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19. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Unia Arbeitslosenkasse gegen K. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_564/2010 vom 11. April 2011 | |
Regeste |
Art. 14 Abs. 2 AVIG; Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit, ähnliche Gründe. | |
Sachverhalt | |
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Am 5. März 2009 stellte K. Antrag auf Arbeitslosenentschädigung und gab an, sie sei bereit und in der Lage, teilzeitlich, im Rahmen von 50 % einer Vollzeitbeschäftigung, erwerbstätig zu sein. Mit Verfügung vom 1. April 2009 verneinte die Unia Arbeitslosenkasse einen Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung mit der Begründung, K. habe weder die Beitragszeit erfüllt, noch liege ein Befreiungsgrund vor. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 21. August 2009).
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B. In Gutheissung der dagegen geführten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den Einspracheentscheid auf, stellte in den Erwägungen fest, K. sei von der Erfüllung der Beitragszeit befreit, und wies die Sache zur Prüfung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen und zur neuen Verfügung an die Arbeitslosenkasse zurück (Entscheid vom 28. Mai 2010).
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C. Die Arbeitslosenkasse erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid des kantonalen Gerichts sei aufzuheben.
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K. lässt sich nicht vernehmen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) äussert sich in seiner Stellungnahme in gutheissendem Sinn.
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D. Am 11. April 2011 hat die I. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts eine öffentliche Beratung durchgeführt.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 4 | |
4.1 Gemäss Art. 14 Abs. 2 AVIG (SR 837.0) sind Personen von der Erfüllung der Beitragszeit befreit, die wegen Trennung oder ![]() | 8 |
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Erwägung 5 | |
5.1 Das kantonale Gericht untersucht, ob an dieser Rechtsprechung festgehalten werden kann und kommt zum Schluss, dass die Auflösung eines Konkubinats in einer besseren Erkenntnis der ratio legis von Art. 14 Abs. 2 AVIG als ähnlicher Grund für eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit gelten müsse. Während das Familienrecht einen rechtlich verbindlichen und klaren Rahmen von Rechten und Pflichten für nahe menschliche Beziehungen schaffe, um diesen hinreichenden Schutz zu gewährleisten, verfolge das Sozialversicherungsrecht die Absicherung der ganzen Bevölkerung oder eines grossen Teils davon gegen die wirtschaftlichen Folgen sozialer Risiken und diene dem Ausgleich von damit verbundenen Schäden oder der Tragung von Lasten. Ein legitimes Interesse an wirtschaftlichem Ausgleich bestehe aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht auch ausserhalb familienrechtlicher Pflichten. Vergleichbarer Tatbestand für die Betrachtung der Auflösung des Konkubinats als ähnlicher Grund bezüglich der Beitragsbefreiung sei die Scheidung, welche eine familienrechtliche Statusänderung bewirke. Ein der Scheidung ähnlicher Grund könne aber kein familienrechtlicher Statusbegriff sein, denn sonst wäre er nicht nur ähnlich, sondern gleichwertig. Die ![]() | 10 |
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Erwägung 6.2 | |
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Mit Art. 14 Abs. 2 AVIG, in Kraft seit 1. Januar 1984, wurde eine Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit nicht nur bei Eintritt ins Erwerbsleben, sondern auch bei einer beruflichen Umstellung ![]() | 16 |
In BGE 123 V 219 sah das Eidg. Versicherungsgericht keine Veranlassung, auf die mit BGE 106 V 58 begründete Rechtsprechung zurückzukommen. Zwar stellte es fest, das Konkubinat stelle zwischenzeitlich keine Besonderheit mehr dar und bleibe auch nicht ohne rechtliche Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Konkubinatspartnern. Da das Sozialversicherungsrecht des Bundes aber nach wie vor an die Begriffe des Zivilrechts, namentlich des Familienrechts, anknüpfe, könnten die rechtlichen Auswirkungen einer ![]() | 17 |
Der vorliegend im Vordergrund stehende Satzteil des Art. 14 Abs. 2 AVIG - Befreiung von der Erfüllung der Beitragszeit "aus ähnlichen Gründen" - ist seit BGE 123 V 219 unverändert geblieben. Nach wie vor wäre allein gestützt auf die Formulierung der Gesetzesbestimmung eine Beitragsbefreiung zufolge Konkubinatsauflösung somit grundsätzlich möglich.
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6.2.2 Seitherige Änderungen sind allerdings in anderen Bereichen zu verzeichnen. So wurde namentlich mit BGE 125 V 205 die Rechtsprechung, wonach haushaltführende Konkubinatspartnerinnen AHV-rechtlich als angestellte Haushälterinnen zu qualifizieren sind, aufgegeben. Diese Praxis entstand aus dem tatsächlichen Bedürfnis nach sozialer Absicherung für diese Personen, indem Art. 5 Abs. 2 AHVG (Beiträge von Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit; massgebender Lohn) analog zur Anwendung gebracht wurde (BGE 125 V 205 E. 7b S. 216). Eine Frau, die in einem eheähnlichen Verhältnis mit einem Mann lebt, den gemeinsamen Haushalt besorgt und von ihrem Partner Unterhaltsleistungen erhält, übte nach dieser Praxis eine beitragspflichtige Beschäftigung aus (BGE 125 V 205 E. 7g S. 217 f.; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts C 162/96 vom 27. August 1997 E. 3a, nicht publ. in: BGE 123 V 219, aber in: ARV 1998 S. 21). Dieser Versicherungsschutz fiel mit der Aufgabe der Rechtsprechung weg. Gemildert wurde diese Konsequenz zunächst durch Art. 13 Abs. 2bis AVIG (in Kraft vom 1. Januar 1996 bis 30. Juni 2003). Gemäss dieser Bestimmung wurden Zeiten, in denen Versicherte - unabhängig von ihrem Zivilstand - keine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hatten, weil sie sich der Erziehung von Kindern unter 16 Jahren widmeten, als Beitragszeit angerechnet. Die 3. AVIG-Revision führte allerdings zu einem Systemwechsel: Die Erziehungszeiten werden nunmehr nicht mehr als Beitragszeiten anerkannt; dafür wird seit Inkrafttreten des Art. 9b AVIG auf den 1. Juli 2003 im Falle von Erziehungszeiten, ebenfalls unabhängig vom Zivilstand, unter bestimmten weiteren Voraussetzungen entweder die Rahmenfrist für den Leistungsbezug (Art. 9b Abs. 1 AVIG) oder für die Beitragszeit (Art. 9b Abs. 2 AVIG) verlängert. Das kantonale Gericht weist zu Recht darauf hin, dass diese Entwicklung eine faktische Verschlechterung für nichteheliche Lebenspartner beim Dahinfallen des Zusammenlebens oder der aus ![]() | 19 |
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Aus den Weisungen des SECO ergibt sich nichts anderes. Nach Ziffer B196 des Kreisschreibens des SECO über die Arbeitslosenentschädigung (KS ALE), gültig ab Januar 2007, liegen ähnliche Gründe im Sinne von Art. 14 Abs. 2 AVIG unter anderem dann nicht vor, wenn ein Konkubinat aufgelöst wird.
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6.2.4 Mit Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 18. Juni 2004 über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare (Partnerschaftsgesetz, PartG; SR 211.231) auf den 1. Januar 2007 wurde die eingetragene Partnerschaft im Sozialversicherungsrecht während ihrer Dauer einer Ehe (Art. 13a Abs. 1 ATSG) und die gerichtliche Auflösung der eingetragenen Partnerschaft einer Scheidung gleichgestellt (Art. 13a Abs. 3 ATSG). Mit Blick auf Art. 13a Abs. 1 und 3 ATSG ist somit eine versicherte Person bei gerichtlicher Auflösung der eingetragenen Partnerschaft gestützt auf Art. 14 Abs. 2 AVIG von der Erfüllung der Beitragszeit befreit, falls die übrigen Voraussetzungen (namentlich finanzielle Notwendigkeit, eine ![]() | 22 |
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Unverändert geblieben ist seitdem die - im Gegensatz zur Ehe - während der Dauer einer eheähnlichen Gemeinschaft mangelnde gesetzliche Verpflichtung zu gegenseitigem Unterhalt. Wird eine lebensprägende Ehe geschieden, so haben die Partner Anspruch auf Fortführung der ehelichen Lebenshaltung (BGE 135 III 59 E. 4.1 S. 61). Die Beendigung der eheähnlichen Gemeinschaft unterliegt keinerlei Schranken materieller oder formeller Art; sie kann jederzeit formlos aufgelöst werden und begründet weder eine gegenseitige Unterstützungspflicht noch einen Unterhaltsanspruch für die Zeit danach. Das Konkubinat verschafft den Partnern mit anderen Worten nach wie vor keine rechtlich geschützte Vertrauensposition (BGE 135 III 59 E. 4.2 S. 63). Dennoch hat die faktische Leistung von regelmässigem Unterhalt an einen Konkubinatspartner für diverse Rechtsgebiete Folgen (vgl. die Zusammenstellung in: AEBI-MÜLLER/WIDMER, Die nichteheliche Gemeinschaft im schweizerischen Recht, Jusletter vom 12. Januar 2009 S. 5 ff.).
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Es ist dem SECO beizupflichten, dass sich die gesellschaftlichen Ansichten in Bezug auf das Konkubinat in den letzten Jahrzehnten - allerdings weniger seit BGE 123 V 219 bis heute, viel stärker im Zeitraum zwischen BGE 106 V 58 und BGE 123 V 219 - gewandelt haben, dies aber keine entsprechende Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Bezug auf die Gleich-/Ungleichbehandlung von Ehe und Konkubinat bewirkt hat. Der Versuch einer sozialen Absicherung für die haushaltführende Konkubinatspartnerin in AHV-rechtlicher Hinsicht wurde mit BGE 125 V 205 namentlich deshalb aufgegeben, weil ein entscheidender Unterschied zwischen ehelicher und eheähnlicher Gemeinschaft durch die Revision des ![]() | 25 |
7. Entgegen der Ansicht des kantonalen Gerichts liegt der zur Diskussion stehenden Rechtsprechung keine unzulässige Diskriminierung einer Lebensform im Sinne von Art. 8 Abs. 2 BV zugrunde. Ehe und Konkubinat sind unterschiedliche Formen des Zusammenlebens mit unterschiedlichen Rechtswirkungen. Am Umstand, dass die Konkubinatspartner keine gegenseitige Unterstützungspflicht, welche mit Art. 163 ZGB vergleichbar wäre, trifft, und noch weniger ein Unterhaltsanspruch für die Zeit danach besteht, womit das eheähnliche Zusammenleben den Partnern im Vergleich zur Ehe keine rechtlich geschützte Vertrauensposition verschafft, hat sich nichts geändert. Damit liegt weiterhin ein sachlicher Grund für die im Rahmen von Art. 14 Abs. 2 AVIG unterschiedliche Behandlung der betroffenen Personen nach Ehetrennung oder -scheidung einerseits und nach Auflösung eines Konkubinats anderseits vor und es besteht keine im Sinne des Gleichbehandlungsgebots von Art. 8 Abs. 1 BV unzulässige oder willkürliche (Art. 9 BV) Differenzierung. Die Voraussetzungen für eine Praxisänderung (E. 6.1 hiervor) sind nicht erfüllt.
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