BGE 134 V 162 | |||
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20. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. C. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_853/2007 vom 15. April 2008 | |
Regeste |
Art. 61 lit. b ATSG; Art. 52 VwVG; Art. 2 Abs. 2 ZGB; Nachfrist zur Behebung des Mangels einer nicht oder ungenügend begründeten Beschwerde. | |
Sachverhalt | |
A. Mit Verfügung vom 26. September 2007 verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich (nachfolgend: IV-Stelle) den Anspruch des C. auf eine Invalidenrente. Am 25. Oktober 2007 reichte lic. iur. L. von der DAS Rechtsschutz-Versicherungs-AG im Auftrag von C. beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich eine "vorsorgliche Beschwerde" ein mit dem Antrag auf Aufhebung der Verfügung und Zusprechung von mindestens einer Viertelsrente. Prozessual ersuchte sie um Ansetzung einer angemessenen Nachfrist zur eingehenderen Beschwerdebegründung. Sie führte aus, infolge der sehr kurzfristigen Mandatierung hätten die IV-Akten nicht eingesehen und deshalb die Annahmen und Berechnungen der Verwaltung nicht überprüft werden können. Mit Eingabe vom 5. November 2007 modifizierte und begründete sie das Rechtsbegehren. Mit Beschluss vom 13. November 2007 trat das kantonale Sozialversicherungsgericht auf die Beschwerde nicht ein.
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Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Kantonales Gericht und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
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Nach dem Wortlaut von Art. 61 lit. b ATSG und der Rechtsprechung ist grundsätzlich in jedem Fall einer ungenügenden Begründung eine Nachfrist anzusetzen, sofern der Beschwerdewille rechtzeitig und in prozessual gehöriger Form klar bekundet worden ist. Die Einräumung einer solchen Frist steht nicht im Belieben des kantonalen Versicherungsgerichtes. Vorbehalten ist der Fall eines offenbaren Rechtsmissbrauchs (Art. 2 Abs. 2 ZGB; BGE 116 V 353 E. 2b S. 356; BGE 112 Ib 634 E. 2b S. 635; Urteil I 898/06 vom 23. Juli 2007, E. 3.2, und Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 99/06 vom 8. September 2006, E. 2.2).
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Die Vorinstanz hat diese Argumentation nicht als stichhaltig erachtet. Nach ihrer Auffassung wäre die Vertreterin gehalten gewesen, zumindest eine summarische Begründung einzureichen. Dass sie erst am 23. Oktober 2007 mandatiert worden und bis zur Beschwerdeerhebung keine einlässliche Instruktion erfolgt sei, ändere nichts. "Entweder hätte sich die Rechtsvertreterin Zeit für eine Instruktion nehmen müssen, welche es ihr auch ohne Einsicht in die Akten der Beschwerdegegnerin erlaubt hätte, eine summarische Begründung einzureichen. Oder aber sie hätte das Mandat nicht annehmen dürfen."
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Erwägung 4 | |
4.1 Ein die Anwendung von Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG ausschliessender offenbarer Missbrauch ist zu bejahen, wenn ein Anwalt oder eine sonstige rechtskundige Person eine bewusst mangelhafte Rechtsschrift einreicht, um damit eine Nachfrist zur Begründung zu erwirken (RKUV 1988 Nr. U 34 S. 31, U 30/87; ferner BGE 108 Ia 209 E. 3 S. 212; Urteil I 898/06 vom 23. Juli 2007, E. 3.3). Das formelle Erfordernis der Begründung des Rechtsbegehrens gemäss Satz 1 von Art. 61 lit. b ATSG würde sonst seines Sinnes entleert, wenn jede Beschwerde führende Person dadurch, dass sie die Anträge nicht oder nicht rechtsgenüglich begründet, über die Nachfrist von Satz 2 zusätzlich Zeit für die Begründung erwirken könnte (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 126/05 vom 6. Juni 2005, E. 4.2).
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4.2 Rechtskundigkeit für sich allein genommen lässt indessen nicht den Schluss auf Rechtsmissbrauch zu (vgl. Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts H 270/85 vom 7. März 1986, publ. in: ZAK 1986 S. 425, E. 3, und H 176/92 vom 21. Januar 1993, E. 2 [Nachfristansetzung bei fehlender Anwaltsvollmacht]; ferner zu Art. 52 VwVG, ZBl 107/2006 S. 504, 1A.253/2005, E. 3.4, und BGE 112 Ib 634 [wo der damalige Beschwerdeführer anwaltlich vertreten war]). Selbst bei Fehlen einer Begründung ist die Ansetzung einer Nachfrist nach Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG nicht ausgeschlossen. Massgebend sind die jeweiligen konkreten Umstände, wie die - allerdings nicht ganz einheitliche - Gerichtspraxis zeigt:
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4.2.3 Im Urteil C 271/97 vom 28. November 1997 erachtete das Eidg. Versicherungsgericht den Vorwurf des überspitzten Formalismus - willkürliche Anwendung einer Art. 61 lit. b ATSG entsprechenden Vorschrift des kantonalen Rechts - gegenüber der Vorinstanz, welche auf eine nicht begründete Beschwerde nicht eingetreten war und es abgelehnt hatte, eine Nachfrist für die Begründung anzusetzen, als nicht gerechtfertigt. Es stellte fest, nichts deute darauf hin, dass es der Rechtsvertreterin trotz der geltend gemachten Zeitknappheit - Mandatierung am Freitag, Ablauf der Rechtsmittelfrist am folgenden Montag - nicht zumutbar gewesen wäre, die Beschwerde wenigstens summarisch zu begründen (E. 2d; in gleichem Sinne auch Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts C 38/99 vom 27. Dezember 1999, E. 2b). Schliesslich erachtete das Bundesgericht im Urteil 2P.348/1996 vom 31. Oktober 1996 die Weigerung des zürcherischen Regierungsrates, gestützt auf § 23 des kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetzes eine Nachfrist zur Begründung der Beschwerde zu gewähren, unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots als nicht überspitzt formalistisch. Nach Auffassung des Gerichts wäre es dem Rechtsbeistand auch ohne die Verfahrensakten zumutbar gewesen, den Rekurs innert Frist aufgrund des anzufechtenden Entscheids und der Instruktion mit den Beschwerdeführern summarisch zu begründen. Die Annahme der Vorinstanz, das Verhalten des Rechtsbeistandes ziele insoweit möglicherweise auf eine unzulässige Verlängerung der nicht erstreckbaren Rekursfrist ab, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (E. 4d).
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Anders entschied das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil I 711/06 vom 8. November 2006. Die Vorinstanz hatte die Ansetzung einer Nachfrist mit der Begründung abgelehnt, die von einer rechtskundigen Person verfasste Beschwerdeschrift setze sich in keiner Weise mit dem formellen Gesichtspunkt des Nichteintretens der IV-Stelle auf die Einsprache der Versicherten auseinander. Das Gericht liess offen, ob die Vorinstanz das Vorliegen einer rechtsgenüglichen Beschwerdebegründung in der Sache zu Recht verneint habe. Es stellte fest, das kantonale Gericht wäre so oder anders gehalten gewesen, der Beschwerdeführerin eine Nachfrist zur Verbesserung der den gesetzlichen Anforderungen nicht genügenden Eingabe zu setzen, mit der Androhung, dass sonst auf die Beschwerde nicht eingetreten werde. Nur ein offensichtlicher Rechtsmissbrauch vermöchte den Verzicht auf die Einräumung einer Nachfrist zu begründen. Ein solcher liege aber nicht vor. Der Umstand allein, dass die Beschwerdeführerin vertreten gewesen sei und die Rechtsvertreterin eine mangelhafte Rechtsschrift eingereicht habe, stelle keinen Rechtsmissbrauch dar, geschweige denn einen offensichtlichen. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass sie die - unstreitig vorhandene - Beschwerdebegründung bewusst so gefasst habe, um damit eine Nachfrist zu erwirken (E. 3.2).
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Erwägung 5 | |
5.1 Der Sinn der Nachfrist nach Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG besteht im Schutz der rechtsunkundigen Partei, welche erst kurz vor Ablauf der Anfechtungsfrist in Unkenntnis der formellen Anforderungen eine namentlich ungenügend begründete Beschwerdeschrift einreicht. Sie soll - bei klar bekundetem Anfechtungswillen - nicht deshalb um die Rechtsmittelmöglichkeit gebracht werden (vgl. BGE 108 Ia 209 E. 2b S. 210). Mit dieser ratio legis verträgt es sich nicht, diejenige Partei schlechter zu stellen, welche kurz vor Ablauf der Anfechtungsfrist einen Rechtsvertreter mandatiert, sei es weil sie sich erst dann zu einer Beschwerde entschliessen konnte, sei es aus Nichtwissen darum, dass eine substanziierte Begründung in der Regel genügende Aktenkenntnis erfordert, und diesem damit verunmöglicht, eine hinreichend begründete Eingabe zu verfassen. Die Ablehnung des Mandats in einem solchen Fall, was gemäss Vorinstanz als eine mögliche Alternative in Betracht zu ziehen ist (E. 3 in fine), wird dem Schutzgedanken von Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG nicht gerecht. Kann anderseits der kurz vor Ablauf der Anfechtungsfrist beauftragte Rechtsvertreter nicht rechtzeitig in die Akten Einsicht nehmen, läuft es im Ergebnis auf dasselbe hinaus, ob er eine summarische oder überhaupt keine Begründung einreicht. In beiden Fällen ist entweder gestützt auf Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG eine Nachfrist zur Behebung des formellen Mangels einer nicht rechtsgenüglichen (unvollständigen oder fehlenden) Begründung anzusetzen, oder es liegt ein zu Lasten der Beschwerde führenden Person gehendes rechtsmissbräuchliches Verhalten ihres Rechtsvertreters vor (in diesem Sinne für das Einspracheverfahren FRANZ SCHLAURI, Grundstrukturen des nichtstreitigen Verwaltungsverfahrens in der Sozialversicherung, in: Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], Verfahrensfragen in der Sozialversicherung, St. Gallen 1996, S. 9 ff., 68 f.). Insoweit erscheint die von der Rechtsprechung bisweilen statuierte, vorliegend ebenfalls von der Vorinstanz bejahte Pflicht, die Beschwerde auch ohne zumutbare Aktenkenntnis wenigstens summarisch zu begründen, nicht konsequent und sachgerecht. Im Übrigen kann allfälligen Missbräuchen auch dadurch vorgebeugt werden, dass die Nachfrist zur Verbesserung der Beschwerde in Bezug auf die Begründung entsprechend knapp bemessen wird (vgl. BGE 112 Ib 634 E. 2c S. 636).
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Bei rechtskundigen oder rechtskundig vertretenen Personen ist zwar Rechtsmissbrauch eher anzunehmen, weil ihnen das korrekte Vorgehen bekannt sein muss. Indessen kann im Rahmen der Anwendung von Art. 61 lit. b ATSG ein offensichtlicher Rechtsmissbrauch nicht schon darin erblickt werden, dass zunächst die Akten eingeholt und gleichzeitig eine vorsorgliche Beschwerde ohne oder lediglich mit summarischer Begründung eingereicht wird. Ohnehin ist Aktenkenntnis in aller Regel erforderlich, um überhaupt beurteilen zu können, ob eine Beschwerde Aussicht auf Erfolg hat, was wiederum mit zur sorgfältigen Mandatsausübung gehört. Ein solches Vorgehen scheint jedenfalls für das Einspracheverfahren in der Praxis nicht selten zu sein (vgl. BGE 115 V 422 E. 3a S. 426 f.) und wird auch in der Lehre nicht grundsätzlich als rechtsmissbräuchlich betrachtet (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, N. 15 zu Art. 52 ATSG; SCHLAURI, a.a.O., S. 67 f.; HANSJÖRG SEILER, Rechtsfragen des Einspracheverfahrens in der Sozialversicherung [Art. 52 ATSG], in: Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], Sozialversicherungsrechtstagung 2007, S. 65 ff., 84 f.).
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5.2 Im Lichte des Gesagten ist die Rechtsprechung dahin zu präzisieren, dass ein Rechtsmissbrauch, der einen Verzicht auf die gesetzlich vorgesehene Nachfrist zu rechtfertigen vermöchte, in der Regel dann nicht vorliegt, wenn aufgrund der Sachlage eine rechtsgenügliche Beschwerdebegründung praktisch nicht ohne Aktenkenntnis möglich ist, die rechtsunkundige Partei, welche selber die Akten nicht besitzt, in gutem Glauben erst kurz vor Ablauf der Beschwerdefrist einen Rechtsvertreter mandatiert, und diesem weder eine rechtzeitige Aktenbeschaffung noch eine sonstige hinreichende Beurteilung des Sachverhalts (z.B. aufgrund eines Instruktionsgesprächs mit dem Klienten) möglich ist. In solchen Fällen muss es als genügend betrachtet werden, wenn der Rechtsvertreter unverzüglich die Akten einholt und nach deren Eingang die innert Frist vorsorglich eingereichte Beschwerde mit einer Begründung ergänzt. Die I. sozialrechtliche Abteilung hat dieser Präzisierung der Rechtsprechung im Verfahren nach Art. 23 BGG nicht opponiert.
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Im Zeitpunkt der Mandatierung hatte die Rechtsvertreterin keine Sachverhalts- und Aktenkenntnis aus dem vorangegangenen Verwaltungsverfahren und - wie sie glaubhaft darlegt - beim Instruktionsgespräch vom wenig sach- und sprachkundigen Beschwerdeführer auch keine genügenden Anhaltspunkte erhalten, um die Verfügung substanziiert anfechten zu können. In dieser wurde zur Begründung der fehlenden Anspruchsberechtigung angeführt, aufgrund der Abklärungen sei eine behinderungsangepasste Erwerbstätigkeit bis mittelschwerer Art bei vollem Pensum bei eingeschränktem Leistungspensum zumutbar. Infolge der Einschränkungen ergebe sich beim - auf der Grundlage der Lohnstatistik des Bundes (LSE) ermittelten - Invalideneinkommen von Fr. 57'831.- ein Abzug von 15 %. Dies führe zu einem Erwerbseinkommen mit Behinderung von Fr. 49'156.35. Bei einem Valideneinkommen von Fr. 68'925.- betrage der Invaliditätsgrad 29 %. Auf der alleinigen Grundlage der Verfügung war ohne Akten- und Sachkenntnis eine substanziiert begründete Beschwerde nicht möglich. Fraglich ist zwar, weshalb nach der ersten Kontaktierung vom 18. Oktober 2007 die Vollmacht erst fünf Tage später am 23. Oktober 2007 unterzeichnet wurde, was eine entsprechend spätere Aktenzustellung durch die IV-Stelle zur Folge hatte. Dieses Zuwarten kann jedoch nicht als offensichtlich rechtsmissbräuchlich betrachtet werden. Sodann hat die Rechtsvertreterin die ergänzende Eingabe innert der zehntägigen Frist eingereicht, welche von der Vorinstanz üblicherweise als Nachfrist angesetzt wird (CHRISTIAN ZÜND, Kommentar zum Gesetz über das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich vom 7. März 1993, Diss. Zürich 1998, N. 9 zu § 18). Sie hat somit getan, was von ihr vernünftigerweise verlangt werden konnte. Auf die Beschwerde vom 25. Oktober 2007 samt ergänzender Eingabe vom 5. November 2007 wäre daher einzutreten gewesen. Der angefochtene Entscheid verletzt somit Bundesrecht.
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