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71. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Einwohnergemeinde X. gegen Erbengemeinschaft A. sel. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_54/2014 vom 18. Dezember 2014 | |
Regeste |
Art. 25a Abs. 5 KVG; Restfinanzierung der Pflegekosten; interkantonale Zuständigkeit. |
Bis auf Weiteres ist grundsätzlich das kantonale bzw. kommunale Recht massgeblich. Kantonale und kommunale Legiferierungskompetenzen können aber nicht über die Kantonsgrenze hinausgehen. Eine Art. 21 ELG nachempfundene Regelung ("Zuständigkeitsperpetuierung") kann daher nicht (nur) in einem kantonalen oder kommunalen Erlass verankert sein. Sie bedarf einer für die ganze Schweiz gültigen Normierung und setzt somit ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers voraus. Bis zum Inkrafttreten einer bundesrechtlichen Regelung bestimmt sich zumindest im interkantonalen Verhältnis die Finanzierungszuständigkeit nach dem Wohnsitzprinzip (E. 5.4.1 und 5.4.2). | |
Sachverhalt | |
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A.a A., geboren 1917, wohnte bis zum 13. August 2009 in Y. (NW). Am 14. August 2009 trat sie im Alterszentrum D. in X. (OW) ein und meldete sich am 1. Februar 2010 in X. als Wochenaufenthalterin an. Ihre Schriften beliess sie in Y. Nachdem am 1. Januar 2011 das Bundesgesetz über die Neuordnung der Pflegefinanzierung in Kraft getreten war, ersuchte A. am 19. Januar 2011 bei der Finanzverwaltung des Kantons Nidwalden um Übernahme der Restfinanzierung ungedeckter Pflegekosten. Die Finanzverwaltung wies das Gesuch am 11. Februar 2011 ab, worauf A. am 18. Februar 2011 beim Einwohnerrat X. um Restfinanzierung ersuchte. Dieser trat auf das Gesuch mit Beschluss vom 4. April 2011 mangels Zuständigkeit nicht ein.
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B. Am 30. April 2012 erhob A. beim Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden Beschwerde. Am ... 2012 verstarb sie. Die Erben B. (Tochter) sowie C. (Enkelin) hielten am Verfahren fest. Das Verwaltungsgericht hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 27. November 2013 teilweise gut, hob den Beschluss des Regierungsrates vom 13. März 2012 auf und verpflichtete die Einwohnergemeinde X., auf das Gesuch um Restfinanzierung einzutreten und die ungedeckten Pflegekosten ab Januar 2011 zu übernehmen.
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C. Der Einwohnergemeinderat X. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit folgenden Rechtsbegehren:
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"1. Das Verwaltungsgerichtsurteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Obwalden vom 27. November 2013 sei vollumfänglich aufzuheben.
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2. Es sei festzustellen, dass das vorinstanzliche Verfahren vor dem Re-gierungsrat nach Art. 57 ATSG nicht zulässig war.
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3. Es sei festzustellen, dass der Artikel 25a Abs. 5 KVG lückenhaft ist und deshalb in interkantonalen Verhältnissen zugunsten der Heim-standorte auszufüllen ist.
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4. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen."
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Die Vorinstanz beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
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Die Erbengemeinschaft schliesst ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde und Bestätigung des angefochtenen Entscheides.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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2.2 Zweck des Bundesgesetzes vom 13. Juni 2008 über die Neuordnung der Pflegefinanzierung (AS 2009 3517 ff.) war es einerseits, die bisherige sozialpolitisch schwierige Situation vieler ![]() | 14 |
Erwägung 3 | |
3.1 Die Vorinstanz erwog, Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG sei in dem Sinn auszulegen, dass sich der für die Restfinanzierung zuständige Kanton nach dem Wohnsitzprinzip bestimme. Mit der Zuständigkeit des aktuellen Wohnsitzkantons werde eine lückenlose Regelung der interkantonalen Zuständigkeit gewährleistet. Die Regelungskompetenz der Kantone beschränke sich auf den innerkantonalen Bereich. Kantonale oder kommunale Regelungen, die indirekt ein ausserkantonales Gemeinwesen für zuständig erklären, seien bei interkantonalen Sachverhalten nicht durchsetzbar. Der Kanton Obwalden sei somit für die Restkostenfinanzierung zuständig, sofern die Verstorbene ihren zivilrechtlichen Wohnsitz zur fraglichen Zeit in X. hatte. Es stehe fest und sei unbestritten, dass die Verstorbene sich seit dem 14. August 2009 im Alterszentrum D. in X. aufgehalten habe. Die konkreten Umstände (geringer Pflegebedarf, Nähe zum Wohnort der Tochter) legten nahe, dass die Wahl der Institution nach reiflicher Überlegung bewusst getroffen worden sei. Es könne deshalb angenommen werden, sie habe ihren Lebensabend in X. verbringen und dort ihren Lebensmittelpunkt begründen wollen, und zwar unabhängig davon, ob das Alterszentrum D. als Anstalt im Sinne von aArt. 26 ZGB gelte. Die Hinterlegung der Schriften habe ![]() | 15 |
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"Für die Anwendbarkeit des ATSG im Rahmen von Art. 25a Abs. 5 KVG sprechen mehrere überzeugende Gründe. Zunächst sind nach Art. 1 Abs. 1 KVG die Bestimmungen des ATSG auf die Krankenversicherung anwendbar, soweit das KVG nicht ausdrücklich eine Abweichung vorsieht. Unter den - allerdings nicht abschliessenden - Ausnahmen gemäss Art. 1 Abs. 2 KVG findet sich die Restfinanzierung der Pflegekosten nicht, zudem sieht das KVG diesbezüglich keine Abweichungen vom ATSG vor. Sodann sind keine Argumente ersichtlich (...), weshalb das Verfahrensrecht des ATSG für die Beurteilung von Ansprüchen nach Art. 25a Abs. 5 KVG nicht geeignet sein soll. Mit Blick auf die enge Verbindung der Ansprüche nach Art. 25a Abs. 5 KVG mit den Ergänzungsleistungen (EL), die sich verfahrensrechtlich nach dem ATSG richten, erscheint die Anwendbarkeit des ATSG vielmehr als sachgerecht: Nicht nur installierte das Bundesgesetz über die Neuordnung der Pflegefinanzierung mit der Restfinanzierung der stationären Langzeitpflege einen den EL vorgelagerten Kostenträger (mit entsprechender Entlastung der Pflegebedürftigen sowie auch der EL) und erhöhte die Vermögensfreibeträge mit entsprechender Erweiterung des Kreises der EL-Anspruchsberechtigten. Auch und vor allem stellt sich die Frage nach der Restfinanzierung von Pflegeleistungen häufig dann, wenn Ansprüche auf Ergänzungsleistungen ebenfalls im Raum stehen (...). Für die (mutmasslich) Anspruchsberechtigten bedeutete es eine - vermeidbare - verfahrensrechtliche Erschwerung, wenn die beiden Ansprüche auf zwei unterschiedlichen Rechtswegen geltend zu machen wären."
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Entscheidend ist indes der Wille des kantonalen Gesetzgebers (BGE 138 V 377 E. 5.2 S. 382). Wo dieser überhaupt keine Regelung erlassen hat, ist zu prüfen, ob er - in Übereinstimmung mit entsprechenden Empfehlungen des Vorstandes der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK; nachfolgende E. 5.1) - davon ausgegangen war, die Anwendung des ATSG sei selbstverständlich und es bestehe daher kein kantonaler Regelungsbedarf (BGE 138 V 377 E. 5.6 S. 385).
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4.2 Der Kanton Obwalden sah sich bei der Umsetzung der Neuregelung der Pflegefinanzierung nicht zu Anpassungen in der Gesetzgebung veranlasst. Mit Bezug auf die innerkantonale Zuständigkeit zur Beurteilung der hier in Frage stehenden ![]() | 22 |
Ob das bisherige Verfahren zu Recht nach kantonalem Verfahrensrecht geführt wurde, kann bei der gegebenen Verfahrenskonstellation (integrale Aufhebung des regierungsrätlichen Beschlusses vom 13. März 2012 durch die Vorinstanz; mithin, wie geltend gemacht, keine Kostenpflicht) offenbleiben (zur Zulässigkeit eines Feststellungsbegehrens vgl. Urteil 4A_364/2014 vom 18. September 2014 E. 1.2.1 mit Hinweisen).
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5.1 Bundesrechtlich ist für die Vergütung von Kosten der Akut- und Übergangspflege im Anschluss an einen Spitalaufenthalt der "Wohnkanton" zuständig (Art. 25a Abs. 2 KVG). Die Restfinanzierung der übrigen ungedeckten Pflegekosten wurde, wie dargelegt (E. 2.2 hievor) "den Kantonen überlassen" (Art. 25a Abs. 5 KVG). Bislang fehlt eine nähere bundesrechtliche Regelung der Zuständigkeit zur Restfinanzierung ungedeckter, namentlich ausserkantonaler Pflegekosten. Auch den Materialien lässt sich nichts Erhellendes entnehmen. Insbesondere finden sich keine Hinweise zur Frage, ob an den Wohnsitz vor dem Heimeintritt anzuknüpfen ist, wie dies Art. 21 Abs. 1 ELG vorsieht ("Der Aufenthalt in einem Heim, einem Spital oder einer anderen Anstalt [...] begründen keine neue Zuständigkeit") und was auch Art. 5 des Bundesgesetzes vom 24. Juni 1977 über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG; SR 851.1) entspricht, wonach der Aufenthalt in ![]() | 25 |
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Für die Variante "Standortkanton" spricht beispielsweise die grundsätzliche fiskalische Äquivalenz, sofern die betreffende Person ihren Wohnsitz verlegt und somit jener Kanton für die Restkosten aufzukommen hat, in welchem auch die Steuerpflicht besteht. Diese Lösung gewährleistet zudem die Gleichbehandlung aller Bewohner und vermag den administrativen Aufwand zu verringern, weil ausschliesslich das Abrechnungssystem des eigenen Kantons zur Anwendung ![]() | 27 |
Für die Lösung "Herkunftskanton" wird etwa die Analogie zur Normierung in Art. 21 Abs. 1 ELG oder der Sozialhilfe (vgl. Art. 5 ZUG) angeführt (E. 5.1 hievor). Auch wird bei dieser Variante zum einen eine Benachteiligung jener Kantone verhindert, welche gemessen am eigenen Bedarf über ein überdurchschnittliches Pflegeplatzangebot verfügen. Zum andern werden Anreize für Kantone und Gemeinden vermieden, das Angebot (insbesondere für nicht vermögende Personen) möglichst knapp zu halten. Wird am ausserkantonalen Standort der Einrichtung ein Wohnsitz begründet, führt die Zuständigkeit des Herkunftskantons allerdings zu einer unter Umständen jahrelangen Finanzierungspflicht, obwohl die betreffende Person dort keine Steuern mehr entrichtet und auch sonst keine besondere Nähe mehr besteht.
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5.3 Auf Bundesebene haben in den letzten Jahren zahlreiche parlamentarische Vorstösse die fehlende Zuständigkeitsregelung für die Restfinanzierung aufgegriffen. Namentlich die ungeregelte Zuständigkeit für die Restfinanzierung bei ausserkantonalen Heimaufenthalten wurde als grosser Mangel erkannt und ist Gegenstand einer derzeit hängigen parlamentarischen Initiative "Nachbesserung der Pflegefinanzierung" (Nr. 14.417; eingereicht von Ständerätin Egerszegi-Obrist am 21. März 2014) sowie eines Postulates "Klärung der Zuständigkeit für die Restfinanzierung bei ausserkantonalen Pflegeheimaufenthalten analog ELG" (Nr. 12.4099; eingereicht von Ständerätin Bruderer Wyss am 11. Dezember 2012). Dass eine - auch vom Bundesamt für Gesundheit den Kantonen empfohlene - einheitliche interkantonale Lösung (Konkordat) nicht gefunden werden konnte, sondern kantonal unterschiedliche Zuständigkeitsregeln geschaffen wurden, begünstigt negative Kompetenzkonflikte. Diese vereiteln den bundesrechtlichen Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Pflegekosten durch die öffentliche Hand (Kanton oder Gemeinde; vgl. BGE 140 V 58 E. 4.1 S. 62 mit Hinweis) und können die Mobilität der Bewohnerinnen und Bewohner gefährden, indem diese dem Risiko ausgesetzt werden, bei einem ausserkantonalen Heimaufenthalt die Restkosten selbst tragen zu müssen. Die Initiative von Ständerätin Egerszegi-Obrist zielt denn auch darauf ![]() | 29 |
Erwägung 5.4 | |
5.4.1 Die hier strittigen (Rest-)Kosten sind zwischen 1. Januar 2011 und dem Tod von A. am ... 2012 angefallen. Nachdem eine bundesgesetzliche Regelung bislang fehlt, ist bis auf Weiteres grundsätzlich auf die kantonale bzw. kommunale Rechtslage abzustellen. Schon vor Inkrafttreten der neuen Pflegefinanzierung am 1. Januar 2011 hatten sich im Kanton Obwalden die Gemeinden an den ungedeckten pflegebedingten Mehraufwendungen zu beteiligen (Art. 22 des kantonalen Gesundheitsgesetzes vom 20. Oktober 1991 [GDB 810. 1]). Regelungsbedarf bei der Umsetzung der Neuordnung der Pflegefinanzierung bestand folglich auf kommunaler Ebene. Konkret erliess die Einwohnergemeinde X. ein Reglement über die ![]() | 30 |
Unabhängig davon, ob eine der grundsätzlichen Zuständigkeitsperpetuierung gemäss Art. 21 ELG nachempfundene Regelung im Bereich der Restfinanzierung gemäss Art. 25a Abs. 5 KVG sachgerecht wäre, kann eine entsprechende Voraussetzung jedenfalls nicht (nur) in einem kantonalen oder kommunalen Erlass verankert sein. Sie bedürfte vielmehr einer bundesrechtlichen, für die ganze Schweiz gültigen Normierung, da bei kantonsübergreifenden Sachverhalten nicht ein Kanton oder eine Gemeinde über die Finanzierungszuständigkeit eines anderen (ausserkantonalen) Gemeinwesens befinden kann (hiezu auch MÖSCH PAYOT, a.a.O., S. 246). Eine ![]() | 31 |
5.4.2 Das Reglement der Beschwerdeführerin, welches die Aufnahme in eine eigene Institution von der Kostengutsprache des Herkunftskantons abhängig macht (Art. 3 lit. b Reglement), war beim Eintritt von A. sel. in das Alterszentrum D. noch nicht in Kraft. Der Heimeintritt im August 2009 erfolgte zu einem Zeitpunkt, als sich die Frage nach einer Kostengutsprache der Herkunftsgemeinde noch gar nicht stellte. Nach Inkrafttreten der neuen Pflegefinanzierung blieb A. sel. im Alterszentrum in X. Eine Rückkehr in den Kanton Nidwalden stand für sie offenbar auch im Zuge des Nichteintretensentscheids der Beschwerdeführerin vom 4. April 2011 nicht zur Diskussion. Selbst wenn das kommunale Reglement Übergangsbestimmungen enthielte (was nicht zutrifft), vermöchten diese nichts daran zu ändern, dass die kantonale wie auch die kommunale Legiferierungskompetenz nicht über die Kantonsgrenze hinausgehen können (E. 5.4.1 hievor). Nachdem die Finanzierungszuständigkeit bei der Wohnsitzgemeinde liegt, hat das kantonale Gericht zu Recht erwogen, die Beschwerdeführerin sei für die Restfinanzierung der ungedeckten Pflegekosten zuständig, sofern A. ihren Wohnsitz nach X. verlegt habe.
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