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Informationen zum Dokument  BGE 135 V 23  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenhei ...
Erwägung 3
4. Da das kantonale Gericht keine tatsächlichen Feststellung ...
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3. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen und P. gegen X. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
9C_139/2008 / 9C_184/2008 vom 27. Oktober 2008
 
 
Regeste
 
Art. 66, Art. 73 Abs. 1 und 2 BVG; Klageverfahren vor dem kantonalen Berufsvorsorgegericht.  
Das kantonale Berufsvorsorgegericht ist innerhalb des Streitgegenstandes an die Parteibegehren im Klageverfahren nicht gebunden (E. 3.1 und 4).  
 
Sachverhalt
 
BGE 135 V, 23 (24)A. P. (geboren 1967) arbeitete vom 1. Juni 2001 bis Ende September 2004 als Angestellte bei der Firma X. Sie war während dieser Zeitspanne nicht bei der Vorsorgestiftung Z. (nachfolgend: Vorsorgestiftung) im Rahmen der beruflichen obligatorischen Vorsorge versichert, weil sie während ihrer Anstellungszeit den Mindestlohn nach BVG nicht erreicht haben soll.
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B. Mit Klage vom 9. Juli 2007 beantragte P., es sei die Firma X. zur Bezahlung von Arbeitgeberbeiträgen an die berufliche Vorsorge in Höhe von Fr. 1'294.80 nebst Zins zu 5 % seit 1. Oktober 2004 zu verpflichten. Die Firma X. liess in ihrer Klageantwort die Abweisung der Klage beantragen, soweit auf diese einzutreten sei. Mit Eingabe vom 8. Oktober 2007 stellte P. den Antrag, die Arbeitgeberin habe die eingeforderten Beiträge auf ihr Freizügigkeitskonto bei der Bank Y. zu bezahlen. Mit Replik vom 31. Dezember 2007 kam sie auf das ursprünglich gestellte Rechtsbegehren zurück und verdeutlichte, sie verlange nicht Leistung an sich selbst, sondern an die berufliche Vorsorge.
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Mit Entscheid vom 29. Januar 2008 wies das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt die Klage ab und verpflichtete die Klägerin, der Beklagten eine Parteientschädigung von Fr. 1'100.50 (zuzüglich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
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C. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Firma X. zu verpflichten, die aufgrund der gesetzlichen und reglementarischen Bestimmungen für die Zeitspanne vom 1. Januar 2002 bis 30. September 2004 geschuldeten Beiträge der beruflichen Vorsorge zugunsten der Klägerin im Betrag von Fr. 1'998.70 an die Vorsorgestiftung Z. zu überweisen.
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BGE 135 V, 23 (25)D. Die Firma X. nimmt zur Beschwerde Stellung, verzichtet aber darauf, einen Antrag zu stellen. P. lässt die Gutheissung der Beschwerde des BSV beantragen.
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E. P. lässt ebenfalls Beschwerde führen mit dem Antrag, die Firma X. sei zu verpflichten, ihr Beiträge an die berufliche Vorsorge im Gesamtbetrag von Fr. 1'294.80 nebst Zins zu 5 % seit 1. Oktober 2004 an die Vorsorgestiftung Z. zu bezahlen.
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Die Firma X. lässt die Abweisung der Beschwerde beantragen. Das BSV schliesst auf Gutheissung der Beschwerde unter Hinweis auf die Begründung in der eigenen Beschwerde.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerden gut.
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Aus den Erwägungen:
 
2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Gemäss Art. 105 Abs. 1 BGG legt das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG; Ausnahme: Beschwerden gemäss Art. 97 Abs. 2 BGG [Art. 105 Abs. 3 BGG]). Zu den Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 lit. a BGG gehören namentlich auch die unvollständige (gerichtliche) Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen (Urteile 9C_40/2007 vom 31. Juli 2007 E. 1; 9C_360/2007 vom 30. August 2007 E. 3; ULRICH MEYER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008 [nachfolgend: BSK BGG] N. 25, 36 und 58-61 zu Art. 105 BGG; HANSJÖRG SEILER UND ANDERE, Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2007, N. 24 zu Art. 97 BGG) und die Verletzung des Grundsatzes der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens (Art. 73 Abs. 2 BVG [SR 831.40]) als einer wesentlichen Verfahrensvorschrift (Urteile 9C_539/2007 vom 31. Januar 2008 E. 1; 8C_364/2007 vom 19. November 2007 E. 3.3; MEYER, in: BSK BGG, N. 60 zu Art. 105 BGG; vgl. auch MARKUS SCHOTT, in: BSK BGG, N. 17 zu Art. 97 BGG).
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Erwägung 3
 
3.1 Nach Art. 73 Abs. 2 BVG sehen die Kantone bei Streitigkeiten zwischen Vorsorgeeinrichtungen, Arbeitgebern und Anspruchsberechtigten ein einfaches, rasches und in der Regel kostenloses BGE 135 V, 23 (26)Verfahren vor, wobei das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen hat. Dieser im gesamten Sozialversicherungsprozess (vgl. Art. 61 lit. a ATSG [SR 830.1]) vorherrschende Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des Verfahrens lässt es zwar aufgrund der Dispositionsmaxime im Belieben der klägerischen Partei, den Streit zu definieren, den sie dem Berufsvorsorgegericht vortragen will (BGE 129 V 450 E. 3.2 S. 453), und aufgrund der Herrschaft über den Streitgegenstand auf das eingeklagte Rechtsbegehren ganz oder teilweise zu verzichten. Aufgrund des im Recht der beruflichen Vorsorge auf kantonaler Ebene vorgeschriebenen Klageverfahrens ergibt sich der Streitgegenstand einzig aus den Rechtsbegehren der Klage, und allenfalls, soweit zulässig, der Widerklage (BGE 129 V 450 E. 3.2 S. 452 f. mit Hinweis). Innerhalb des Streitgegenstandes ist das Berufsvorsorgegericht in Durchbrechung der Dispositionsmaxime an die Begehren der Parteien nicht gebunden. Diese im Anwendungsbereich des ATSG geltende Verfahrensregel (Art. 61 lit. d erster Satz ATSG) kommt auch im erstinstanzlichen Berufsvorsorgeprozess zum Zuge (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts B 6/89 vom 8. März 1990, in: SZS 1990 S. 268).
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3.2 Mit BGE 129 V 320 entschied das Eidg. Versicherungsgericht, dass bei Rügen der versicherten Person bezüglich der Abrechnungspflicht des Arbeitgebers (z.B. unterlassene Abrechnung des ganzen Lohnes oder bestimmter Lohnbestandteile) ausschliesslich dieser passivlegitimiert ist; hingegen ist alleine die Vorsorgeeinrichtung passivlegitimiert, soweit sich das Begehren der versicherten Person auf die konkrete Ausrichtung einer Leistung oder die unzutreffende Höhe der von der Vorsorgeeinrichtung anhand der (unbestrittenen) Beiträge berechneten Leistungen bezieht. Im Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts B 45/04 / B 46/04 vom 9. November 2004 ging es um Arbeitnehmer, die verlangten, dass auch auf den ihnen ausgerichteten Boni Beiträge an die Vorsorgeeinrichtung geleistet würden, womit auch eine höhere Austrittsleistung resultieren würde. Wie im genannten Urteil ausgeführt, verlangten die Beschwerdeführer somit nicht direkt eine höhere Austrittsleistung, sondern rügten, ihr Arbeitgeber habe unzulässigerweise auf den bezahlten Boni keine Beiträge mit der Vorsorgeeinrichtung abgerechnet. Damit war in erster Linie die Beitragsabrechnungspflicht und nicht die Höhe der Austrittsleistung streitig, weshalb gestützt auf BGE 129 V 320 ausschliesslich der Arbeitgeber, nicht aber die Vorsorgeeinrichtung passivlegitimiert war. Etwas anderes kann aus dem BGE 135 V, 23 (27)Urteil B 45/04 / B 46/04 vom 9. November 2004 nicht abgeleitet werden (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts B 65/05 vom 6. Februar 2006, in: SZS 2006 S. 469). Ist der Versicherungs- oder Freizügigkeitsfall bereits eingetreten, steht es aufgrund der Dispositionsmaxime im Belieben der klagenden Partei, ob sie die Klage gegen den Arbeitgeber auf Leistung von Beiträgen oder gegen die Vorsorgeeinrichtung auf (höhere) Leistungen unter Einbezug der nicht abgerechneten Entgelte einreichen will. Sofern sich ein Leistungsfall noch nicht ereignet hat, richtet sich die Klage gegen den Arbeitgeber auf Bezahlung der nicht oder nicht vollständig bezahlten Beiträge.
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3.3 Das kantonale Gericht ging im angefochtenen Entscheid davon aus, es sei unklar, was die beklagte Arbeitgeberin gemäss den von der Klägerin formulierten Rechtsbegehren leisten solle. Gehe man davon aus, die Klage ziele auf die Verpflichtung zur Leistung von Beiträgen ab, so müsste das Klagebegehren richtigerweise auf Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung an die Vorsorgeeinrichtung lauten. Die vorliegende Klage richte sich zwar gegen den Arbeitgeber der Klägerin, jedoch verlange diese Zahlung an sich selbst bzw. mit der Klageänderung Zahlung auf ihr Freizügigkeitskonto. Beides sei nicht richtig. Soweit sich die Klage auf Beiträge richte, sei sie folglich abzuweisen. Nehme man dagegen an, die Klage umfasse die Verpflichtung zu einer Versicherungsleistung, so müsste sie sich richtigerweise gegen die Vorsorgeeinrichtung richten. Soweit die Klage auf die Verpflichtung zu einer Leistung ziele, sei sie somit mangels Passivlegitimation des eingeklagten Arbeitgebers abzuweisen. Immerhin sei mit Blick auf die Aktenlage im Sinne eines obiter dictums festzuhalten, dass der als solcher nicht strittige Bruttolohn der Klägerin in den Jahren 2002 bis 2004 den Grenzbetrag für die Versicherungspflicht im Sinne von Art. 2 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 BVG übersteige.
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3.4 Das BSV erblickt in seiner Beschwerde in der vorinstanzlichen Argumentation einen Verstoss gegen die in Art. 73 Abs. 2 BVG enthaltenen Grundsätze der Einfachheit des Verfahrens und der Untersuchungsmaxime. Beide Verfahrensgrundsätze sollten den Versicherten ermöglichen, ihre Ansprüche aus der obligatorischen beruflichen Vorsorge weitgehend ohne Rechtsvertretung auf dem Prozessweg durchzusetzen. Die nicht vertretene Klägerin habe ihr Begehren ausreichend klar formuliert, indem sie beantragt habe, ihr seien von der Beklagten Arbeitgeberbeiträge an die berufliche Vorsorge zu BGE 135 V, 23 (28)bezahlen, und in der Replik noch explizit hinzufügte, sie verlange nicht Bezahlung an sich selber, sondern an die berufliche Vorsorge. Die Klägerin habe ihre Forderung in der Begründung ausdrücklich auf Art. 66 Abs. 2 BVG gestützt, gemäss welchem der Arbeitgeber der Vorsorgeeinrichtung die gesamten Beiträge schulde. Sie habe ihre Klage daher korrekterweise und bewusst gegen ihre ehemalige Arbeitgeberin und nicht gegen die Vorsorgeeinrichtung gerichtet (Hinweis auf BGE 129 V 320). Zudem habe sie ihre Klageänderung, mit welcher sie die Überweisung der ausstehenden Beiträge an ihre Freizügigkeitseinrichtung verlangt habe, wieder zurückgezogen. Mit diesem Vorgehen sei offensichtlich gewesen, was die Klägerin erreichen wollte, nämlich die Verpflichtung des ehemaligen Arbeitgebers zur Bezahlung der für die Jahre 2002 bis 2004 geschuldeten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge an die Vorsorgestiftung.
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3.5 Der Betrachtungsweise des BSV ist in allen Teilen beizupflichten. Mit Eingabe vom 9. Juli 2007 hat die Klägerin gegen ihre ehemalige Arbeitgeberin Klage eingereicht und den Antrag gestellt, die "Beklagte sei zu verpflichten, der Klägerin Arbeitgeberbeiträge an die berufliche Vorsorge im Gesamtbetrag von Fr. 1'294.80 nebst Zins zu 5 % seit dem 1. Oktober 2004 zu bezahlen". In der Replik vom 31. Dezember 2007 erklärte sie den Verzicht auf die mit Eingabe vom 8. Oktober 2007 vorgenommene Klageänderung auf Überweisung der Beiträge auf ihr Freizügigkeitskonto und hielt am ursprünglichen Klagebegehren fest, wobei sie dieses dahingehend bekräftigte, sie verlange nicht Leistung an sich selbst, sondern "an die berufliche Vorsorge". Damit war - wie dies auch die Beschwerde führende Klägerin vorbringen lässt - hinreichend klar, dass sie als nicht vertretene Rechtsuchende beantragte, es sei ihr Arbeitgeber zu verpflichten, die ausstehenden Beiträge an die berufliche Vorsorge, d.h. an die Vorsorgestiftung zu bezahlen. Da die Klägerin bewusst den Arbeitgeber eingeklagt und die Bezahlung der Beiträge, nicht jedoch die Austrittsleistung verlangt hat, ist der Arbeitgeber im vorliegenden Prozess passiv legitimiert (BGE 129 V 320). Das kantonale Gericht hat daher zu Unrecht die Klage abgewiesen.
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4. Da das kantonale Gericht keine tatsächlichen Feststellungen zur Höhe der geschuldeten Beiträge getroffen hat, ist der Sachverhalt vom Bundesgericht zu ergänzen (E. 2 hievor). Aus den Akten ergibt sich und ist auch unbestritten, dass die Klägerin in den Jahren 2002 bis 2004 Fr. 26'850.-, Fr. 31'750.- und Fr. 25'525.- Bruttolohn erhalten hat. Damit hätte sie in diesen Jahren angesichts der BGE 135 V, 23 (29)in Art. 2 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 BVG festgeschriebenen Mindestschwelle in der obligatorischen beruflichen Vorsorge versichert werden müssen. Diese Versicherungspflicht kann nicht dadurch umgangen werden, dass der Arbeitgeber anfangs Jahr ein mutmassliches Einkommen meldet, das unter dem Mindestlohn liegt. Die paritätischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge betragen je Fr. 999.35, was insgesamt Fr. 1'998.70 ergibt. Zwar hat die Klägerin lediglich den Betrag von Fr. 1'294.80 eingeklagt. Das erstinstanzliche Gericht hätte jedoch über das Begehren zugunsten der Klägerin hinausgehen dürfen (E. 3.1 hievor). Da es sich aufgrund des Grundsatzes der Raschheit des Verfahrens und aus prozessökonomischen Gründen nicht rechtfertigt, die liquide Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, ist es entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin dem Bundesgericht nicht verwehrt, über den Antrag der Klägerin hinauszugehen. Es kommt hinzu, dass sich der eingeklagte Forderungsbetrag lediglich auf die Arbeitgeberbeiträge bezieht. Nach Art. 66 Abs. 2 und 4 BVG hat der Arbeitgeber indessen seiner Vorsorgeeinrichtung die Arbeitnehmer- und die Arbeitgeberbeiträge zu bezahlen. Die Beschwerdegegnerin ist daher zu verpflichten, der Vorsorgestiftung Z. Fr. 1'998.70 nebst Zins zu 5 % seit 1. Oktober 2004 zu bezahlen. Es bleibt der Vorsorgestiftung unbenommen, von der auszurichtenden Austrittsleistung unter den Voraussetzungen des Art. 39 Abs. 2 BVG die nicht vom Lohn abgezogenen Arbeitnehmerbeiträge zu verrechnen (vgl. dazu auch BGE 128 V 224).
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