BGE 139 V 464 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
60. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. G. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_703/2012 vom 12. Juli 2013 | |
Regeste |
Art. 15 UVG; Art. 22 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 3 UVV; versicherter Verdienst für die Bemessung des Taggeldes eines Temporärarbeitnehmers. | |
Sachverhalt | |
A. Der 1971 geborene G. trat am 18. April 2011 eine von der Personalausleihfirma J. AG vermittelte Stelle als Heizungsmonteur in der P. AG an. Im Verlauf des ersten Arbeitstages verdrehte er sich auf der Baustelle beim Heben einer Gasflasche die rechte Hand. Dabei zog er sich eine skapholunäre Bandruptur zu. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) kam für die Heilbehandlung auf und richtete ab 21. April 2011 Taggelder aus, welche sie mit Verfügung vom 22. August 2011 auf Fr. 1.60 festsetzte. G. war mit der Taggeldberechnung nicht einverstanden und erhob Einsprache. Die SUVA kam bei einer nochmaligen Überprüfung zum Schluss, dass der Versicherte als unregelmässig Beschäftigter zu qualifizieren sei, weshalb für die Berechnung des versicherten Verdienstes der Durchschnittslohn der letzten drei Monate vor dem Unfallereignis massgebend sei. Davon ausgehend, dass der Versicherte in den drei Monaten vor Antritt der neuen Stelle keine Einkünfte zu verzeichnen hatte, setzte sie den Verdienst des ersten Arbeitstages bei der P. AG von Fr. 239.13 den Einkünften in den letzten drei Monaten vor dem Unfall vom 18. April 2011 gleich, was - durch Multiplikation mit dem Faktor 4 - hochgerechnet auf ein Jahr zu einem Wert von Fr. 956.52 führte. Entsprechend ermittelte sie einen Taggeldansatz von Fr. 2.10 (956.52 : 365 x 80 %) und hiess die Einsprache in diesem Sinne teilweise gut (Einspracheentscheid vom 31. Januar 2012).
| 1 |
B. Die von G. hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 12. Juni 2012 ab.
| 2 |
C. G. lässt Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei ihm mit Wirkung ab 21. April 2011 ein Taggeld auf der Basis eines Taggeldansatzes von Fr. 136.30 auszurichten; eventualiter sei die Sache zur Neuberechnung des versicherten Verdienstes an die SUVA zurückzuweisen. Zudem wird um unentgeltliche Rechtspflege ersucht.
| 3 |
Das kantonale Gericht und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung. Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
| 4 |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
| 5 |
Aus den Erwägungen: | |
6 | |
2.1 Laut Art. 15 Abs. 1 UVG werden Renten und Taggelder nach dem versicherten Verdienst bemessen. In zeitlicher Hinsicht legt Art. 15 Abs. 2 UVG dar, dass sich der versicherte Verdienst für die Bemessung der Taggelder anders bestimmt als jener für die Renten. Grundlage der Berechnung des versicherten Verdienstes für die Taggeldbemessung ist gemäss Art. 15 Abs. 2 Halbsatz 1 UVG der "letzte vor dem Unfall bezogene Lohn" ("dernier salaire reçu"; "ultimo salario riscosso"). Dieser Wortlaut bringt zum Ausdruck, dass der tatsächliche Lohnbezug als massgebendes Kriterium zu betrachten ist. Damit orientiert sich die Taggeldbemessung unmittelbar an jenem Einkommen, welches der verunfallten Person durch den Eintritt des versicherten Risikos entgeht (BGE 135 V 287 E. 4.3 S. 291; GHÉLEW/RAMELET/RITTER, Commentaire de la loi sur l'assurance-accidents [LAA], 1992, S. 86). Wenn Art. 15 Abs. 2 Halbsatz 1 UVG am letzten vor dem Unfall bezogenen Lohn anknüpft, wird damit verdeutlicht, dass in der Regel unberücksichtigt bleiben soll, wie viel die versicherte Person künftig ohne Unfall verdient hätte (RKUV 1997 S. 181, U 120/95 E. 3b/aa). Das Taggeld wird somit grundsätzlich während der ganzen Bezugsdauer nach dem gleichen Verdienst bemessen. Dies schliesst allerdings nicht aus, dass ein erst nach Eintritt des versicherten Ereignisses effektiv ausgerichteter und verabgabter Verdienst als letzter vor dem Unfall bezogener Lohn im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Halbsatz 1 UVG zu gelten hat, sofern er für den massgebenden Zeitraum vor dem Unfallereignis bestimmt und ein diesbezüglicher Rechtsanspruch ausgewiesen ist (RKUV 1995 S. 187, U 195/93 E. 4b; FRÉSARD/MOSER-SZELESS, L'assurance-accidents obligatoire, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 883 Rz. 125).
| 7 |
8 | |
2.3 Da für die Taggeldbemessung grundsätzlich der vor dem Unfall zuletzt bezogene Lohn als versicherter Verdienst gilt, würde dies in einigen Fällen zu unbefriedigenden Resultaten führen. Damit auch unregelmässig beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Genuss eines angemessenen Versicherungsschutzes gelangen, beauftragte der Gesetzgeber in Art. 15 Abs. 3 lit. d UVG den Bundesrat, für solche Personen Sonderbestimmungen zu erlassen. Unter der Überschrift "Massgebender Lohn für das Taggeld in Sonderfällen" hält Art. 23 Abs. 3 UVV Folgendes fest: Übt die versicherte Person keine regelmässige Erwerbstätigkeit aus oder unterliegt ihr Lohn starken Schwankungen, wird auf einen angemessenen Durchschnittslohn pro Tag abgestellt.
| 9 |
2.4 Der Grundsatz, wonach die Taggelder insofern nach der abstrakten Methode berechnet werden, als bei der Berechnung des versicherten Verdienstes nicht der mutmasslich entgangene Lohn, sondern jenes Einkommen massgebend ist, welches die versicherte Person unmittelbar vor dem Unfall erzielte (Art. 15 Abs. 2 UVG; BGE 135 V 287 E. 4.2 S. 290), gilt grundsätzlich auch für die in Art. 23 UVV geregelten Sonderfälle. Mit Ausnahme von Abs. 7 (lang andauernde Taggeldberechtigung) und Abs. 8 (Rückfall) knüpfen die Regeln des Art. 23 UVV allesamt an Tatsachen an, die sich vor dem Unfall verwirklicht haben. Art. 23 Abs. 3 UVV zielt darauf, dort einen Ausgleich zu schaffen, wo eine versicherte Person einen Unfall zufälligerweise in einer Tief- oder eventuell gar einer Nichtlohnphase im Rahmen der bislang ausgeübten Erwerbstätigkeit erleidet. Massgebend bleiben die bis zum Unfall geltenden Verhältnisse. Arbeitsverhältnisse, die erst nach dem Unfallereignis angetreten oder umgestaltet werden, bleiben bei der Taggeldberechnung ausser Acht. Die beiden Kriterien "unregelmässige Erwerbstätigkeit" und "starke Lohnschwankungen" sind erfüllt, wenn sie sich im Arbeitsverhältnis verwirklicht haben, in welchem die versicherte Person im Unfallzeitpunkt stand (BGE 128 V 298 E. 2b/aa S. 300; SVR 2009 UV Nr. 17 S. 65, 8C_330/2008 E. 4.1; RKUV 1997 S. 181, U 120/95 E. 3 und 4; RUMO-JUNGO/HOLZER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Unfallversicherung, Murer/Stauffer [Hrsg.], 4. Aufl. 2012, S. 114 f.). Anwendungsbeispiele bilden etwa das Einkommen eines Eishockeyspielers, welches von den erzielten Punkten und von der Zuschauerzahl abhängt (RKUV 1989 S. 213, U 42/88), oder das umsatzabhängige Einkommen eines Taxichauffeurs (RKUV 2001 S. 201, U 428/99). In SVR 2009 UV Nr. 17 S. 65, 8C_330/2008 E. 4.5 führte das Bundesgericht aus, Art. 23 Abs. 3 UVV bezwecke, Schwankungen innerhalb eines Arbeitsverhältnisses auszugleichen, diene aber an sich nicht dazu, einen Ausgleich für einen vor dem Unfall vorgenommenen Berufs- oder Spartenwechsel mit einer damit verbundenen Lohneinbusse zu schaffen.
| 10 |
11 | |
12 | |
2.7 Gemäss einer Empfehlung der Ad-Hoc-Kommission Schaden UVG Nr. 3/84 ist für die Taggeldbemessung in Anwendung von Art. 23 Abs. 3 UVV (angemessener Durchschnittslohn) bei unregelmässig beschäftigten Personen in der Regel der Durchschnittslohn der letzten drei Monate zu berücksichtigen; bei sehr starken Schwankungen kann der Zeitraum auf maximal 12 Monate ausgedehnt werden (vgl. auch RUMO-JUNGO/HOLZER, a.a.O., S. 115).
| 13 |
(...)
| 14 |
Erwägung 4 | |
15 | |
16 | |
4.3 Es ist Zufall und mit Blick auf den Normzweck unbeachtlich, ob ein Unfall in ein mehrjähriges Arbeitsverhältnis fällt oder sich bereits kurz nach Antritt einer neuen Stelle ereignet (BGE 128 V 298 E. 2b/bb S. 301). Selbst wenn dieses erst kurz vor dem Unfallereignis angetreten wurde, haben bei der Bemessung des versicherten Verdienstes vorangehende Zeiten ausserhalb des konkreten Arbeitsverhältnisses unberücksichtigt zu bleiben. Dies entspricht auch dem gesetzgeberischen Ziel, die Berechnung der Taggelder möglichst einfach und praktikabel zu gestalten (Botschaft vom 18. August 1976 zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung, BBl 1976 III 141 Ziff. 342; vgl. auch BGE 135 V 287 E. 4.2 S. 290). Gerade bei Temporärarbeit, welche sehr unterschiedlich ausgestaltet sein kann (BGE 138 V 106 E. 7.1 S. 117) und mit häufigen Stellenwechseln verbunden ist, würden sich sonst regelmässig heikle Abgrenzungsfragen stellen. In SVR 2009 UV Nr. 17 S. 65, 8C_330/2008 E. 4.5 hat das Bundesgericht die Subsumption einer versicherten Person unter Art. 23 Abs. 3 UVV, welche vor dem Unfallereignis den Arbeitsplatz gewechselt und dabei einen Lohnrückgang erfahren hat, als "systemwidrig" bezeichnet und nur deshalb von einer Korrektur zu Ungunsten der versicherten Person abgesehen, weil ihm dies wegen der Bindung an die Parteibegehren verwehrt war (Art. 107 Abs. 1 BGG). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aufgrund des Äquivalenzprinzips zwischen Prämie und Taggeld, welches bei Anwendung der abstrakten Berechnungsmethode ohnehin regelmässig durchbrochen wird (RKUV 1997 S. 181, U 120/95 E. 3b/aa mit Hinweis auf das Protokoll der Kommission zur Vorbereitung der Verordnung über die obligatorische Unfallversicherung, Sitzung vom 29./30. April und 5. Mai 1981, S. 37).
| 17 |
4.4 Der Beschwerdeführer weist zu Recht darauf hin, dass der versicherte Verdienst beim Taggeld und bei den Renten unterschiedlich bemessen wird. Während für die Rentenbemessung sowohl von Versicherten, die im Zeitpunkt des Unfalls in einem überjährigen, wie auch für solche, die in einem unterjährigen Arbeitsverhältnis stehen, die - im Rahmen eines oder mehrerer Arbeitsverhältnisse ausgeübte - normale Dauer der Beschäftigung massgeblich ist und sich diese nach der bisherigen oder beabsichtigten künftigen Ausgestaltung der Erwerbsarbeitsbiographie richtet (BGE 138 V 106 E. 5.4.5 S. 115), ist beim Taggeld der letzte vor dem Unfall bezogene Lohn im konkret ausgeübten Arbeitsverhältnis massgebend (Art. 15 Abs. 2 Halbsatz 1 UVG; Art. 22 Abs. 3 UVV). Eine Umrechnung auf die mutmassliche Dauer des Arbeitsverhältnisses ist beim Taggeld - wie bereits erwähnt - nicht statthaft. Aufgrund der Orientierung der Taggeldbemessung an der abstrakten Methode kommt der effektiven Dauer der Beschäftigung bei der Bemessung des versicherten Verdienstes für die Taggelder keine besondere Bedeutung zu. Weder eine Befristung des Arbeitsverhältnisses noch dessen Auflösung stellen entscheidende Faktoren bei der Bemessung des Taggeldes dar. Ob das Arbeitsverhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und der J. AG - wie vom kantonalen Gericht angenommen - von vornherein zeitlich befristet war und der Einsatz bei der P. AG infolge ungenügender beruflicher Qualifikation unter Einhaltung der zweitägigen Kündigungsfrist auf den frühestmöglichen Termin beendet worden wäre, bedarf vor diesem Hintergrund keiner weiteren Prüfung. Soweit die Vorinstanz die Berechnung der SUVA zudem unter dem Aspekt als gerechtfertigt bezeichnet, der Anspruch auf Taggeld gemäss Art. 16 Abs. 2 UVG entstehe ohnehin erst am dritten Tag nach dem Unfall, vermischt sie Bemessungsregel und Anspruchsvoraussetzung für das Taggeld.
| 18 |
19 | |
4.6 Zusammenfassend ergibt sich, dass der Beschwerdeführer nicht als unregelmässig Beschäftigter qualifiziert werden kann, weshalb das Abstellen auf einen angemessenen Durchschnittslohn pro Tag im Sinne von Art. 23 Abs. 3 UVV nicht in Frage kommt. Der Taggeldberechnung ist daher in Anwendung von Art. 15 Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 22 Abs. 3 UVV der letzte vor dem Unfall bezogene Lohn bei der P. AG zugrunde zu legen. Die Sache ist an die SUVA zurückzuweisen, damit sie in diesem Sinne neu verfüge.
| 20 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |