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27. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. F. gegen Helsana Versicherungen AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_100/2011 vom 1. Juni 2011 | |
Regeste |
Art. 10, 16 f. und 19 Abs. 1 UVG; Heilbehandlung und Taggeld; Fallabschluss; Schleudertrauma. | |
Sachverhalt | |
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Die IV-Stelle des Kantons Zürich (nachfolgend: IV-Stelle) verneinte mit Verfügung vom 10. Juli 2008 einen Anspruch auf eine Invalidenrente der IV mangels hinreichenden Invaliditätsgrades.
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B. F. erhob gegen den Einspracheentscheid der Helsana vom 26. September 2008 Beschwerde auf Zusprechung weiterer Leistungen. Sie machte dabei namentlich geltend, die Frage der adäquaten Unfallkausalität der Beschwerden sei entgegen dem Unfallversicherer nicht nach der sog. Psycho-Praxis, sondern nach der sog. Schleudertrauma-Praxis zu prüfen und zu bejahen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde mit ![]() | 3 |
In einem weiteren, gleichentags ergangenen Entscheid wies das Sozialversicherungsgericht auch die von F. gegen die Verfügung der IV-Stelle vom 10. Juli 2008 eingereichte Beschwerde ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt F. beantragen, der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts betreffend UV-Leistungen und die Verfügung der Helsana vom 21. Februar 2008 (recte: der Einspracheentscheid der Helsana vom 26. September 2008) seien aufzuheben und der Unfallversicherer sei zu verpflichten, die gesetzlichen Leistungen zu erbringen; eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz, subeventuell an die Helsana zurückzuweisen.
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Die Helsana schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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D. F. hat auch gegen den vorinstanzlichen Entscheid vom 29. November 2010 betreffend IV-Leistungen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben. Darüber entscheidet das Bundesgericht mit heutigem Urteil im Verfahren 8C_103/2011.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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2.1 Ein weiterer Anspruch auf die vorübergehenden UV-Leistungen Heilbehandlung (Art. 10 UVG [SR 832.20]) und Taggeld (Art. 16 f. UVG) setzt nach Gesetz und Praxis voraus, dass von einer Fortsetzung der ärztlichen Behandlung noch eine namhafte Besserung des - unfallbedingt beeinträchtigten - Gesundheitszustandes erwartet werden kann oder dass noch Eingliederungsmassnahmen der IV laufen. Trifft beides nicht (mehr) zu, hat der Versicherer den Fall unter Einstellung der vorübergehenden Leistungen abzuschliessen und den Anspruch auf eine Invalidenrente und auf eine ![]() | 10 |
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Diese Rechtsprechung kann unter die Begriffe Schmerzstörungspraxis, Zumutbarkeitspraxis oder - wie dies nachfolgend geschieht - Überwindbarkeitspraxis gefasst werden. Sie hat mit dazu beigetragen, dass im Rahmen der 5. IV-Revision auf formellgesetzlicher Ebene neu bestimmt wurde, dass eine Erwerbsunfähigkeit nur vorliegt, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist (Art. 7 Abs. 2 zweiter Satz ATSG, in Kraft seit 1. Januar 2008; Botschaft vom 22. Juni 2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision], BBl 2005 4459 ff., 4530 f. Ziff. 1.6.1.5.3 a/cc).
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Im Anschluss an BGE 136 V 279 wurde die Frage der sinngemässen Anwendbarkeit der Überwindbarkeitspraxis auf verschiedene Leistungsarten der UV und weiterer Sozialversicherungszweige in mehreren Kommentaren teils kontrovers diskutiert (vgl. namentlich die Aufsätze verschiedener Autoren, HAVE 2011 S. 53 ff. und 86 f.; UELI KIESER, Entwicklungen im Sozialversicherungsrecht [Schwerpunkt: Leistungen], in: Personen-Schaden-Forum 2011, S. 259 ff.).
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2.2.2 Dabei wurde, soweit ersichtlich, einhellig davon ausgegangen, die Überwindbarkeitspraxis sei auch bei Schleudertraumen nicht auf die Beurteilung des Anspruchs auf Heilbehandlung nach Art. 10 UVG übertragbar (vgl. THOMAS GÄCHTER, Grundsätzliche Einordnung von BGE 136 V 279, HAVE 2011 S. 55 ff., 58; KIESER, a.a.O., S. 276 f.; MARKUS HÜSLER, BGE 136 V 279 : Auswirkungen auf die Unfallversicherung, HAVE 2011 S. 59 ff., 63). Das ist richtig und ergibt sich schon daraus, dass die Überwindbarkeitspraxis die Frage der invalidisierenden Wirkung einer Gesundheitsschädigung, mithin deren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit, beschlägt (Art. 7 Abs. 2 zweiter Satz ATSG; BGE 136 V 279; BGE 130 V 352). Demgegenüber besteht nach Art. 10 Abs. 1 Ingress UVG Anspruch "auf die zweckmässige Behandlung der Unfallfolgen". Der damit gewählte Gesichtspunkt hat keine Berührung mit dem Invaliditätsbegriff (vgl. KIESER, a.a.O., S. 276 f.). Sodann besteht mit den Kriterien betreffend Abschluss allfälliger IV-Eingliederungsmassnahmen und gesundheitliches Besserungspotential ein sachgerechtes Instrumentarium, um die Heilbehandlung nach Art. 10 UVG ![]() | 16 |
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Nach der - namentlich auf das erwähnte Urteil 8C_121/2010 abgestützten - Auffassung von HÜSLER, a.a.O., S. 63 trifft dies nicht zu. Demgegenüber leitet KIESER, a.a.O., S. 277 f. mit Fn. 85-87 aus BGE 136 V 279 - im Zusammenhang mit Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG und BGE 134 V 109 E. 9.4 S. 124 unten - ab, dass ein Taggeldanspruch regelmässig nach einer Frist von zwölf Monaten nicht mehr bestehe und nur ausnahmsweise mehr als sechs Monate andauern könne.
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2.2.3.1 BGE 136 V 279 äussert sich, wie GÄCHTER, a.a.O., S. 58 zutreffend erkannt hat, nicht zum Taggeldanspruch. Gleiches gilt für BGE 130 V 352. Beide Entscheide sind ausschliesslich zum Anspruch auf eine Invalidenrente der IV ergangen. Dieser Rentenanspruch, wie auch derjenige aus der obligatorischen Unfallversicherung (Art. 18 ff. UVG), weist zwar Berührungspunkte zum Anspruch auf Taggeld nach Art. 16 f. UVG auf. Namentlich geht es bei beiden Leistungsarten darum, den finanziellen Einbussen, welche sich aufgrund leidensbedingter Einschränkung des Leistungsvermögens ergeben, mit Geldzahlungen zu begegnen. Es bestehen aber auch erhebliche Unterschiede. So gilt die - auf unbestimmte Zeit zugesprochene - Invalidenrente als klassische Dauerleistung, während das Taggeld nur vorübergehenden Charakter aufweist (BGE 134 V 109 E. 4.1 S. 114; BGE 133 V 57 E. 6.6.1 S. 63). Der Rentenanspruch ist mithin auf dauerhafte Verhältnisse ausgerichtet und setzt solche auch voraus, während der Taggeldanspruch flexibler ausgestaltet ist und dadurch bei Veränderungen vergleichsweise einfach angepasst werden kann. Im Bereich der UV findet diese Differenzierung ihren Niederschlag vor allem auch in der gesetzlichen Regelung, dass das Taggeld (u.a.) mit dem Beginn der Rente eingestellt wird (Art. 16 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 1 zweiter Satz UVG), Letztere mithin Ersteres ablöst. Stattfinden soll dies - wie bei der Heilbehandlung -, wenn von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine ![]() | 19 |
2.2.3.2 Der Gesetzgeber hat den Gesichtspunkt der Überwindbarkeit zwar in Art. 7 Abs. 2 ATSG aufgenommen, welche Bestimmung die Erwerbsunfähigkeit und damit den Rentenanspruch betrifft, hingegen davon abgesehen, dies auch in den Bestimmungen zur UV-taggeldbestimmenden Arbeitsunfähigkeit (namentlich Art. 16 f. UVG; Art. 6 ATSG) zu tun.
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Es besteht keine begründete Veranlassung, die Überwindbarkeitspraxis dennoch auch auf das UV-Taggeld anzuwenden. BGE 136 V 279 E. 3.1 geht von der bisherigen - mit Bezug auf die obligatorische Unfallversicherung entwickelten und auch für die Invalidenversicherung massgebenden - Rechtsprechung aus, gemäss welcher eine bei einem Unfall erlittene Verletzung im Bereich der HWS auch ohne organisch nachweisbare (d.h. objektivierbare) Funktionsausfälle zu länger dauernden, die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beeinträchtigenden Beschwerden führen kann. Aus dem Fehlen organisch nachweisbarer Befunde lässt sich in solchen Fällen jedenfalls nicht direkt auf uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit schliessen. Gemäss diesem Urteil ist hingegen das allfällige Vorliegen einer invalidisierenden Wirkung des Leidens sinngemäss nach der Rechtsprechung zu den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 352; s. oben Ingress E. 2.2) zu beurteilen. Die dabei zu beachtenden Kriterien zeichnen sich durch die Bezugnahme auf eine längere Zeitdauer aus ("chronisch", "mehrjährig", "längerfristig", verfestigt"), und sie setzen die Durchführung einer längeren - letztlich nicht erfolgreichen - Heilbehandlung voraus ("therapeutisch nicht mehr angehbar", "unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und/oder stationärer Behandlungsbemühungen [auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz] und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen"). Sowohl die Bezugnahme auf die Dauer als auch die Voraussetzung der durchgeführten Heilbehandlung verbieten es, die volle Wiedererlangung der Fähigkeit, im bisherigen oder in einem anderen Beruf zumutbare Arbeit zu leisten (E. 2.1 oben), sinngemäss nach der Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352 zu beurteilen.
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Daran vermögen Art. 21 Abs. 1 lit. b IVG und BGE 134 V 109 entgegen KIESER (a.a.O., S. 278 Fn. 85-87; E. 2.2.2 hievor) nichts zu ![]() | 22 |
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Damit kann auch offenbleiben, ob die Überwindbarkeitspraxis gemäss BGE 136 V 279 auf die Folgen eines - bei der Beschwerdeführerin nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesenen - Schädel-Hirntraumas überhaupt anwendbar wäre.
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2.3.2 Die Experten des Begutachtungsinstituts Y. führten im Gutachten vom 6. Dezember 2007 aus, es bestehe derzeit kein Behandlungsbedarf. Jedoch werde die Wiederaufnahme der Physiotherapie zur Rekonditionierung und das Erlernen von Entspannungstechniken empfohlen. An anderer Stelle in der Expertise (und im ![]() | 27 |
Diese Aussagen der Gutachter des Begutachtungsinstituts Y. sprechen dagegen, dass eine Fortsetzung ärztlicher Behandlung angezeigt war, geschweige denn noch eine namhafte Besserung erwarten liess. Letzteres wird durch die übrigen medizinischen Akten ebenfalls nicht gestützt. Das gilt auch für den Bericht der Frau Dr. med. S. vom 11. Februar 2008. Darin wurden zwar weitere Therapien angeregt. Die Neurologin bestätigte aber nicht, dass diese eine namhafte Besserung versprachen. Dies wäre denn auch mit Blick auf die seit dem Unfall verstrichene Zeit und den Umstand, dass gemäss der Ärztin die bis dahin durchgeführten Behandlungen keine wesentliche Besserung erbracht hatten, als unwahrscheinlich zu betrachten. Die Helsana hat daher die Heilbehandlung und das Taggeld zu Recht eingestellt. Weiterer medizinischer Abklärungen bedarf es entgegen der in der Beschwerde vertretenen Auffassung nicht.
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