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48. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Basler Versicherung AG gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_51/2014 vom 14. Juli 2014 | |
Regeste |
Art. 6 UVG; Adäquanzbeurteilung bei psychischen Beschwerden nach Unfall. | |
Sachverhalt | |
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Die Basler übernahm in der Folge die Kosten für die ab 2007 einsetzende medikamentöse Behandlung der chronischen HIV-Infektion. Nachdem ein psychisch auffälliger Strafgefangener in dem vom Versicherten geleiteten Gefängnis am Abend des 27. Mai 2010 die Matratzen seiner Zelle in Brand gesetzt hatte, wurde dem Versicherten ab Juni 2010 erstmals eine volle Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Beschwerden bescheinigt. Darauf liess die Basler den Versicherten bei Dr. med. C., Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, begutachten. Mit Verfügung vom 2. Juli 2012 verneinte sie den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem Ereignis von April/Mai 2003 und den geltend gemachten psychischen Beschwerden. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest und verneinte zusätzlich auch den natürlichen Kausalzusammenhang (Einspracheentscheid vom 24. Januar 2013).
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B. Die hiegegen erhobene Beschwerde des A. hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau am 27. November 2013 gut. Es bejahte den Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und den psychischen Beschwerden sowie folglich die entsprechende Leistungspflicht der Basler und wies die Sache zur Neuverfügung an Letztere zurück.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
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3.2 Die Adäquanz spielt im Sozialversicherungsrecht als rechtliche Eingrenzung der sich aus dem natürlichen Kausalzusammenhang ergebenden Haftung des Unfallversicherers im Bereich organisch objektiv ausgewiesener Unfallfolgen praktisch keine Rolle, da sich hier die adäquate weitgehend mit der natürlichen Kausalität deckt (BGE 138 V 248 E. 4 S. 250 f. mit Hinweisen). Anders verhält es sich bei natürlich unfallkausalen, aber organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerden. Hier ist bei der Adäquanzprüfung vom augenfälligen Geschehensablauf auszugehen, wobei zwischen banalen bzw. leichten Unfällen einerseits, schweren Unfällen ![]() | 9 |
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Massgebend für die Beurteilung der Unfallschwere ist der augenfällige Geschehensablauf mit den sich dabei entwickelnden Kräften (SVR 2013 UV Nr. 3 S. 7, 8C_398/2012 E. 5.2 Ingress mit Hinweisen; vgl. auch BGE 129 V 177 E. 4.1 S. 183 f. mit Hinweisen).
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Erwägung 5.2 | |
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Grundsätzlich wäre demnach die Adäquanz schon aufgrund der Unfallschwere ohne weiteres zu verneinen (BGE 115 V 133 E. 6a S. 139). Indessen hat das Bundesgericht entschieden, dass die Adäquanz des Kausalzusammenhanges ausnahmsweise auch bei einem leichten Unfall zu prüfen sei. Dies gilt insbesondere, wenn das Ereignis unmittelbare Unfallfolgen zeitigt, die nicht offensichtlich unfallunabhängig sind (Urteil 8C_824/2008 vom 30. Januar 2009 E. 4.2 Ingress mit Hinweisen). Diesfalls muss der adäquate Kausalzusammenhang jedoch bewiesen werden nach den bei mittlerem Schweregrad anzuwendenden Kriterien (BGE 129 V 402 E. 4.4.2 S. 408 mit Hinweis).
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"Bejaht wurde das Kriterium in jüngerer Zeit bei einem Unfall mit Verbrühungen, wobei als direkte psychotraumatologische Auswirkung eine ausgeprägte phobische Störung vor Hitzequellen und als Folgeerscheinung eine komorbide mittelgradige depressive Episode vorlagen. In ![]() | 21 |
[6.2.2] Verneint wurde das Kriterium u.a.: bei einer luxierten, subkapitalen 3-Fragment-Humerusfraktur links (Urteil 8C_744/2009 vom 8. Januar 2010 E. 11.2); bei einem von den Ärzten als schwer bezeichneten Polytrauma mit Thorax- und Abdominaltrauma sowie offenen Gesichtsschädelfrakturen (Urteil 8C_197/2009 vom 19. November 2009 E. 3.6); bei einem Fersenbeinbruch (Urteil 8C_432/2009 vom 2. November 2009 E. 5.3); bei einer traumatischen Milzruptur, Rippenserienfraktur mit Hämatopneumothorax links und Rissquetschwunde frontal am Kopf links (Urteil 8C_396/2009 vom 23. September 2009 (Sachverhalt A und E. 4.5.6); bei einem akuten linksbetonten Cervicocephal- und Lumbovertebralsyndrom (Urteil 8C_249/2009 vom 3. August 2009 Sachverhalt A und E. 8.3); bei einer Beckenstauchung mit rezividierenden ISG-Blockaden und aktivierter Ileitis rechts (Urteil 8C_275/2008 vom 2. Dezember 2008 E. 3.3.2); bei Frakturen im Gesichtsbereich (Urteil 8C_825/2008 vom 9. April 2009 E. 4.4); bei einer Commotio cerebri, Rissquetschwunde parietal sowie Schürfungen an Gesicht, Knien und Händen (Urteil U 151/04 vom 28. Februar 2005 E. 5.2.2); bei Rippenfrakturen, diversen Kontusionen und Kopfprellung (Urteil U 272/03 vom 25. August 2004 E. 4.3)."
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Im eben zitierten Urteil SVR 2013 UV Nr. 3 S. 7, 8C_398/2012, Sachverhalt lit. A und E. 6.2.3 schloss das Bundesgericht mit Blick auf die dargestellte Rechtsprechung, dass das zu beurteilende Polytrauma (mit Milzruptur und Mageneinriss, Hämatopneumothorax ![]() | 23 |
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5.5.3.1 Das kantonale Gericht hat diese Frage bejaht. Es hat festgestellt, bei einer derartigen Infektion bestehe stets die Befürchtung, dass die Krankheit ausbrechen könnte. Die Einwendungen der Beschwerdeführerin, angesichts der aktuellen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten und der wissenschaftlichen Erkenntnisse sei diese Befürchtung nicht mehr objektivierbar, was aus einem Urteil des Bundesgerichts zu den strafrechtlichen Folgen einer HIV-Übertragung deutlich hervorgehe, hat es verworfen.
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5.5.3.2 Das Bundesgericht hatte sich im Urteil 6B_337/2012 vom 19. März 2013 E. 3, auszugsweise publ. in: BGE 139 IV 214 mit ![]() | 27 |
Entgegen den Erwägungen im angefochtenen Entscheid sind die Ausführungen gemäss BGE 139 IV 214 für den vorliegenden Fall durchaus massgebend. Das Bundesgericht hatte nämlich die Frage zu entscheiden, ob an der Rechtsprechung, wonach die HIV-Infektion als lebensgefährliche schwere Körperverletzung zu qualifizieren sei, weil mit dem HI-Virus nach relativ langer Zeit bei vielen Betroffenen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Immunschwäche AIDS ausbreche und diese mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führe, festgehalten werden könne. In diesem Zusammenhang hat das Bundesgericht unter Beiziehung von diversen Lehrmeinungen und medizinischer Fachliteratur eine Beurteilung der Folgen der Übertragung vornehmen müssen. Es hat festgestellt, dass die HIV-Infektion als solche auch unter Berücksichtigung der medizinischen Fortschritte nach wie vor eine nachteilige pathologische Veränderung mit Krankheitswert darstelle. Im Rahmen dieser Beurteilung sei aber einerseits in Rechnung zu stellen, dass HIV und AIDS heute in der Medizin wie andere chronische Krankheiten behandelt werden. Die modernen Kombinationstherapien seien effizient und würden in der Regel gut ertragen. Die Lebenserwartung von HIV-Infizierten gleiche derjenigen von Gesunden. Andrerseits sei HIV nicht heilbar. Eine Impfung sei trotz grosser medizinischer Fortschritte nicht in Sicht. Die Therapien stellten hohe Anforderungen an die Disziplin der Betroffenen. Die Medikamente seien ein Leben lang vorschriftsgemäss einzunehmen und könnten zu körperlichen und/oder seelischen Nebenwirkungen führen, welche die Lebensqualität beeinträchtigten. Eine betroffene Person könne daher trotz verbesserter Behandlungsmethoden und Medikamentenverträglichkeit nach wie vor komplexen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt sein, was zur Erschütterung des seelischen Gleichgewichts führen könne (BGE 139 IV 214 E. 3.4.4 S. 218 f.). Basierend auf diesen Erwägungen hielt das Bundesgericht im genannten Entscheid an der bundesgerichtlichen Praxis, wonach der Zustand der Infiziertheit schon als solcher generell lebensgefährlich sei, nicht fest.
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5.5.3.3 Diese Erwägungen lassen sich auf die Beurteilung der Frage übertragen, ob die HIV-Infektion vorliegend das Adäquanzkriterium der Schwere oder besonderen Art der erlittenen Verletzung ![]() | 29 |
5.5.3.4 Basierend auf dieser Ausgangslage ist zu prüfen, ob die Infektion beim Versicherten geeignet war, die psychische Fehlentwicklung auszulösen. Dabei ist den konkreten Umständen und insbesondere den erheblichen seelischen Belastungen Rechnung zu tragen, denen der Beschwerdegegner ausgesetzt war. Von Bedeutung ist dabei zunächst die sich an erster Stelle aus dem massgeblichen psychiatrischen Gutachten ergebende Tatsache, dass der Versicherte eine deprivierte Kindheits- und Jugendzeit ohne leibliche Eltern, jedoch mit gewalttätigen Pflegeeltern zu durchleben hatte und diese Situation im vierzehnten Lebensjahr zur Flucht in ein Jugendheim und mit fünfzehneinhalb Jahren zu einem ersten ![]() | 30 |
5.5.3.5 Unter diesen Umständen erscheint es fraglich, ob das Kriterium der Schwere oder der besonderen Art der erlittenen Verletzung erfüllt ist. Jedenfalls kann nicht gesagt werden, es sei in besonders ausgeprägtem Masse gegeben. Der Infektion von April/Mai 2003 kommt neben den psychosozialen Belastungsfaktoren eine höchstens mitursächliche Bedeutung zu hinsichtlich der ab November 2008 aufgetretenen behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung. Die unmittelbaren Folgen der Infektion beschränken sich auf die von der Beschwerdeführerin unbestritten übernommene und notwendige Medikamenteneinnahme. Diese verläuft nach wie vor erfolgreich und weitgehend komplikationslos. Die Prognose des behandelnden Infektiologen ist "unproblematisch". Dennoch ist nicht auszuschliessen, jedoch offensichtlich nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Krankheit eines Tages ausbrechen könnte. Sollte dies der Fall sein, bestehen schon heute gute Behandlungsmöglichkeiten, die sich inskünftig allenfalls noch verbessern lassen, sicher aber nicht verschlechtern werden. Unter diesen Umständen treten die Belastungen durch die HIV-Infektion gegenüber den zahlreichen ![]() | 31 |
5.5.3.6 Insgesamt ist daher entgegen der Annahme der Vorinstanz nicht davon auszugehen, dass die HIV-Infektion in besonders ausgeprägter Weise geeignet war, die - erst fünfeinhalb Jahre danach erfolgte - psychische Fehlentwicklung beim Versicherten auszulösen.
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5.6.2 Das Kriterium der ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung setzt eine länger dauernde, kontinuierliche und zielgerichtete Behandlung somatisch begründbarer Beschwerden voraus (SVR 2012 UV Nr. 27 S. 96, 8C_498/2011 E. 6.2.3 mit Hinweisen). Der behandelnde Infektiologe verneinte gemäss Bericht vom 17. November 2011 derartige körperlichen Beschwerden oder Symptome. In der von ihm ausdrücklich als komplikationslos beschriebenen antiretroviralen Therapie mit unproblematischer Prognose zwecks ![]() | 35 |
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