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32. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. M. gegen IV-Stelle Glarus (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_950/2011 vom 9. Mai 2012 | |
Regeste |
Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 29 ff. BV; Art. 43 f. ATSG; Art. 46 Abs. 1 lit. a VwVG und Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG. |
Die formelle Ablehnung eines Sachverständigen kann regelmässig nicht allein mit strukturellen Umständen begründet werden, wie sie in BGE 137 V 210 behandelt worden sind (E. 2.2). | |
Sachverhalt | |
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B. M. liess beim Verwaltungsgericht des Kantons Glarus - nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt Z. - Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, die Verfügung vom 3. Oktober 2011 sei aufzuheben und die IV-Stelle anzuweisen, den Versuch zu unternehmen, sich mit ihr über eine Gutachterstelle zu einigen. Ausserdem ersuchte sie um unentgeltliche Rechtspflege. Das kantonale Gericht wies die Beschwerde ab und auferlegte der Beschwerdeführerin eine Gerichtsgebühr von Fr. 400.-.
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Zur Begründung führte die Vorinstanz aus, sie habe nicht in erster Linie darüber zu entscheiden, ob Ausstandsgründe gegen das Zentrum A. bestehen, sondern, ob die IV-Stelle hätte versuchen müssen, sich mit der Beschwerdeführerin über die Bezeichnung der Gutachterstelle zu einigen, bevor sie einseitig eine Verfügung traf. Das Schreiben der IV-Stelle, wonach eine Untersuchung durch das Zentrum A. vorgesehen sei, könne vor dem Hintergrund der neuen Rechtsprechung als Vorschlag verstanden werden. Bei Nichteinverständnis der Versicherten hätte die Verwaltung versuchen müssen, sich mit ihr zu einigen. Jedoch stelle sich die Frage, bis wann die Beschwerdeführerin ihre Einwände hätte kundtun müssen. Dies sei in Anlehnung an die Rechtsprechung zu beurteilen, wonach Ausstands- oder Ablehnungsgründe gegenüber Sachverständigen so früh wie möglich geltend gemacht werden müssten, ansonsten der Anspruch auf eine Anrufung der Verfahrensgarantie verwirkt sei. Die versicherte Person müsse also umgehend darauf hinwirken, dass die IV-Stelle mit ihr eine Einigung suche. Eine Frist von zehn Tagen sei angemessen. Aufgrund des gegebenen zeitlichen Ablaufs sei der Anspruch auf Einwendungen gegen die vorgesehene Begutachtung längst verwirkt. Insofern sei nicht zu beanstanden, dass die Verwaltung keinen Einigungsversuch unternommen habe. Die Verfügung vom 3. Oktober 2011 sei daher rechtmässig und die Beschwerde abzuweisen. Da die Beschwerdeführerin im Sinne des kantonalen Rechts nicht bedürftig sei, müssten zudem ihre Gesuche um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung abgewiesen werden (Entscheid vom 30. November 2011).
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C. Die Versicherte führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Zudem sei es der Verwaltung im Sinne einer ![]() | 5 |
Das Bundesgericht erkannte der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu (Verfügung vom 15. Februar 2012).
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Die IV-Stelle und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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D. Die I. und die II. sozialrechtliche Abteilung haben zur folgenden Rechtsfrage ein Verfahren nach Art. 23 Abs. 2 BGG durchgeführt:
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"Kantonale Entscheide und Urteile des Bundesverwaltungsgerichts über Beschwerden gegen Verfügungen der IV-Stellen betreffend die Einholung von medizinischen Gutachten sind nicht an das Bundesgericht weiterziehbar, sofern nicht Ausstandsgründe beurteilt worden sind.
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Stimmen die betroffenen Abteilungen dieser Schliessung der in BGE 137 V 210 E. 3.4.2.7 in fine S. 257 offengelassenen Frage zu?"
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Die beiden sozialrechtlichen Abteilungen haben die Rechtsfrage einstimmig bejaht.
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Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
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Ist eine Gutachterstelle nach diesem System benannt, so kann die versicherte Person materielle Einwendungen gegen eine Begutachtung an ![]() | 14 |
Mit der verfügungsmässigen Anordnung der Begutachtung (oder auch schon anlässlich der erstmaligen Mitteilung über die benannte Gutachterstelle) unterbreiten die IV-Stellen der versicherten Person im Übrigen den vorgesehenen Katalog der Expertenfragen zur Stellungnahme (vgl. BGE 137 V 210 E. 3.4.2.9 S. 258).
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Erwägung 1.2 | |
1.2.1 Bei der Anordnung des Gutachtens handelt es sich um eine Zwischenverfügung (Art. 55 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 und Art. 46 VwVG [SR 172.021]). Eine solche kann unter anderem dann angefochten werden, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 46 Abs. 1 lit. a VwVG; BGE 132 V 93 E. 6.1 S. 106). Für die Beurteilung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils im Kontext des IV-rechtlichen Abklärungsverfahrens mit seinen spezifischen Gegebenheiten (dazu eingehend BGE 137 V 210) muss berücksichtigt werden, dass das Sachverständigengutachten im Rechtsmittelverfahren mit Blick auf die fachfremde Materie faktisch nur beschränkt überprüfbar ist: Der Rechtsanwender sieht sich mangels ausreichender Fachkenntnisse ![]() | 16 |
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1.2.3 Aus diesen Gründen hat das Bundesgericht die Anfechtbarkeitsvoraussetzung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren in IV-Angelegenheiten bejaht, zumal die nicht sachgerechte Begutachtung in der Regel einen rechtlichen und nicht nur tatsächlichen Nachteil bewirkt (BGE 137 V 210 E. 3.4.2.7 S. 257 mit Hinweisen). Hebt das kantonale Gericht oder das Bundesverwaltungsgericht die Verfügung auf, weist es die Sache an die IV-Stelle zurück, damit diese den Begutachtungsauftrag wiederum nach dem Zufallsprinzip, aber unter ![]() | 18 |
Erwägung 2 | |
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Erwägung 2.2 | |
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Diese Vorbringen sind einmal zu allgemein gehalten, als dass sie unter dem Titel formeller Ablehnungsgründe behandelt werden könnten. Ausschlaggebend ist indessen, dass die formelle Ablehnung eines Sachverständigen regelmässig nicht allein mit strukturellen Umständen begründet werden kann, wie sie in BGE 137 V 210 behandelt worden sind. Wenn sich die Beschwerdeführerin auf negative Erfahrungen mit einer bestimmten MEDAS beruft, besteht diese Rüge - mangels weiterführender Begründung - letztlich einzig in der Behauptung, in den angeblichen Fehlleistungen manifestierten sich systemimmanente Gefährdungen der Verfahrensfairness (BGE 137 V 210 E. 2.4 S. 237 und E. 3.4.2.6 S. 256).
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2.3 Das Bundesgericht hat offengelassen, ob die Entscheide kantonaler Versicherungsgerichte oder des Bundesverwaltungsgerichts über ![]() | 23 |
Erwägung 3 | |
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3.2 Hinsichtlich des verfassungs- und konventionsgemäss zu gewährleistenden Rechtsschutzes gegen Verfügungen der IV-Stellen im Abklärungsbereich ergibt sich aus dem Gesagten Folgendes: Soweit ein rechtlicher Nachteil im Raum steht (vgl. oben E. 1.2.3), unterscheidet sich der Begriff des nicht wieder gutzumachenden Nachteils nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG nicht von demjenigen von Art. 46 Abs. 1 lit. a VwVG (vgl. oben E. 1.2.1). Jedoch verändert sich im Verlauf des Instanzenzugs die für das Rechtsschutzbedürfnis massgebende Intensität des möglichen Nachteils. Das kantonale Versicherungsgericht oder das Bundesverwaltungsgericht kann und soll die ![]() | 25 |
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