BGE 137 V 13 | |||
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2. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle des Kantons Graubünden gegen S. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_65/2010 vom 17. Januar 2011 | |
Regeste |
Art. 8 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 und 4 IVG; Art. 14 IVV; Art. 2 Abs. 1 HVI; Ziff. 1.03 HVI-Anhang; Kostenvergütung für definitive Brust-Exoprothesen als Hilfsmittel der Invalidenversicherung. | |
Sachverhalt | |
A. Die 1951 geborene S. musste sich am 22. Februar 2008 einer rechtsseitigen brusterhaltenden Tumorektomie mit Entfernung des Sentinel-Lymphknotens unterziehen. Im Oktober 2008 ersuchte sie die Invalidenversicherung um Kostenvergütung für die selbst angeschaffte Brust-Teilprothese. Mit Verfügung vom 12. März 2009 lehnte die IV-Stelle des Kantons Graubünden (nachfolgend: IV-Stelle) das Hilfsmittelgesuch für die definitive Brust-Exoprothese ab, weil keine Brustamputation durchgeführt worden sei.
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B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden hiess die dagegen eingereichte Beschwerde mit Entscheid vom 2. Dezember 2009 gut und verpflichtete die IV-Stelle zur Kostenvergütung für die Brust-Teilprothese (einschliesslich Spezialbüstenhalter).
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C. Die IV-Stelle führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.
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Während S. auf Abweisung der Beschwerde schliesst, soweit darauf einzutreten sei, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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2.2 Unter Hilfsmittel im IV-rechtlichen Sinne ist ein Gegenstand zu verstehen, dessen Gebrauch den Ausfall gewisser Teile des menschlichen Körpers zu ersetzten vermag (BGE 131 V 9 E. 3.3 S. 13; BGE 115 V 191 E. 2c S. 194 mit Hinweis). Daraus ist zu schliessen, dass der Gegenstand ohne strukturelle Änderung ablegbar und wieder verwendbar sein muss. Dieses Erfordernis bezieht sich jedoch nicht nur auf den Gegenstand selber, sondern auch auf den menschlichen Körper und dessen Integrität. Ein Gegenstand, der seine Ersatzfunktionen nur erfüllen kann, wenn er zuerst durch einen eigentlichen chirurgischen Eingriff ins Körperinnere verbracht wird und nur auf gleiche Weise wieder zu ersetzen ist, stellt kein Hilfsmittel im Sinne des IVG dar (BGE 115 V 191 E. 2c S. 194; BGE 101 V 267 E. 1b S. 269 mit Hinweisen). Entsprechend dieser Definition kann einer implantierten Brustprothese (Endoprothese), die mittels Operation eingesetzt wird, kein Hilfsmittelcharakter im Rechtssinn zuerkannt werden. Demgemäss sind denn auch Brustimplantate in der vom EDI gestützt auf Art. 21 IVG und Art. 14 IVV erlassenen Hilfsmittelliste im Anhang zur HVI nicht aufgeführt (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 254/98 vom 3. März 1999 E. 1).
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Erwägung 4 | |
4.1 Das Ausmass des operativen Eingriffs bei Brustkrebs wird von der bildgebenden Mammadiagnostik, vom präoperativ vorliegenden histopathologischen Befund und dem Wunsch der Patientin unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Tumorgrösse zum Brustvolumen bestimmt. Bei über 75 % der an Brustkrebs erkrankten Frauen gelangt heute ein brusterhaltendes Behandlungskonzept (mit nachfolgender Strahlentherapie) zur Anwendung, welches die chirurgische Tumorentfernung bei möglichst intaktem äusserem Erscheinungsbild und normaler Konsistenz der betroffenen Brust gewährleisten soll. Neben dieser brusterhaltenden Therapie, die sich weltweit zum operativen Standardverfahren mit noch zunehmender Indikationsstellung entwickelt hat, ist in rund 25 % der Fälle weiterhin eine Mastektomie (auch: Mamma-Amputation, Ablatio Mammae), d.h. die operative Entfernung der Brust erforderlich. Die heute gebräuchliche Form der modifiziert radikalen Mastektomie umfasst die Entfernung des gesamten Brustdrüsengewebes einschliesslich der Fascie des Musculus pectoralis major, der Haut, der Brustwarze und des Warzenvorhofs. Im Gegensatz zur früher üblichen Operationstechnik bleibt die Pectoralismuskulatur erhalten. Sowohl bei der brusterhaltenden Therapie als auch bei der modifiziert radikalen Mastektomie erfolgt zusätzlich eine Entfernung axillärer Lymphknoten oder allenfalls bloss des Sentinel-Lymphknotens. Sodann können beide operativen Behandlungskonzepte mit plastisch-chirurgischen Eingriffen bzw. mit einem simultanen oder sekundären sog. Wiederaufbau der Brust (mit Implantaten oder Eigengewebe) kombiniert werden (zum Ganzen: ILONA FUNKE UND ANDERE, Operative Therapie des primären Mammakarzinoms und Rekonstruktionsverfahren, in: Manual Mammakarzinome, 12. Aufl., München 2009, S. 119 ff., 119-123; HARALD MEDEN, Operative Diagnostik und Therapie beim Mammakarzinom, in: Mammakarzinom: Neue Aspekte zur Diagnostik und Therapie, Berlin 2009, S. 1 ff., 2-4; GEORGES VLASTOS UND ANDERE, Chirurgie du cancer du sein, Revue Médicale Suisse [RMS]2007 S. 2389 ff., 2389-2393; derselbe und andere, Innovations dans le traitement locorégional du cancer du sein, RMS 2010 S. 2016 ff.).
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4.2 Den unterschiedlichen Operationsverfahren und den daraus resultierenden Veränderungen im Körperbild der betroffenen Frauen entsprechen die verschiedenen Arten von Brust-Exoprothesen, mit denen ein optischer Ausgleich angestrebt wird. Fachleute empfehlen, sich etwa sechs bis acht Wochen nach der Operation mit der Wahl einer definitiven Brustprothese zu befassen (die Narbe hat sich bis dann meistens stabilisiert und die Schwellungen sind abgeklungen). Bei Mastektomie ohne nachfolgende Brustrekonstruktion werden (serienmässig hergestellte, im Fachgeschäft individuell abgestimmte) Vollprothesen getragen. Auch nach einer brusterhaltenden Operation (oder bei ästhetisch nicht befriedigendem Wiederaufbau nach Brustamputation) können hinsichtlich Form und Volumen beider Brüste augenfällige Unterschiede bestehen. Für eine kosmetische Angleichung an die gesunde Seite stellt die moderne Brustprothetik eine grosse Auswahl an Teil- oder Ausgleichsprothesen zur Verfügung (so körpergerecht geformte Büstenhalter-Einlagen aus Silikon; die ganze Brust oder Teile davon bedeckende Schalenprothesen etc.; vgl. den bereits erwähnten Ratgeber der Krebsliga Schweiz, S. 7 ff.).
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Erwägung 5 | |
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Eine historisch orientierte Auslegung ist für sich allein nicht entscheidend. Anderseits vermag aber nur sie die Regelungsabsicht des Gesetzgebers (die sich insbesondere aus den Materialien ergibt) aufzuzeigen, welche wiederum zusammen mit den zu ihrer Verfolgung getroffenen Wertentscheidungen verbindliche Richtschnur des Gerichts bleibt, auch wenn es das Gesetz mittels teleologischer Auslegung oder Rechtsfortbildung veränderten, vom Gesetzgeber nicht vorausgesehenen Umständen anpasst oder es ergänzt (BGE 129 I 12 E. 3.3 S. 16; BGE 129 V 95 E. 2.2 S. 98).
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Erwägung 5.3 | |
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5.3.2 In systematischer Hinsicht ergibt sich bereits aus dem in der streitigen Ziff. 1.03 HVI-Anhang selber angeführten alternativen Anwendungsbereich "bei Vorliegen eines Poland-Syndroms", dass der Verordnungsgeber nicht etwa nur bei vollständiger operativer Entfernung oder vollständigem Fehlen der Brust einen entsprechenden Hilfsmittelanspruch anerkennen wollte. Beim Poland-Syndrom handelt es sich um einen seltenen Fehlbildungskomplex, welcher sich u.a. in einer einseitigen Hypo- oder Aplasie der Brust äussern kann (Roche Lexikon Medizin, 5. Aufl. 2003, S. 1487). Neben dem Fehlen (Aplasie) kann also nach der Regelungsabsicht des EDI auch eine Unterentwicklung (Hypoplasie) der einen Brust (im Vergleich zur andern) Anspruch auf eine definitive Brust-Exoprothese geben. Die von einer Hypoplasie bei Poland-Syndrom betroffene Frau benötigt in gleicher Weise wie brusterhaltend operierte Krebspatientinnen oder solche, bei denen der Brustaufbau nach Mastektomie nicht zur Wiederherstellung des früheren Erscheinungsbildes führte, Teil- oder Ausgleichsprothesen im hievor (E. 4.2) umschriebenen Sinne.
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5.3.3 Auch aus teleologischer (zweckbezogener) Sicht verbietet sich eine wortwörtliche Auslegung von Ziff. 1.03 HVI-Anhang. Das Eidg. Versicherungsgericht hat festgestellt, dass bei der Konkretisierung der Einfachheits- und Zweckmässigkeitsanforderung an ein bestimmtes Hilfsmittel auf die technische Entwicklung Rücksicht zu nehmen ist. Die Hilfsmittelversorgung muss zeitgemäss sein (BGE 132 V 215 E. 4.3.3 S. 226 f.; FRIEDRICH BELLWALD, Hilfsmittel gemäss Art. 14 ATSG, SZS 2009 S. 461 ff., 462; derselbe, Der Begriff des Hilfsmittels in der Unfallversicherung, SZS 2005 S. 309 ff., 311). Diese Überlegungen sind gleichermassen im Zusammenhang mit dem in der Hilfsmittelliste vorgeschriebenen jeweiligen Anwendungsbereich eines Hilfsmittels anzustellen. Wenn der Verordnungsgeber - wie dargelegt (E. 5.3.1 hievor) - im Lichte des seinerzeitigen Erkenntnisstandes einzig die Mamma-Amputation als Anwendungsfall für die Versorgung mit einer Brust-Exoprothese nach Krebserkrankung zu erblicken vermochte, darf sich die Invalidenversicherung dem (damals nicht voraussehbaren) Fortschritt der operativen Therapie beim Mammakarzinom, namentlich des brusterhaltenden Behandlungskonzepts, nicht einfach verschliessen. Vielmehr verlangt die aufgezeigte Regelungsabsicht des EDI, nämlich die wesentliche Erleichterung bei der Pflege gesellschaftlicher Kontakte und beim Auftreten in der Öffentlichkeit, dass sämtliche versicherten Frauen, die organisch bedingt (Poland-Syndrom, Agenesie der Mamma) oder nach einer Krebsoperation (welcher Art auch immer) ein augenfälliges Brustvolumendefizit aufweisen, gegenüber der Invalidenversicherung Brust-Exoprothesen in Form definitiver Voll- oder Teilprothesen beanspruchen können.
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Unbestrittenermassen verlor die Beschwerdegegnerin durch die bei ihr vorgenommene Krebsoperation rund ein Drittel des Volumens der rechten Brust. Die Invalidenversicherung hat ihr daher die Kosten der zur Wiederherstellung eines ausgeglichenen Körperbildes selbst angeschafften definitiven Brust-Teilprothese (einschliesslich Zubehör) nach dem anwendbaren Tarifvertrag zu vergüten. Dies führt zur Abweisung der von der IV-Stelle erhobenen Beschwerde.
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