BGE 137 V 417 | |||
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43. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. B. gegen IV-Stelle des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_378/2010 vom 21. November 2011 | |
Regeste |
Art. 37 Abs. 2 IVG; Rentenzuschlag bei Frühinvalidität. |
Bei einer seit ihrer Jugend an einem invalidisierenden Gesundheitsschaden leidenden Versicherten, deren Vollzeitstudium über das vollendete 25. Altersjahr hinaus angedauert hat und die nach Abschluss ihrer erstmaligen beruflichen Ausbildung dauerhaft teilerwerbsunfähig ist, ist Art. 37 Abs. 2 IVG nur anwendbar, wenn vor Vollendung des 25. Altersjahrs infolge einer behinderungsbedingten Verzögerung in der Ausbildung der Anspruch auf eine Invalidenrente gemäss Art. 26bis IVV entsteht (E. 2.3). | |
Sachverhalt | |
A. Die 1981 geborene B. leidet an einer spinalen Muskelatrophie Typ II (Kugelberg-Welander), welche zu einer Parese der unteren Extremitäten und einer Kraftminderung der oberen Extremitäten führt. Die Invalidenversicherung anerkannte ein Geburtsgebrechen (Ziff. 383 GgV Anhang) und übernahm unter anderem die Mehrkosten für die Erlangung der Maturität (Anfang des Jahres 2001) sowie für das spätere Studium der Mathematik und die Absolvierung des höheren Lehramtes. Für die Belange der Invalidenversicherung galt die Ausbildung als seit Sommer 2007 abgeschlossen (Bericht des Eingliederungsverantwortlichen der Invalidenversicherung vom 4. Juli 2008). Seit August 2008 arbeitet B. in einem Teilpensum als Mathematiklehrerin. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau (nachfolgend: IV-Stelle) sprach ihr unter der gutachtlich abgestützten Annahme, sie sei als Lehrerin zu höchstens 50 Prozent arbeitsfähig, für die Zeit nach Abschluss der beruflichen Ausbildung (ab Juli 2007) eine halbe Invalidenrente zu (Verfügung vom 26. Oktober 2009).
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B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies die hiegegen erhobene Beschwerde ab, mit welcher die Erhöhung der Invalidenrente um einen Drittel (Art. 37 Abs. 2 IVG), eventuell die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zur ergänzenden Sachverhaltsermittlung bzw. zur Neuberechnung der Rentenhöhe, beantragt worden war (Entscheid vom 10. März 2010).
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erneuert B. die vorinstanzlich gestellten Anträge. (...)
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Die IV-Stelle verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
1.1 Strittig ist allein die Höhe der halben Invalidenrente, welche der am 23. April 1981 geborenen Beschwerdeführerin mit strittiger Verfügung vom 26. Oktober 2009 zugesprochen wurde. Nach Art. 37 Abs. 2 IVG betragen die Invalidenrente und allfällige Zusatzrenten einer versicherten Person mit vollständiger Beitragsdauer, die bei Eintritt der Invalidität das 25. Altersjahr noch nicht zurückgelegt hat, mindestens 133 1/3 Prozent der Mindestansätze der zutreffenden Vollrenten. Es fragt sich, unter welchen Umständen die seit ihrer Kindheit an einem invalidisierenden Gesundheitsschaden leidende Beschwerdeführerin, deren Vollzeitstudium über das vollendete 25. Altersjahr hinaus angedauert hat und die nach Abschluss ihrer erstmaligen beruflichen Ausbildung dauerhaft teilerwerbsunfähig ist, sich auf Art. 37 Abs. 2 IVG berufen kann.
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Erwägung 2 | |
2.1 Art. 37 Abs. 2 IVG (in seiner ursprünglichen Fassung) wurde mit der achten Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung in das IVG eingefügt (AS 1972 2497), um Versicherte, die vor dem Abschluss ihrer beruflichen Ausbildung invalid werden, mit den Geburts- und Kindheitsinvaliden rentenmässig gleichzustellen. In seiner Botschaft führte der Bundesrat aus, durch die Erhöhung der ausserordentlichen Invalidenrente für Geburts- und Kindheitsinvalide um 25 Prozent gemäss Art. 40 Abs. 3 IVG könne der Fall eintreten, dass Frühinvalide mit Beitragsleistungen niedrigere ordentliche Invalidenrenten als die Geburts- und Kindheitsinvaliden ohne Beitragsleistungen erhielten. Dies sei vorab bei jungen Versicherten möglich, die während der beruflichen Ausbildung invalid werden. Damit solche Frühinvalide, welche - sei es als gelegentlich Erwerbstätige oder als Nichterwerbstätige - verhältnismässig geringe Beiträge geleistet hätten, nicht benachteiligt würden, sei für sie eine Mindestgarantie vorgesehen. Sie erhielten über einen Zuschlag (von wenigstens einem Viertel der Mindestansätze der zutreffenden Vollrente) mindestens gleich hohe Renten wie die Geburts- und Kindheitsinvaliden. Diese Regelung müsse allerdings auf Versicherte bis zu einem Höchstalter beschränkt bleiben, solle sie ihrer Zweckbestimmung gerecht werden und nicht zu einer allgemeinen Erhöhung der Mindestrente führen. Deshalb sei in Anlehnung an den Anspruch auf Waisen- und Kinderrenten im Ausbildungsfall die Mindestgarantie jugendlichen Versicherten vorbehalten, die vor Vollendung des 25. Altersjahrs invalid werden (BBl 1971 II 1099 f. Ziff. 332 und 1138 Ziff. 62 zu Art. 37 Abs. 2 IVG). Nachdem der Zuschlag in Art. 40 Abs. 3 IVG in den parlamentarischen Beratungen der 8. AHV-Revision auf einen Drittel angesetzt worden war, wurde Art. 37 Abs. 2 IVG mit der 9. AHV-Revision entsprechend angeglichen (BBl 1976 III 72 Ziff. 62; AS 1978 406).
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2.2.2 Die Beschwerdeführerin konnte infolge ihres Geburtsgebrechens seit dem Jahr 1985 verschiedentlich Leistungen der Invalidenversicherung (medizinische Massnahmen, Hilfsmittel, berufliche Massnahmen) in Anspruch nehmen. Sie leitet daraus ab - und belegt es mit einem ärztlichen Zeugnis vom 28. April 2010 und einer Bestätigung ihrer Eltern vom 1. Mai 2010 -, dass sie mindestens seit April 2005 (in ihrem Studium) zu mehr als 40 Prozent eingeschränkt war. Mithin wird geltend gemacht, "Eintritt der Invalidität" bedeute im hiesigen Zusammenhang Eintritt der voraussichtlichen (ganzen oder teilweisen) Erwerbsunfähigkeit. Diese Auslegung des Invaliditätsbegriffs in Art. 37 Abs. 2 IVG bedeutete nach dem Gesagten eine Änderung der Rechtsprechung. Eine Praxisänderung lässt sich mit der Rechtssicherheit grundsätzlich nur vereinbaren, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht. Diese Gründe müssen umso gewichtiger sein, je länger die bisherige Rechtsanwendung für zutreffend erachtet wurde (BGE 137 V 314 E. 2.2 S. 316 mit Hinweisen).
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2.3 Eine Erhöhung des Mindestansatzes der Vollrente nach Art. 37 Abs. 2 IVG wäre begründet, wenn der Beschwerdeführerin aufgrund eines behinderungsbedingten Rückstandes in der beruflichen Ausbildung bis spätestens zur Vollendung des 25. Altersjahrs im April 2006 (nach Ablauf der einjährigen Wartezeit; Art. 28 Abs. 1 IVG) eine Invalidenrente gemäss Art. 26bis IVV zuzusprechen gewesen wäre (vgl. ZAK 1970 S. 296, I 224/69; ULRICH MEYER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 2. Aufl. 2010, S.333). Die Beschwerdeführerin müsste also durch ihr Leiden in der Absolvierung des Studiums so erheblich behindert gewesen sein, dass sie es (nur) infolge einer daraus resultierenden Verzögerung nicht bis spätestens April 2005 abschliessen konnte.
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Den Akten kann nicht entnommen werden, dass die Beschwerdeführerin - im hypothetischen Gesundheitsfall - überwiegend wahrscheinlich noch vor dem 24. Geburtstag (Wartejahr) das Studium abgeschlossen und eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte. Der einzige Hinweis auf die Studiendauer findet sich in einem Gesuch um Verlängerung der "Kostengutsprache für erstmalige berufliche Ausbildung" vom 29. November 2005. Die Beschwerdeführerin teilte der Verwaltung darin mit, in der ursprünglichen Verfügung sei für das Mathematikstudium eine Dauer von acht Semestern angenommen worden, "was das absolute Minimum ist und nur selten von jemandem geschafft wird". Da sie seit dem laufenden Semester parallel dazu das höhere Lehramt absolviere, um als Lehrerin an einer Mittelschule tätig sein zu können, werde sie das Studium voraussichtlich erst im Juni 2007 beenden. Zwar kann ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin während des Studiums in vielen täglichen Verrichtungen erheblich eingeschränkt war und durch die umfassende Unterstützung durch ihre Eltern in ihrer Lebensführung stark entlastet wurde (vgl. oben E. 2.2.2). Jedoch ist nicht ersichtlich, dass sich der gesamte Ausbildungsgang leidensbedingt verlängert hat. Mithin entstand der Rentenanspruch erst für die Zeit nach Abschluss der beruflichen Massnahme (Mitte des Jahres 2007; vgl. AHI 2001 S. 152, I 201/00 E. 3b). Ihr 25. Altersjahr hatte die Beschwerdeführerin bereits im April 2006 vollendet.
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2.4 Die Beschwerdeführerin macht schliesslich geltend, es komme einer unzulässigen Ungleichbehandlung gleich, wenn eine versicherte Person aufgrund des Umstandes, dass sie ein Studium absolviere, anders behandelt werde als andere Geburts- und Frühinvalide, für welche der Versicherungsfall hinsichtlich einer Rente regelmässig bereits im Zeitpunkt der Vollendung des 18. Altersjahrs eintrete (es sei denn, die Eingliederung dauere zu diesem Zeitpunkt noch an; Rz. 1032 des Kreisschreibens des BSV über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH] http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:34/lang:deu). Diese Konsequenz ist in der Bestimmung des Art. 37 Abs. 2 IVG angelegt und damit für das Bundesgericht massgebend (Art. 190 BV). Wie das BSV zu Recht darlegt, gibt die betreffende Ausbildung der Beschwerdeführerin die Möglichkeit, künftig ein höheres Einkommen zu erzielen. In gleicher Lage wie die Beschwerdeführerin befinden sich im Übrigen auch versicherte Personen, die studienbedingt bis zur Vollendung des 25. Altersjahrs kaum Einkommen erzielen konnten, bevor sie bald danach einen invalidisierenden Gesundheitsschaden erleiden.
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