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30. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. W. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_498/2011 vom 3. Mai 2012 | |
Regeste |
Art. 6 Abs. 1 UVG; adäquate Unfallkausalität bei Tinnitus. | |
Sachverhalt | |
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B. W. führte Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung von Verfügung und Einspracheentscheid der SUVA sei diese zu verpflichten, die gesetzlichen Leistungen über den 31. Oktober 2009 hinaus zu erbringen. In der Begründung machte er geltend, es liege ein typisches Beschwerdebild bei Schleudertrauma vor; die adäquate Unfallkausalität sei in Anwendung der Schleudertrauma-Praxis und der daraus folgenden Adäquanzkriterien zu bejahen. Sodann begründe der durch einen Unfall verursachte Tinnitus auch selbstständig und ohne Anwendung der Schleudertrauma-Praxis einen Leistungsanspruch.
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Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies die Beschwerde mit Entscheid vom 10. Mai 2011 ab. Der Tinnitus sei organisch ![]() | 3 |
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt W. die Aufhebung des kantonalen Entscheids beantragen und sein vorinstanzliches Leistungsbegehren erneuern.
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Mit nachträglicher Eingabe vom 7. Juli 2011 lässt W. ein von der Eidg. Invalidenversicherung eingeholtes medizinisches Gutachten vom 31. Mai 2011 einreichen.
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Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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D. (...)
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E. Das Bundesgericht hat am 3. Mai 2012 eine publikumsöffentliche Beratung durchgeführt.
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Es weist die Beschwerde ab.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
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Hervorzuheben ist, dass die Adäquanz als rechtliche Eingrenzung der sich aus dem natürlichen Kausalzusammenhang ergebenden Haftung des Unfallversicherers im Bereich organisch objektiv ausgewiesener ![]() | 13 |
Es finden sich sodann Urteile, in welchen besondere Grundsätze zur Kausalitätsbeurteilung bei Tinnitus festgehalten wurden. Darauf wird nachfolgend näher eingegangen.
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Objektivierbar sind Untersuchungsergebnisse, die reproduzierbar und von der Person des Untersuchenden und den Angaben des Patienten unabhängig sind. Von organisch objektiv ausgewiesenen Unfallfolgen kann somit erst dann gesprochen werden, wenn die erhobenen Befunde mit apparativen/bildgebenden Abklärungen bestätigt wurden und die hiebei angewendeten Untersuchungsmethoden wissenschaftlich anerkannt sind (erwähntes Urteil 8C_216/2009 E. 2; vgl. auch erwähntes Urteil 8C_584/2010 E. 2).
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5.2 Der vorliegend diagnostizierte Tinnitus wie auch eine ihm zugrunde liegende organische Schädigung konnten nicht mit apparativen/bildgebenden Abklärungen bestätigt werden. Das ist insoweit ![]() | 18 |
Der Beschwerdeführer bejaht dies unter Berufung auf die Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts (seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts) U 116/03 vom 6. Oktober 2003 und des Bundesgerichts 8C_1048/2009 vom 16. April 2010. Danach sei der bei ihm gegebene Tinnitus als organisch objektiv ausgewiesene Unfallfolge zu betrachten, womit der adäquate Kausalzusammenhang ohne Weiteres zusammen mit dem natürlichen Kausalzusammenhang zu bejahen sei.
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Im Urteil 8C_1048/2009 vom 16. April 2010 E. 6 hielt das Bundesgericht an den erwähnten Grundsätzen zur Organizität des Tinnitus und dessen Verursachung durch einen Innenohrschaden fest. Im Urteil 8C_451/2009 vom 18. August 2010 E. 5.3 erwog es sodann, die Objektivierung eines Tinnitus könne zwar Probleme bereiten. Es erscheine aber möglich, mittels medizinischer Untersuchungsmassnahmen die Plausibilität eines Tinnitus zu verifizieren, den Grad seiner Intensität zu bestimmen und andere Ursachen als den Unfall auszuschliessen.
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"Soweit die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf das Urteil U 116/03 (...) geltend macht, ihr Tinnitus sei als objektivierbare organische ![]() | 23 |
Das kantonale Gericht ist sodann zum Ergebnis gelangt, im vorliegenden Fall bringe der Tinnitus gemäss den medizinischen Berichten zwar durchaus gewisse Beeinträchtigungen mit sich. Von einem schweren Tinnitus sei aber nicht auszugehen. Demnach rechtfertige es sich nicht, den hier diagnostizierten Tinnitus als organisch ausgewiesene natürlich kausale Unfallfolge zu betrachten. Dies habe zur Folge, dass die Adäquanz gesondert zu prüfen sei.
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Erwägung 5.7 | |
5.7.1 In der medizinischen Lehre wird als Tinnitus ein regelmässiges, mehr oder weniger dauernd vorhandenes, in einem Ohr oder beiden Ohren lokalisiertes diffus im Kopf empfundenes Geräusch definiert. Die Patienten verwenden Bezeichnungen wie Pfeifen, Rauschen, Sausen, Läuten, Brummen usw. (MUMENTHALER/MATTLE, Neurologie, 11. Aufl. 2002, S. 700). Gemäss einer anderen Umschreibung werden als Tinnitus Auris oder kurz Tinnitus akustische Wahrnehmungen bezeichnet, welche keinen externen akustischen Quellen zugeordnet werden können (MATÉFI/ROSENTHAL, Tinnitus aus versicherungsmedizinischer Sicht, SUVA Medizinische Mitteilungen, Heft ![]() | 27 |
5.7.2 Tinnitus lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten einteilen. Hier von Interesse ist vorab die Unterscheidung, welcher ein Teil der medizinischen Lehre das Begriffspaar "objektiver" und "subjektiver" Tinnitus zuordnet (vgl. etwa: MATTLE/MUMENTHALER, Kurzlehrbuch Neurologie, 3. Aufl. 2011, S. 294; FRANK ROSANOWSKI, Tinnitus, 5. Aufl. 2010, S. 60; MUMENTHALER/MATTLE, a.a.O., S. 700; MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 67; HAUSOTTER, Aspekte, a.a.O., S. 5; derselbe, Begutachtung, a.a.O., S. 174; MONTAIN, a.a.O., S. 11 f.; kritisch zu diesem Begriffspaar: PROBST, a.a.O., S. 233). Danach bezeichnet der sog. objektive Tinnitus ein Ohrgeräusch, welches aufgrund pathologisch-anatomischer Veränderungen entsteht und grundsätzlich auch für Aussenstehende - allenfalls mit technischen Hilfsmitteln - hörbar wird. Meist handelt es sich um gefässreiche Missbildungen, Tumore oder um muskulär bedingte Schallgeräusche. Der subjektive, resp. besser "nicht objektive" Tinnitus wird einzig durch den Betroffenen gehört und stellt die weitaus häufigste Form dar (MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 67; vgl. auch MATTLE/MUMENTHALER, a.a.O., S. 294; ROSANOWSKI, a.a.O., S. 51, MUMENTHALER/MATTLE, a.a.O., S. 700; HAUSOTTER, Begutachtung, a.a.O., S. 174 und 176 f.; PROBST, a.a.O., S. 233). Der objektive Tinnitus wird auch als "Körpergeräusch" bezeichnet (Tinnitus: Kann man die Ohrgeräusche messen?, Interview mit GERHARD GOEBEL, dezibel 5/2009 S. 14 f., 15; BERNHARD KELLERHALS, Grundprobleme der Tinnitus-Hilfe aus medizinischer Sicht, S. 2 http://www.laermorama.ch/laermorama/modul_ohrenschuetzen/tinnitus_w.html [besucht am 7. Dezember ![]() | 28 |
Die genannten Definitionen unterscheiden sich bei genauer Betrachtung lediglich in begrifflicher, nicht aber in inhaltlicher Hinsicht. Zur einfacheren Nachvollziehbarkeit wird daher im Folgenden das Begriffspaar objektiver/subjektiver Tinnitus verwendet. Für die vorliegende Beurteilung ist der subjektive Tinnitus von Interesse.
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Bei genauer Betrachtung ergibt sich aus dem Aufsatz KELLERHALS aber, dass nach dessen Auffassung in erster Linie Hypothesen darüber bestehen, wie ein Tinnitus verursacht wird. Der Autor hält denn auch ausdrücklich fest, wie Tinnitus im Einzelfall entstehe, sei letztlich noch nicht bekannt (S. 1 des Aufsatzes). Die Annahme, ein Innenohrschaden könne verlässlich als eigentliche Ursache des Tinnitus betrachtet werden, wird somit durch diesen Aufsatz ebenso wenig gestützt wie der Schluss, Tinnitus sei ein körperliches Leiden.
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5.8.2 Gemäss der überwiegenden medizinischen Lehre handelt es sich beim Tinnitus denn auch nicht um ein eigenständiges Krankheitsbild, sondern primär um ein Symptom (MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 68, 69, 71 und 72; vgl. auch KELLERHALS, a.a.O., S. 4; KOMPIS UND ANDERE, a.a.O., S. 15; PROBST, a.a.O., S. 233; V. GOYMANN, ![]() | 33 |
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5.9.1 In der medizinischen Lehre besteht, soweit ersichtlich, Einigkeit darüber, dass ein Tinnitus - das gilt jedenfalls für den hier betrachteten subjektiven Tinnitus - nicht objektiv gemessen werden kann (vgl. PROBST, a.a.O., S. 233; KELLERHALS, a.a.O., S. 2; KOMPIS UND ANDERE, a.a.O., S. 15; MATÉFI/ROSENTHAL, a.a.O., S. 69, 71 und 72; ZENNER, ![]() | 36 |
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5.10 Zusammenfassend ergibt sich, dass keine medizinisch gesicherte Grundlage besteht, um einen Tinnitus als körperliches Leiden zu betrachten oder ihn (zwingend) einer organischen Ursache zuzuordnen. Auch lässt sich nicht vom Schweregrad eines Tinnitus auf eine organische Unfallfolge als Ursache schliessen. Das schliesst zwar nicht aus, dass ein Tinnitus in einer organischen Unfallfolge begründet sein kann. Es besteht aber keine Rechtfertigung, bei einem ![]() | 38 |
Damit soll nicht etwa in Frage gestellt werden, dass ein Tinnitus die betroffene Person ausserordentlich stark belasten kann (vgl. KOMPIS UND ANDERE, S. 15; PROBST, a.a.O., S. 233; HAUSOTTER, Aspekte, a.a.O., S. 6; derselbe, Begutachtung, a.a.O., S. 174; GOYMANN, a.a.O., S. 11; MONTAIN, a.a.O., S. 44). Dies gilt aber auch für andere organisch nicht objektiv ausgewiesene Beschwerdebilder und entbindet mit Blick auf die hier streitige Leistungspflicht des Unfallversicherers nicht von der dargelegten kausalrechtlichen Differenzierung.
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