BGE 138 V 140 | |||
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18. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Basler Versicherung AG gegen M. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_377/2011 vom 28. Februar 2012 | |
Regeste |
Art. 21 Abs. 5 ATSG; Art. 16 UVG. | |
Sachverhalt | |
A. Der 1970 geborene M. war als Geschäftsführer der Firma T. tätig und in dieser Funktion bei der Basler Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Basler) gegen Unfälle versichert. Am 8. August 2007 wurde er von der Kantonspolizei Zürich verhaftet, mit den Händen auf dem Rücken in Handschellen gelegt und in einem Kastenwagen in die Untersuchungshaft gefahren. Während des Transportes verlor er bei einer Unebenheit den Halt und erlitt dabei einen Schlag auf das rechte Handgelenk. Dr. med. W. diagnostizierte im Zeugnis vom 24. Oktober 2007 eine posttraumatische Handgelenkssymptomatik mit Verdacht auf beginnende Sudeck-Dystrophie und attestierte dem Versicherten ab dem 9. August 2007 eine vollständige und ab 15. Oktober 2007 eine 80-prozentige Arbeitsunfähigkeit. Die Basler anerkannte ihre grundsätzliche Leistungspflicht. Mit Verfügung vom 5. März 2008 stellte sie die Taggeldzahlungen für die Dauer der Untersuchungshaft vom 8. August bis 24. September 2007 ein. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 8. Oktober 2008 fest.
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B. Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich - soweit es darauf eintrat - unter Aufhebung des Einspracheentscheids vom 8. Oktober 2008 mit der Feststellung gut, dass dem Versicherten auch während der Dauer der Untersuchungshaft ein Anspruch auf Taggeldleistungen der Unfallversicherung zustehe, soweit die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien (Entscheid vom 14. März 2011).
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C. Die Basler führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids.
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M. beantragt Abweisung der Beschwerde; zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.
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Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) schliesst auf Gutheissung der Beschwerde. Das ebenfalls zur Stellungnahme eingeladene Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat sich mit Eingabe vom 1. November 2011 vernehmen lassen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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2.2 Ratio legis von Art. 21 Abs. 5 ATSG ist die Gleichbehandlung der invaliden mit der validen inhaftierten Person, welche durch einen Freiheitsentzug ihr Einkommen verliert. Entscheidend ist, dass eine verurteilte Person wegen der Verbüssung einer Strafe an einer Erwerbstätigkeit verhindert ist. Bietet die Vollzugsart der verurteilten versicherten Person die Möglichkeit, eine Erwerbstätigkeit auszuüben und somit selber für die Lebensbedürfnisse aufzukommen, verbietet sich eine Sistierung. Massgebend ist, ob eine nicht invalide Person in der gleichen Situation durch den Freiheitsentzug einen Erwerbsausfall erleiden würde (BGE 133 V 1 E. 4.2.4.1 S. 6; ERWIN MURER, Die Einstellung der Auszahlung von Invalidenrenten der Sozialversicherung während des Straf- und Massnahmenvollzugs, in: Festschrift für Franz Riklin, 2007, S. 159).
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Erwägung 3 | |
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3.3 Die ratio legis von Art. 21 Abs. 5 ATSG, wonach gesundheitlich beeinträchtigte Personen in Untersuchungshaft - auch im Vergleich mit gesunden Inhaftierten - aus dem Freiheitsentzug nicht einen wirtschaftlichen Vorteil ziehen sollen, gilt demnach gleichermassen für Invalidenrenten wie für Taggeldleistungen der Unfallversicherung.
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Erwägung 4 | |
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Erwägung 5 | |
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5.3.4 Dass bei Rentenleistungen aus Gründen der Praktikabilität die Untersuchungshaft eine gewisse Dauer aufweisen muss, bevor diese sistiert werden, und diese Dauer in Anlehnung an die revisionsrechtliche Zeitspanne gemäss Art. 88a Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 IVV von der Rechtsprechung auf mindestens drei Monate festgesetzt wurde, ist mit Blick auf die Renten als Dauerleistungsanspruch mit eingeschränkter Revisionsmöglichkeit nachvollziehbar und rechtlich begründet. Da sich Taggeldleistungen jedoch in mehrfacher Hinsicht von den Invalidenrenten unterscheiden, kann die Rechtsprechung gemäss BGE 133 V 1 E. 4.2.4.2 S. 8 nicht einfach auf diese Leistungsart übertragen werden. Insbesondere lässt sich kein Analogieschluss zu Art. 88a Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 IVV ziehen. Aber auch die beim Rentenanspruch gegen eine sofortige Sistierung angeführten Praktikabilitätsgründe sind beim Taggeldanspruch nicht gegeben. Taggeldleistungen der Unfallversicherung werden nach Tagen voller oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit ausgerichtet. Laut BAG entstehen keine praktischen Probleme, wenn diese Leistungen bei einer Inhaftierung von kurzer Dauer vorübergehend einzustellen sind. Weil die Auszahlung von Taggeldleistungen der Invalidenversicherung aufgrund einer Bescheinigung nur für Tage berücksichtigt wird, an denen eine Eingliederungsmassnahme stattgefunden hat (vgl. Art. 80 ff. IVV), stellen sich nach Auffassung des BSV auch für den Bereich der Invalidenversicherung bei einer Einstellung der Taggeldleistungen von kurzer Dauer für die versicherte Person und die Verwaltung keine Praktikabilitätsprobleme.
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5.3.6 Gemäss der Empfehlung Nr. 1/2004 der Ad-Hoc-Kommission Schaden UVG (in der Fassung nach der Revision vom 12. März 2007) wird die Auszahlung von Taggeldern während der effektiven Dauer der Inhaftierung eingestellt, auch wenn sich diese im Nachhinein als zu Unrecht angeordnet erweist (Ziff. 4.1). Weiter sieht die Empfehlung vor, dass aus Praktikabilitätsgründen auf die Einstellung der Leistungen verzichtet wird, wenn die Dauer der Freiheitsstrafe oder Massnahme weniger als drei Monate (90 Tage) beträgt (Ziff. 4.3). Im Rahmen der Revision vom 15. Juni 2011 wurde die Empfehlung dahingehend geändert, dass aus verwaltungsökonomischen und sozialen Gründen bei Inhaftierungen bis drei Monate auf das Einstellen der Leistungen verzichtet wird; die Auszahlung von Taggeldern wird bei Inhaftierungen von mehr als drei Monaten während der effektiven Dauer der Inhaftierung eingestellt (Ziff. 4.1; http://www.koordination.ch/index.php?id=129).
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Empfehlungen der Ad-Hoc-Kommission Schaden UVG stellen keine Weisungen an die Durchführungsorgane der obligatorischen Unfallversicherung dar und sind insbesondere für die Gerichte nicht verbindlich. Sie sind jedoch geeignet, eine rechtsgleiche Praxis sicherzustellen (vgl. Urteile 8C_503/2011 vom 8. November 2011 E. 3.2 und 8C_758/2010 vom 24. März 2011 E. 4.2.2 mit Hinweis auf BGE 120 V 224 E. 4c S. 231). Sinn der Sistierung der Taggeldleistungen inhaftierter Personen, die wegen einer unfallversicherten Gesundheitsschädigung an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gehindert sind, ist es, diese nicht ungerechtfertigt gegenüber voll arbeitsfähigen Inhaftierten zu privilegieren. Es ist daher nicht einzusehen, weshalb Bezüger von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter in einigen Sozialversicherungen besserzustellen wären als in anderen.
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Art. 21 Abs. 5 ATSG ist zwar als "Kann-Vorschrift" formuliert, was erlaubt, besonderen Umständen Rechnung zu tragen. Diese können darin bestehen, dass die versicherte Person trotz Freiheitsentzug einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann (KIESER, a.a.O., N. 101 zu Art. 21 ATSG). Trotzdem steht die Einstellung der Leistungen nicht im freien Ermessen des Versicherers. Vielmehr sind die Taggeldleistungen aus Gründen der Rechtsgleichheit jeweils einzustellen, wenn der im Gesetz genannte Tatbestand gegeben ist (vgl. auch JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung, 2000, N. 7 zu Art. 13 MVG).
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5.4 Zusammenfassend ist mit Bezug auf die Taggeldleistungen kein triftiger Grund für ein Abweichen von der wortlautgetreuen und dem Rechtssinn entsprechenden Auslegung von Art. 21 Abs. 5 ATSG auszumachen. Ist die Rechtsprechung gemäss BGE 133 V 1 E. 4.2.4.2 S. 8 zu den Rentenleistungen der Invalidenversicherung bei den Taggeldleistungen der Unfallversicherung somit nicht anwendbar, so ist der Leistungsanspruch des Beschwerdegegners für die gesamte Dauer der Untersuchungshaft vom 8. August bis 24. September 2007 zu sistieren. Die Beschwerde des Unfallversicherers ist demnach gutzuheissen, und der kantonale Entscheid ist aufzuheben.
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