aufräumen, Wäsche, kochen) würden praktisch gänzlich durch Dritte erledigt, weswegen keine Anrechnung erfolgen könne. Einkäufe erledige der Versicherte nicht selbst, zum Coiffeur gehe er allein und ![]() | 21 |
4.3 Die Vorinstanz legt letztinstanzlich dar, gemäss IV-Stelle seien als lebenspraktische Begleitung nur jene Tätigkeiten der Drittpersonen zu betrachten, die sich als "indirekte" Dritthilfe in Form einer Anleitung oder einer Art Hilfe zur Selbsthilfe definieren liessen; die Eltern des Versicherten leisteten laut IV-Stelle praktisch nur "direkte" Hilfe (z.B. Kochen, Aufräumen des Zimmers, Besorgen der Wäsche). Die IV-Stelle wolle nur die für die indirekte Hilfe verwendete Zeit berücksichtigen, also nicht diejenige, die nötig wäre, um den Versicherten beim Kochen, Wäsche Besorgen etc. anzuleiten und zu überwachen. Mit der Aufforderung an den Versicherten, eine bestimmte Tätigkeit im Haushalt vorzunehmen, wäre es aber nicht getan. Der Versicherte müsste dabei auch überwacht werden, was nach der Auffassung der IV-Stelle ebenfalls als indirekte Dritthilfe zu definieren wäre. Die Grenze von zwei Stunden wöchentlich wäre damit ohne Weiteres überschritten. Schon deshalb sei die Argumentation der IV-Stelle nicht stichhaltig; denn zumindest die Zeit, die für die Anleitung und Überwachung nötig wäre, wenn die Hilfe nicht direkt erbracht würde, müsse Berücksichtigung finden. Die IV-Stelle könne ihre Auffassung, wonach zwischen direkter und indirekter Hilfe zu unterscheiden und nur letztere zu berücksichtigen sei, nicht begründen oder belegen. Diese Unterscheidung hätte zur Folge, dass nur diejenigen behinderten Personen ein relevantes Bedürfnis nach lebenspraktischer Begleitung hätten, die noch recht weitgehend selbstständig seien, da sie nur angewiesen werden müssten, eine bestimmte Arbeit zu erledigen, und diese dann selbstständig ausführten. Allerdings benötigten derartige Anweisungen nur ![]() | 22 |
4.4 Der Versicherte bringt letztinstanzlich vor, mit der engen Auslegung der IV-Stelle könne das Ziel der IV-Revision, behinderten Menschen mit Assistenzbedürfnissen vermehrte Autonomie und Selbstbestimmung zu ermöglichen, nicht erreicht werden. Wäre nur die indirekte Hilfe (Anleitung, Überwachung usw.) anrechenbar, so könnten Menschen mit psychischen und leichten geistigen Behinderungen in den meisten Fällen die Anspruchsvoraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung auch nach neuem Recht nach wie vor nicht erfüllen. Die Auslegung der IV-Stelle könne weder dem Gesetz noch der Verordnung entnommen werden und widerspreche dem Grundgedanken der Gesetzesrevision, mit der die oben erwähnte Gruppe behinderter Menschen, zu denen auch der Versicherte gehöre, bessergestellt werden sollte. Bei Hilflosigkeit werde grundsätzlich sowohl die direkte als auch indirekte Hilfe berücksichtigt. Eine Ausnahme nur für Menschen, die auf lebenspraktische Begleitung angewiesen seien, sei nicht sachgerecht. Das Gesetz sehe nicht vor, dass lebenspraktische Begleitung nur jenen Versicherten entschädigt werde, die völlig selbstständig wohnen könnten. Dies ![]() | 23 |
5. Die Vorinstanz hat richtig erwogen, dass das Wohnen des Versicherten bei seinen Eltern den Anspruch auf lebenspraktische ![]() | 24 |
Erwägung 6 | |
25 | |
26 | |
Die zeitliche Vergleichsbasis von drei Monaten erscheint im Hinblick auf die praktische Durchführung als zweckmässig und ![]() | 27 |
Rz. 8053 KSIH erweist sich als vernünftig und durch Sinn und Zweck der Verordnungsbestimmung abgedeckt. Es wird damit eine Erheblichkeitsgrenze statuiert, die den durch Gesetz und Verordnung vorgegebenen Rahmen nicht sprengt, sondern vielmehr eine praktische Abgrenzung zwischen anspruchsbegründendem und -ausschliessendem Schweregrad an Hilflosigkeit beim Bedarf an lebenspraktischer Begleitung statuiert und insofern die vorgegebene Norm konkretisiert. In diesem Sinne erweist sich die in Rz. 8053 KSIH enthaltene Definition der Regelmässigkeit als sachlich gerechtfertigt und damit als gesetzes- und verordnungskonform.
| 28 |
In BGE 133 V 472 hat das Bundesgericht in E. 5.3.1 zudem festgestellt, dass Rz. 8053 KSIH keine Verletzung des Gebots der rechtsgleichen Behandlung (Art. 8 Abs. 1 BV), des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV), des Willkürverbots (Art. 9 BV) oder des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 2002 über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG; SR 151.3) beinhaltet (vgl. die dazu ergangene Rechtsprechung: BGE 131 V 9 ff.; BGE 130 I 352 ff.).
| 29 |
Erwägung 7 | |
30 | |
7.2 Die Verwaltung knüpft bei ihrer Argumentation an die Rechtsprechung an, die zwischen direkter und indirekter Dritthilfe ![]() | 31 |
Die IV-Stelle will im Rahmen der vom Gesetzgeber seit 1. Januar 2004 neu eingeführten lebenspraktischen Begleitung eine direkte Dritthilfe nicht berücksichtigen.
| 32 |
Erwägung 8 | |
33 | |
Erwägung 8.2 | |
8.2.1 Der Bundesrat führte in der Botschaft aus, Menschen mit psychischen oder leichten geistigen Behinderungen seien auf Hilfe und Assistenz im persönlichen Leben angewiesen. Um auch ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, solle die Assistenzentschädigung auch für sie eingeführt werden. In der Regel benötigten psychisch und leicht geistig Behinderte hauptsächlich ![]() | 34 |
8.2.2 Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen führte Ständerat Wicki am 25. September 2002 aus, es sei eine Klärung des Begriffs der "lebenspraktischen Beratung" nötig. Er sei dankbar, wenn man hier im Rat sagen könne, was er bedeute, denn nachher - vor allem in der Praxis - brauche es entsprechende Materialien. Die Geheimnisse der Kommission genügten nicht. Für die Kommission führte Ständerätin Forster-Vannini aus, sie versuche, diese Frage in dem Sinne zu beantworten, wie sie darüber in der Kommission gesprochen hätten. Heute hätten psychisch Behinderte zwar einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung, doch seien die Anspruchsvoraussetzungen sehr eng formuliert. Die Abgrenzung zwischen psychischer und geistiger Behinderung sei in der Praxis schwierig durchzuführen, und die Grenzen seien oft fliessend. Auf der anderen Seite dürfe gemäss Art. 8 Abs. 2 BV kein Mensch "wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung" diskriminiert werden. Weil die Hilflosenentschädigung auf die körperlichen Lebensfunktionen in den Bereichen Anziehen, Ausziehen, ![]() | 35 |
36 | |
- Hilfe bei der Tagesstrukturierung;
| 37 |
- Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagssituationen (z.B. nachbarschaftliche Probleme, Fragen der Gesundheit, Ernährung und Hygiene, einfache administrative Tätigkeiten etc.);
| 38 |
39 | |
Nach Rz. 8051 KSIH ist bei ausserhäuslichen Verrichtungen (vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. b IVV) die lebenspraktische Begleitung notwendig, damit die versicherte Person in der Lage ist, das Haus für bestimmte notwendige Verrichtungen und Kontakte zu verlassen (Einkaufen, Freizeitaktivitäten, Kontakte mit Amtsstellen oder Medizinalpersonen, Coiffeurbesuch etc.). Es muss sich um eine tatsächliche Begleitung handeln.
| 40 |
Gemäss Rz. 8052 KSIH ist die lebenspraktische Begleitung notwendig, um der Gefahr vorzubeugen, dass sich die versicherte Person dauernd von sozialen Kontakten isoliert (vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV) und sich dadurch ihr Gesundheitszustand erheblich verschlechtert. Die rein hypothetische Gefahr einer Isolation von der Aussenwelt genügt nicht; vielmehr müssen sich die Isolation und die damit verbundene Verschlechterung des Gesundheitszustandes bei der versicherten Person bereits manifestiert haben. Die notwendige lebenspraktische Begleitung besteht in beratenden Gesprächen und der Motivation zur Kontaktaufnahme (z.B. Mitnehmen zu Anlässen).
| 41 |
42 | |
Die vom BSV vorgenommene Konkretisierung der Anwendungsfälle der lebenspraktischen Begleitung (Rz. 8050-8052 KSIH) erweist sich grundsätzlich als sachlich gerechtfertigt und damit als gesetzes- und verordnungskonform. Beizupflichten ist der Verwaltung insbesondere auch darin, dass sich die Begleitung zur Ermöglichung des selbstständigen Wohnens (Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV) auf die Haushaltsarbeiten erstreckt, zumal diese nicht zu den alltäglichen Lebensverrichtungen nach Art. 9 ATSG in Verbindung mit Art. 37 IVV gehören (ZAK 1971 S. 35 E. 3b, H 35/70; weitere Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts H 299/03 vom 7. Juni 2004, E. 3.4, und H 128/03 vom 4. Februar 2004, E. 3.2).
| 43 |
In der bundesrätlichen Botschaft und in der parlamentarischen Beratung wurde die lebenspraktische Begleitung in erster Linie von der Hilfe bei den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen und von der persönlichen Überwachung (vgl. E. 7.2 und 9 hievor) abgegrenzt. Aus der Formulierung in der Botschaft, es gehe um Begleitung und Beratung, die zur Bewältigung des praktischen Alltags diene (BBl 2001 S. 3289), kann nicht geschlossen werden, direkte Dritthilfe sei unbeachtlich, zumal an anderer Stelle gesagt wurde, die Menschen mit psychischen oder leichten geistigen Behinderungen seien auf Hilfe und Assistenz im persönlichen Leben angewiesen (BBl 2001 S. 3245 Ziff. 2.3.1.5.2.3). Zur Problematik direkte/indirekte Dritthilfe enthalten die Materialien keinerlei Ausführungen.
| 44 |
Zu ergänzen ist, dass der Bundesrat in der Botschaft zu Recht darauf hingewiesen hat, der Gesundheitszustand von Menschen mit psychischen Behinderungen unterliege in der Regel grösseren Schwankungen (BBl 2001 S. 3246 Ziff. 2.3.1.5.2.3). Dies kann dazu führen, dass sie die gleiche Tätigkeit in besseren psychischen Phasen unter blosser Anleitung oder Kontrolle/Überwachung selber vornehmen können, in schlechteren Phasen aber auf direkte Dritthilfe angewiesen sind. Es ist auch deshalb nicht sachgerecht und kaum praktikabel, im Rahmen der lebenspraktischen Begleitung ![]() | 45 |
Erwägung 11 | |
Erwägung 11.1 | |
Im Falle einer Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit stellt der Abklärungsbericht im Haushalt ein geeignetes Beweismittel für die Bemessung der Invalidität der betroffenen Personen dar. Stimmen jedoch die Ergebnisse der Haushaltabklärung nicht mit den ärztlichen Feststellungen der Behinderungen im gewohnten Tätigkeitsbereich überein, so haben Letztere in der Regel mehr Gewicht als die im Haushalt durchgeführte Abklärung (vgl. SVR 2005 IV Nr. 21 S. 81, E. 5.1.1, I 249/04; AHI 2004 S. 137, I 311/03).
| 46 |
Diese Rechtsprechung gilt entsprechend auch für die Abklärung der Hilflosigkeit unter dem Gesichtspunkt der lebenspraktischen Begleitung.
| 47 |
Erwägung 11.2 | |
Diese drei ärztlichen Berichte enthalten keinerlei Angaben zur Frage, inwiefern der Versicherte durch das Leiden im Hinblick auf die Frage der lebenspraktischen Begleitung in seinen psychischen oder ![]() | 48 |
Bezüglich des erforderlichen RAD-Visums (vgl. Rz. 8144 KSIH) ist Folgendes festzuhalten: Die Akten enthalten ein Feststellungsblatt vom 13. April 2004, worin unter Verweis auf den Abklärungsbericht vor Ort vom 24. März 2004 die Abweisung der lebenspraktischen Beratung beantragt wird. Weiter befindet sich bei den Akten ein Blatt mit der Überschrift "Stellungnahme zum Feststellungsblatt/IV-Word durch RAD", worin unter Verweis auf das Feststellungsblatt vom 13. April 2004 unter der Rubrik "Beschluss/IV-Word i.O." die Abkürzung "i.O." vermerkt ist. Auf diesem Blatt steht zuunterst computerschriftlich der Passus "Datum/Name oder Kurzzeichen: 20.4.04/Z.". Eine Unterschrift oder ein handschriftliches Visum figuriert auf diesem Blatt jedoch nicht, was nicht rechtskonform ist. Arztberichte sind handschriftlich zu unterzeichnen oder zu visieren, damit darauf abgestellt werden kann.
| 49 |
Im medizinischen Punkt ist das Vorgehen der IV-Stelle mithin nicht rechtsgenüglich.
| 50 |
Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Vertretungs- und Verwaltungstätigkeiten, welche die Eltern in ihrer Vormundfunktion nach Art. 398-419 ZGB zu erledigen haben, nicht zu berücksichtigen sind (Art. 38 Abs. 3 Satz 2 IVV; vgl. auch Rz. 8054 KSIH).
| 51 |
Für das vorinstanzliche Verfahren hat das kantonale Gericht dem Versicherten eine Parteientschädigung zugesprochen. Diese ist trotz des letztinstanzlichen Prozessausgangs zu bestätigen, denn unter dem Gesichtspunkt des bundesrechtlichen Anspruchs auf eine Parteientschädigung gilt es im Streit um eine Sozialversicherungsleistung praxisgemäss wiederum bereits als Obsiegen, wenn die versicherte Person ihre Rechtsstellung im Vergleich zu derjenigen nach Abschluss des Administrativverfahrens insoweit verbessert, als sie die Aufhebung eines ablehnenden Einspracheentscheides und die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zur ergänzenden Abklärung und neuen Beurteilung erreicht (BGE 132 V 215 E. 6.2 S. 235).
| 52 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |