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4. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau gegen Gemeinde X. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_727/2010 vom 27. Januar 2012 | |
Regeste |
Art. 21 Abs. 1 ELG; Art. 1a Abs. 3 aELG (aufgehoben auf Ende 2007); Art. 13 Abs. 1 ATSG; Art. 25 Abs. 1 und 2, Art. 377 Abs. 1 und 2 ZGB; Zuständigkeit für die Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistung. | |
Sachverhalt | |
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B. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die von der Gemeinde X. dagegen eingereichte Beschwerde mit Entscheid vom 10. August 2010 gut, hob die Verfügung der SVA Aargau vom 2. November 2009 auf und verpflichtete diese, den Anspruch von R. auf Ergänzungsleistung materiell zu prüfen und darüber zu verfügen.
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C. Die SVA Aargau führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids.
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Die Gemeinde X. verzichtet ausdrücklich auf eine Vernehmlassung zur Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragt deren Gutheissung, während das Versicherungsgericht des Kantons Aargau und die als Mitinteressierte beigeladene R. (vertreten durch ihre Mutter) auf eine Stellungnahme verzichten.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
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Erwägung 3.1 | |
3.1.1 Nach Art. 1a Abs. 3 aELG (aufgehoben auf Ende 2007) war der Kanton, in dem der Bezüger seinen Wohnsitz hatte, zuständig für die Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistung. Der Wohnsitz im Sinne dieser Vorschrift bestimmt sich nach den Art. 23-26 ZGB (Art. 13 Abs. 1 ATSG [SR 830.1] in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 ELG [SR 831.30] sowohl in der Fassung des am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen neuen Rechts als auch in derjenigen des abgelösten aELG). Der zivilrechtliche Wohnsitz einer Person befindet sich an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden ![]() | 8 |
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3.1.3 Eine derartige vom zivilrechtlichen Wohnsitz abweichende Regelung wurde im Bundesgesetz vom 24. Juni 1977 über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG; SR 851.1) verankert. Dessen Art. 5 bestimmt, dass der Aufenthalt in einem Heim, einem Spital oder einer andern Anstalt und die behördliche oder vormundschaftliche Versorgung einer ![]() | 10 |
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Gemäss Art. 21 Abs. 2 ELG bezeichnen die Kantone die Organe, die für die Entgegennahme der Gesuche und für die Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistungen zuständig sind; sie können die kantonalen Ausgleichskassen, nicht aber die Sozialhilfebehörden mit diesen Aufgaben betrauen. Während der Kanton Aargau - wie die meisten Kantone - die kantonale Ausgleichskasse (Sozialversicherungsanstalt) mit der EL-Durchführung betraut hat (§ 5 ![]() | 12 |
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In diesem Zusammenhang gilt es Folgendes klarzustellen: Die gemäss Art. 369 ZGB entmündigte, unter die elterliche Sorge ihrer Mutter gestellte R. (Art. 385 Abs. 3 ZGB) hat ihren (abgeleiteten) zivilrechtlichen Wohnsitz am Wohnsitz der Mutter (Art. 25 Abs. 1 ZGB; vgl. BGE 133 III 305 E. 3.3 S. 306 ff.; DANIEL STAEHELIN, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2010, N. 12 zu Art. 25 ZGB; SCHNYDER/MURER, Berner Kommentar, 3. Aufl. 1984, N. 22 zu Art. 376 ZGB), d.h. bis Juli 2009 in X., danach in Y. Entgegen den missverständlichen Ausführungen im angefochtenen Entscheid wie auch in der dagegen erhobenen Beschwerde spielt im hier zu beurteilenden Fall der Sitz der Vormundschaftsbehörde, welche die Aufsicht über die Versicherte ausübt (nunmehr Z., früher X.), keine Rolle. Art. 25 Abs. 2 ZGB, wonach bevormundete Personen ihren (ebenfalls abgeleiteten) Wohnsitz am Sitz der zuständigen Vormundschaftsbehörde haben, ist auf volljährige Entmündigte, die unter elterlicher Sorge stehen, nicht anwendbar. Dies ändert indessen nichts an der nachfolgend zu beantwortenden Rechtsfrage: ![]() | 14 |
Erwägung 3.4 | |
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3.4.2 Den Materialien zur Totalrevision des ELG lässt sich entnehmen, dass der Gesetzesentwurf zuhanden des Parlaments dem Bundesrat die Kompetenz einräumte, nach Anhörung der Kantone für in Heimen oder Spitälern lebende Personen besondere Zuständigkeitsbestimmungen zu erlassen (Art. 21 Abs. 1 zweiter Satz ELG-Entwurf gemäss Botschaft vom 7. September 2005 zur Ausführungsgesetzgebung zur NFA; BBl 2005 6029 ff., 6357 [Anhang 3]). Zur Begründung wurde ausgeführt, bei Heimbewohnern sei es in der Praxis zwischen den Kantonen immer wieder zu Streitigkeiten über die Zuständigkeit gekommen, "weil gerade die Wohnsitzfrage nicht immer ohne weiteres zu beantworten" sei (BBl 2005 6232 f. Ziff. 2.9.8.3 zu Art. 21 ELG). Auf Antrag seiner vorberatenden Kommission (Protokolle der Sitzung vom 18./19. Januar 2006 [S. 69 ff.] und derjenigen vom 6./7. Februar 2006 [S. 20 ff.]) beschloss der Ständerat als Erstrat, die Kompetenz des Bundesrates zu streichen und durch den nunmehr geltenden zweiten Satz von Art. 21 Abs. 1 ![]() | 16 |
3.4.3 Die dargelegte Entstehungsgeschichte der streitigen Norm zeigt, dass es dem Gesetzgeber darum ging, bei Heimbewohnern eine Kongruenz zwischen Ergänzungsleistung und Sozialhilfe herzustellen. Mit der dem ZUG nachempfundenen Ausnahmeregelung im zweiten Satz von Art. 21 Abs. 1 ELG sollten zum einen die zwischen den Kantonen immer wieder auftretenden, sich an der Wohnsitzfrage entzündenden Streitigkeiten über die ergänzungsleistungsrechtliche Zuständigkeit bei Heimbewohnern künftig möglichst vermieden werden (vgl. vorstehende E. 3.1.2 und 3.4.2 am Anfang). Zum andern ging die gesetzgeberische Regelungsabsicht dahin, die Benachteiligung der Standortkantone von Heimen, Anstalten und vergleichbaren Institutionen (vgl. hiezu vorne E. 3.1.2 f.) fortan zu verringern. Wie weit die Kongruenz zwischen Ergänzungsleistung und Sozialhilfe reicht, beantwortet sich nach der jeweiligen Rechtsanwendungslage. So hat das Bundesgericht im Zusammenhang mit dem fraglichen Eintritt einer EL-Bezügerin in eine der angeführten Einrichtungen festgestellt, ein solcher bleibe nach dem klaren Willen des Gesetzgebers, wie er auch im Wortlaut seinen Niederschlag gefunden hat, ohne Bedeutung für die Frage der Zuständigkeit für die Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistung, unabhängig davon, ob am Ort der Institution zivilrechtlicher Wohnsitz begründet wird. Zuständig ist bzw. bleibt der Kanton, in welchem die Ergänzungsleistung beziehende Person unmittelbar vor dem Heim- oder Anstaltseintritt Wohnsitz hatte. Insoweit stellt sich die in der Praxis häufig schwierige Frage der Abgrenzung von wohnsitzbegründendem freiwilligen Eintritt in ein Heim oder eine Anstalt und nicht wohnsitzrelevanter Unterbringung nicht mehr. Für den Fall eines Aufenthalts in einem Heim, einem Spital oder einer ![]() | 17 |
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3.4.5 Gründe für eine vom unmissverständlichen Wortlaut abweichende Auslegung von Art. 21 Abs. 1 zweiter Satz ELG (E. 3.4.1 hievor) bestehen nicht: Die erwähnte, vom Gesetzgeber ![]() | 19 |
Auch eine am Sinn und am Zweck (teleologisch) oder an der Entstehungsgeschichte der Norm orientierte Interpretation ändert nichts am bisher ermittelten Auslegungsergebnis. Keiner der angeführten, sich aus den Materialien ergebenden Aspekte der gesetzgeberischen Regelungsabsicht verlangt nach einer über den Wortlaut hinausgehenden Subsumtion des hier relevanten Sachverhalts unter die Ausnahme- statt unter die Grundregel (d.h. unter den zweiten statt den ersten Satz von Art. 21 Abs. 1 ELG). So kann die vorliegende Anknüpfung der ergänzungsleistungsrechtlichen Zuständigkeit an den abgeleiteten zivilrechtlichen Wohnsitz bevormundeter oder entmündigter, unter elterlicher Sorge stehender Heimbewohner offenkundig nicht dazu führen, dass sich - wie unter dem früheren aELG - an der oft schwierigen Abgrenzung zwischen wohnsitzbegründendem freiwilligem Eintritt ins Heim einerseits und nicht wohnsitzrelevanter Unterbringung anderseits Streitigkeiten unter den Kantonen entfachen (vgl. E. 3.4.2 f. hievor). Ebenso wenig kommt es nach der dargelegten Lösung zu einer nennenswerten Benachteiligung der Standortkantone von Heimen und Anstalten (vgl. dazu vorne E. 3.1.2 f. und 3.4.3).
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3.4.6 Die Auslegung der Ausnahmeregelung von Art. 21 Abs. 1 zweiter Satz ELG anhand der normunmittelbaren Kriterien führt ![]() | 21 |
Die der gesetzlichen Regelung widersprechende, vom BSV im Hinblick auf den vorliegenden Rechtsstreit ergänzte Verwaltungsweisung (Rz. 1330.02 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [WEL] in der ab 1. April 2011 gültigen Fassung http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:59) ist unbeachtlich.
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3.5 Nach dem Gesagten ging die Zuständigkeit für die Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistung von R. am 1. August 2009 von der Gemeinde X. auf die SVA Aargau über, als die Mutter der Leistungsbezügerin als (alleinige) Inhaberin der elterlichen Sorge in Y./AG neuen zivilrechtlichen Wohnsitz nahm.
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