BGE 134 V 131 | |||
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16. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. H. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
U 35/07 vom 28. Januar 2008 | |
Regeste |
Art. 8 Abs. 3 BV; Art. 22 UVG (in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung); Art. 17 Abs. 1 ATSG; Rentenrevision. | |
Sachverhalt | |
A. Die am (...) Februar 1942 geborene H. erlitt am 26. August 1981 und am 22. April 1983 je einen Unfall mit ihrem Auto. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) erbrachte für die gesundheitlichen Folgen beider Ereignisse Versicherungsleistungen. Seit 1. August 1985 bezieht H. eine Invalidenrente, entsprechend einer Erwerbsunfähigkeit von 50 %; ausserdem wurden ihr für die Restfolgen aus dem Unfall vom 26. August 1981 eine Integritätsentschädigung, basierend auf einer Integritätseinbusse von 35 %, und für die Restfolgen aus dem Unfall vom 22. April 1983 eine Integritätsentschädigung, entsprechend einer Integritätseinbusse von 10 %, zugesprochen (Verfügungen der SUVA vom 19. November 1985). Nach verschiedenen Rückfällen meldete sich H. am 14. August 2003 wiederum bei der SUVA und ersuchte um Erhöhung der Invalidenrente auf der Basis einer Erwerbsunfähigkeit von 100 %. In der Zwischenzeit hatte ihr die Invalidenversicherung - bei einem Invaliditätsgrad von 93 % - ab 1. Dezember 2002 eine ganze Rente zugesprochen (Verfügung vom 4. Juni 2003). Mit Verwaltungsakt vom 4. Mai 2004 lehnte die SUVA das Gesuch um Erhöhung der Invalidenrente ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 6. Juni 2005 fest.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab (Entscheid vom 27. November 2006).
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C. H. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, die SUVA sei zu verpflichten, die gesetzlichen Leistungen zu erbringen, insbesondere sei die bisher ausgerichtete Rente, basierend auf einem Invaliditätsgrad von 50 %, auf 100 % zu erhöhen; eventualiter sei die Angelegenheit zu weiteren medizinischen Abklärungen an die SUVA zurückzuweisen.
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Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) lässt sich vernehmen, ohne einen Antrag zu stellen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
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Aus den Erwägungen: | |
3. Gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben, wenn sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich ändert. Anlass zur Revision einer Invalidenrente im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu beeinflussen (BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349; BGE 113 V 273 E. 1a S. 275; siehe auch BGE 112 V 371 E. 2b S. 372 und 387 E. 1b S. 390). Zeitlicher Ausgangspunkt für die Beurteilung einer anspruchserheblichen Änderung des Invaliditätsgrades ist die letzte rechtskräftige Verfügung, welche auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs beruht (BGE 133 V 108 E. 5.4 S. 114).
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Abweichend von Art. 17 Abs. 1 ATSG statuiert Art. 22 UVG, dass die Rente nach dem Monat, in dem Männer das 65. und Frauen das 62. Altersjahr vollendet haben, nicht mehr revidiert werden kann.
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4.1 Die Beschwerdeführerin lässt vorbringen, dass sie seit dem Jahr 2000 vermehrt an unfallbedingten Beschwerden an den unteren Extremitäten leide, weshalb sie ihre 50 %ige Erwerbstätigkeit habe aufgeben müssen. Es werde nicht bestritten, dass im Juli 2002 zusätzlich eine unfallfremde Polyarthritis diagnostiziert worden sei, aber die daraus entstanden Beschwerden hätten sich insbesondere in den Fingern und Händen bemerkbar gemacht und die Versicherte sei deswegen aktenkundig nie in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt gewesen. Aus diesem Grund sei die Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes, welche zur Aufgabe der Erwerbstätigkeit geführt habe, auf Unfallfolgen zurückzuführen. Dazu komme, dass der Gesetzgeber bei der Anhebung des Rentenalters der Frauen im AHVG vergessen habe, Art. 22 UVG ebenfalls anzupassen. Es sei von einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes auszugehen, weil kein Grund ersichtlich sei, weshalb Invalidenrenten der Unfallversicherung bei Männern bis zum Erreichen des Pensionsalters revidiert werden können, bei Frauen jedoch eine Revisionsmöglichkeit der Invalidenrente zwei Jahre vor ihrer Pensionierung enden sollte. Damit sei der Sachverhalt bis zum (...) Februar 2006 zu berücksichtigen. Es ergebe sich klar, dass zu diesem Zeitpunkt - auch gemäss den Ausführungen der Vorinstanz - eine deutliche unfallbedingte Verschlechterung des Gesundheitszustandes eingetreten sei, weshalb die Voraussetzungen für eine Änderung des Invaliditätsgrades auch unter der Annahme, die unfallbedingte Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes sei erst nach Februar 2004 eingetreten, gegeben seien.
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Erwägung 5 | |
5.1 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zu Grunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen (BGE 128 I 34 E. 3b S. 40). Es können auch die Gesetzesmaterialien beigezogen werden, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort geben und dem Gericht damit weiterhelfen (BGE 132 III 707 E. 2 S. 710).
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5.2 Eine Lücke im Gesetz besteht, wenn sich eine Regelung als unvollständig erweist, weil sie jede Antwort auf die sich stellende Rechtsfrage schuldig bleibt oder eine Antwort gibt, die aber als sachlich unhaltbar angesehen werden muss. Hat der Gesetzgeber eine Rechtsfrage nicht übersehen, sondern stillschweigend - im negativen Sinn - mitentschieden (qualifiziertes Schweigen), bleibt kein Raum für richterliche Lückenfüllung (BGE 132 III 470 E. 5.1 S. 478; BGE 130 V 229 E. 2.3 S. 233; vgl. BGE 131 II 562 E. 3.5 S. 567 f.).
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Erwägung 6 | |
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Erwägung 7 | |
7.1 Das BAG gibt an, bei der Aktualisierung des Art. 22 UVG, in Kraft seit 1. Januar 2003, sei die Anpassung der revisionsrechtlich relevanten Altersgrenze der Frauen auf Grund eines redaktionellen Versehens unterblieben. In der Tat findet sich keine Begründung, weshalb eine Rentenrevision bei Frauen nunmehr, nach Inkrafttreten der 10. AHV-Revision, bereits vor Erreichen des AHV-Rentenalters nicht mehr möglich sein soll, während die UVG-Renten der Männer weiterhin bis zum Eintritt ins AHV-Rentenalter revidiert werden können. Dem aktualisierten Art. 22 UVG in der seit 1. Januar 2003 geltenden Fassung steht insbesondere der Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau entgegen. Nach Art. 8 Abs. 3 BV sind Mann und Frau gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. Nach der Rechtsprechung ist es dem kantonalen und dem eidgenössischen Gesetzgeber grundsätzlich verwehrt, Normen zu erlassen, welche Mann und Frau ungleich behandeln; die erwähnte Verfassungsbestimmung schliesst die Geschlechtszugehörigkeit als taugliches Kriterium für rechtliche Differenzierungen aus (BGE 129 I 265 E. 3.2 S. 269; zu Art. 4 Abs. 2 aBV ergangene Rechtsprechung, welche gemäss BGE 126 II 217 E. 4a S. 219 unter der Herrschaft der am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen neuen Bundesverfassung weiterhin Geltung beansprucht: BGE 126 I 1 E. 2a S. 2; BGE 125 I 21 E. 3a S. 24, je mit Hinweisen).
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7.2 Ein rechtlich relevanter Grund für eine unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männern in rentenrevisionsrechtlicher Hinsicht lässt sich nicht finden. Art. 22 UVG in der ursprünglichen, vom 1. Januar 1984 bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung hat zur zeitlichen Beschränkung der UVG-Rentenrevision eindeutig an das AHV-Rentenalter von Männern und Frauen angeknüpft. Mit dem aktualisierten Art. 22 UVG, in Kraft seit 1. Januar 2003, sollte sich insoweit nichts ändern. Es ist mit dem BAG und der Beschwerdeführerin einigzugehen, dass es der Gesetzgeber durch ein offensichtliches Versehen unterlassen hat, das mit der 10. AHV-Revision stufenweise auf das 64. Altersjahr erhöhte AHV-Rentenalter der Frauen in die UVG-Rentenrevisionsregelung aufzunehmen. Die Gesetzesbestimmung, welche aktuell eine Begrenzung der Rentenrevision für Frauen bereits (bis zu) zwei Jahre vor Eintritt des AHV-Rentenalters vorsieht, ist sachlich nicht haltbar. Ein richterliches Eingreifen ist unter diesen Umständen möglich und - namentlich mit Blick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz - auch geboten. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass eine Revision der UVG-Rente der Beschwerdeführerin grundsätzlich bis zu ihrem (individuellen) Eintritt ins AHV-Rentenalter - also bis Ende Februar 2006 - offensteht.
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Erwägung 8 | |
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8.2 Aus einem Bericht der Klinik B. vom 6. Oktober 2005 lässt sich unter anderem entnehmen, dass in den letzten zwei Jahren zunehmende belastungsabhängige Schmerzen am rechten Unterschenkelstumpf aufgetreten seien, deretwegen die Beschwerdeführerin das Arbeitspensum massiv habe reduzieren müssen. Weder die SUVA noch das kantonale Gericht haben die Auswirkungen dieser unfallbedingten Stumpfproblematik geprüft. Die Angelegenheit geht daher an die SUVA zurück, damit sie die gesundheitliche Entwicklung über die ganze massgebende Zeitspanne prüfen und hernach über den Rentenanspruch neu verfügen kann.
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