BGE 142 V 58 | |||
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7. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen SWICA Krankenversicherung AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_405/2015 vom 18. Januar 2016 | |
Regeste |
Art. 3 Abs. 2 ATSG; Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 3 IVV; Art. 1 und 2 Abs. 2 und 3 GgV; Ziff. 178 GgV-Anhang; Geburtsgebrechen; Operationsnotwendigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf medizinische Massnahmen. | |
Sachverhalt | |
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A.a Die 2005 geborene A. leidet an verschiedenen geburtsbedingten Gesundheitsschädigungen (Trisomie 21, beidseitige Klumpfüsse, Herzfehler, Zöliakie). Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen sprach ihr gemäss Anhang der Verordnung vom 9. Dezember 1985 über Geburtsgebrechen (GgV; SR 831.232.21; nachfolgend: GgV-Anhang) medizinische Massnahmen zur Behandlung der Geburtsgebrechen Ziff. 497 (schwere respiratorische Adaptationsstörungen), 313 (angeborene Herz- und Gefässmissbildungen), 279 (Coeliakie infolge kongenitaler Gliadinintoleranz) und 182 (Pes equinovarus congenitus [angeborener Klumpfuss]) zu. Mit Mitteilung vom 23. April 2010 verlängerte sie die Leistungszusprache in Bezug auf das letztgenannte Geburtsgebrechen bis 31. März 2015.
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A.b Am 24. Januar 2013 unterzog sich A. einer beidseitigen Unterschenkeltorsions-Korrektur wegen verminderter tibialer Aussentorsion. Auf Grund der Stellungnahme ihres Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 25. Juli 2013 gelangte die IV-Stelle zum Schluss, dass mangels Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des Eingriffs kein Leistungsanspruch betreffend das Geburtsgebrechen Ziff. 178 GgV-Anhang (angeborene Tibia-Innen- und Aussentorsion, ab vollendetem vierten Lebensjahr, sofern Operation notwendig ist) bestehe. Vorbescheidweise wurde eine "Kostenübernahme" für die Operation abgelehnt. Nachdem sowohl der obligatorische Krankenversicherer von A., die SWICA Krankenversicherung AG (nachfolgend: SWICA), als auch deren Eltern dagegen interveniert hatten, letztere unter Bezugnahme auf einen Bericht des Dr. med. B., Leitender Arzt, Abteilung Kinderorthopädie, Kinderchirurgische Klinik des Kinderspitals C., vom 9. August 2013, konsultierte die IV-Stelle erneut den RAD. Gestützt auf dessen Bericht vom 18. Oktober 2013 hielt sie mit Verfügung vom 20. November 2013 an der angekündigten Leistungsablehnung fest, wobei sie auch einen Zusammenhang zwischen der Tibiaosteotomie und Ziff. 182 GgV-Anhang ausschloss.
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B. In Gutheissung der dagegen von der SWICA erhobenen Beschwerde verpflichtete das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die IV-Organe, die mit der Operation vom 24. Januar 2013 zusammenhängenden Kosten zu übernehmen (Entscheid vom 29. April 2015). Dem Gericht lagen dabei u.a. Berichte des Dr. med. B. vom 2. Dezember 2013 und des RAD vom 20. März 2014 vor.
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C. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei die Verfügung der IV-Stelle vom 20. November 2013 zu bestätigen.
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Die Vorinstanz und die SWICA schliessen auf Abweisung der Beschwerde, während die IV-Stelle um deren Gutheissung ersucht. A. verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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Gemäss GgV-Anhang Ziff. 178 wird die angeborene Tibia-Innen- und Aussentorsion ab vollendetem vierten Lebensjahr als Geburtsgebrechen angesehen, sofern eine Operation notwendig ist. Ebenso handelt es sich bei der Fussfehlstellung in Form des Klumpfusses (Pes equinovarus congenitus) um ein zu Lasten der Invalidenversicherung zu behandelndes Geburtsgebrechen (GgV-Anhang Ziff. 182).
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2.2 Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV).
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3.2 Im Urteil I 93/02 vom 22. Juli 2002 hielt das Eidg. Versicherungsgericht in Bezug auf Ziff. 125 GgV-Anhang (angeborene Hemihypertrophien und andere Körperasymmetrien, sofern Operation notwendig ist) am Urteil I 12/88 vom 21. Juni 1988 fest. Danach klammert das Kriterium der Operationsnotwendigkeit nicht nur (negativ formuliert) Geburtsgebrechen von geringfügiger Bedeutung von der Leistungspflicht aus, sondern es bringt in positiver Deutung zum Ausdruck, dass die Behandlung der betreffenden Geburtsgebrechen, wenn sie in schwerer Form auftreten, von der Invalidenversicherung zu übernehmen sind, und zwar im Einzelfall - bei ausgewiesener Schwere des Geburtsgebrechens - unter Umständen schon ab einem früheren Zeitpunkt, bevor eine Operation indiziert ist (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 693/02 vom 10. Februar 2003 E. 3.1.3). Im erwähnten Urteil I 693/02 erwog das Eidg. Versicherungsgericht, gerade bei dem das Skelett betreffenden Geburtsgebrechen der Trichterbrust (Ziff. 163 GgV-Anhang) leuchte mit Blick auf die Materialien ein, dass das Erfordernis der Operationsnotwendigkeit im Sinne einer qualifizierten Umschreibung eines besonderen Schweregrades des Geburtsgebrechens als leistungsbegründende Voraussetzung nicht aus geisteswissenschaftlich-psychologischer Fachrichtung, sondern aus naturwissenschaftlich-medizinischer Sicht eines für die betreffende Operation befähigten Spezialarztes zu beurteilen sei. Dies gelte umso mehr, als der gegebenenfalls notwendige invasive Eingriff nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sein und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben müsse (Art. 2 Abs. 3 GgV).
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Erwägung 4 | |
4.1 Die Vorinstanz ist im angefochtenen Entscheid zum Ergebnis gelangt, dass Ziff. 178 GgV-Anhang exklusiv anwendbar sei und sämtliche tibialen Drehfehler beschlage. Auch ein im Zusammenhang mit einem angeborenen Klumpfuss auftretender tibialer Drehfehler könne deshalb nur im Falle der in Ziff. 178 GgV-Anhang erwähnten Operationsbedürftigkeit einen Leistungsanspruch begründen. Allein gestützt auf Ziff. 182 GgV-Anhang, also aus der Behandlung des Klumpfusses an sich, lasse sich keine Übernahme der Operation durch die IV rechtfertigen. Da jedoch entgegen der Betrachtungsweise der IV-Behörde die Operationsnotwendigkeit aus den von Dr. med. B. mit Berichten vom 9. August und 2. Dezember 2013 angeführten Gründen zu bejahen sei und der Eingriff eine zweckmässige und angemessene Behandlungsmassnahme darstelle, erfülle der vorliegende Sachverhalt den Tatbestand von Ziff. 178 GgV-Anhang. Die IV-Stelle habe die Übernahme der Operation vom 24. Januar 2013 sowie der dazugehörigen prä- und postoperativen Behandlung folglich zu Unrecht verweigert.
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4.2 Das BSV hält den vorinstanzlichen Ausführungen in seiner Beschwerde im Wesentlichen entgegen, hinsichtlich der Evidenzlage von Torsions-Korrekturen sei auf Grund der durchgeführten Literaturrecherche die in den Stellungnahmen vom 25. Juli und 18. Oktober 2013 sowie 20. März 2014 wiedergegebene Auffassung des RAD-Arztes, welcher sich gegen die Operationsnotwendigkeit ausspreche, zu bestätigen. Laut den einschlägigen wissenschaftlichen Studien beeinträchtige eine Tibia-Innentorsion die Bewegungsfähigkeit der Betroffenen in der Regel nicht. Ebenso wenig erhöhe sie das Risiko einer künftigen Arthritis. Erst wenn eine konservativ behandelte Fehltorsion persistiere und funktionelle Folgen habe, könne eine Derotationsosteotomie allenfalls indiziert sein. Wie u.a. die Untersuchung der Versicherten vom 13. Juli 2012 belege ("A. zeigt ein sicheres und hinkfreies Gangbild ..."), scheine dies hier nicht der Fall zu sein. Eine chirurgische Behandlung bei unilateraler Fehltorsion, wie sie bei der Versicherten bestehe, sei statistisch denn auch nur in weniger als einem Prozent der Fälle ausgewiesen. Daraus lasse sich folgern, dass der gemäss Ziff. 178 GgV-Anhang geforderte Schweregrad im Sinne der Operationsbedürftigkeit des Leidens nicht vorliege. Die Einschätzung des Dr. med. B. (gemäss dessen Berichten vom 9. August und 2. Dezember 2013) vermöge keine wissenschaftliche Evidenz zu begründen. Er verfüge zwar über eine grosse Erfahrung, seine Aussagen fänden jedoch keine Stütze in der Lehre. So gäbe es keine Hinweise in der massgebenden Literatur, die aufzeigten, dass eine Derotationsosteotomie bei mutmasslich verminderter Aussenrotation erforderlich sei und im Vergleich zu einem therapielosen Zustand bessere Langzeitergebnisse erbrächte. Dem Argument der Vorinstanz, fehlende Langzeiterfahrung allein spräche nicht gegen eine Operationsindikation, sei zu entgegnen, dass die Aufgabe der Invalidenversicherung nicht darin liege, medizinische Forschung zu betreiben und zu finanzieren. Es sei vielmehr an der behandelnden Ärzteschaft, die Wissenschaftlichkeit und Evidenz einer Methode verlässlich nachzuweisen. So fordere Art. 2 Abs. 3 GgV denn auch, dass die medizinische Massnahme nach bewährter Erkenntnis der Wissenschaft angezeigt sei und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstrebe. Dies treffe in casu indessen, wie aufgezeigt, nicht zu. Vielmehr sei die beschwerdefreie Versicherte ohne Zustimmung der Invalidenversicherung operiert und dieser so eine vorgängige Abklärung beispielsweise durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens verunmöglicht worden.
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5.1 Beschwerdeführer und IV-Stelle lehnen eine Übernahme der Operation vom 24. Januar 2013 hauptsächlich gestützt auf die Angaben des RAD vom 25. Juli und 18. Oktober 2013 sowie 20. März 2014 ab. Dieser wiederum - wie auch das BSV in seiner Beschwerde - begründet seine Schlussfolgerung primär auf der Basis von medizinischen Studien, Fachpublikationen und Lehrbüchern zur Thematik. Eine persönliche Untersuchung von A. durch den RAD hat unbestrittenermassen weder vor noch nach dem operativen Eingriff stattgefunden. Seine Einschätzung beruht demnach auf einer Beurteilung der Aktenlage und einer vertieften Literaturrecherche. Bei den entsprechenden Ausführungen handelt es sich mangels selber durchgeführter Untersuchungen mithin nicht um Stellungnahmen im Sinne von Art. 49 Abs. 2 IVV. Es sind damit keine medizinischen Befunde erhoben worden, sondern die vorhandenen Befunde wurden von einem praktischen Arzt ohne fachärztliche Spezialisierung gewürdigt. Es liegt folglich eine Empfehlung zur weiteren Bearbeitung des Leistungsbegehrens aus medizinischer Sicht im Sinne von Art. 59 Abs. 2bis IVG und Art. 49 Abs. 1 IVV vor (Urteil 8C_724/2011 vom 24. Juli 2012 E. 5.3.3). Die RAD-Berichte vermögen daher lediglich dazu Stellung zu nehmen, ob der einen oder anderen Ansicht zu folgen oder aber eine zusätzliche Untersuchung vorzunehmen sei (Urteil 8C_756/2008 vom 4. Juni 2009 E. 4.4, in: SVR 2009 IV Nr. 50 S. 153). Soll ein Versicherungsfall jedoch ohne Einholung eines externen Gutachtens entschieden werden, so sind an die Beweiswürdigung strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der versicherungsinternen ärztlichen Feststellungen, sind ergänzende Abklärungen vorzunehmen (BGE 135 V 465 E. 4.4 am Ende S. 470 mit Hinweis; Urteil 9C_999/2010 vom 14. Februar 2011 E. 5.1.2).
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Erwägung 5.2 | |
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5.2.2 Dr. med. B. begründete die Notwendigkeit des operativen Eingriffs vom 24. Januar 2013 in seinen Berichten vom 9. August und 2. Dezember 2013 im Wesentlichen damit, dass tibiale Drehfehler regelhaft vorkämen, bei operativen Fusskorrekturen ebenfalls regelhaft mitkorrigiert würden und einen wesentlichen Bestandteil der Fusskorrekturen darstellten. In der Kinderchirurgischen Klinik des Spitals würden jährlich etwa zehn Kinder mit angeborenen Klumpfüssen behandelt und es werde ca. einmal pro Jahr eine operative Korrektur mit Osteotomien durchgeführt. Das regelhafte Vorkommen von Tibiatorsionsfehlern werde denn auch von vielen Autoren beschrieben. Zusammenfassend verwundere ihn die Vorgehensweise der IV-Stelle doch sehr, Operationsindikationen, welche Kollegen mit über zwanzigjähriger kinderorthopädischer Erfahrung unter Berücksichtigung des jeweils aktuellen Wissenschaftsstands als gegeben ansähen, selbst nach ausführlicher schriftlicher Erklärung einzig gestützt auf die Einschätzung eines fachfremden RAD-Arztes in Frage zu stellen.
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Auf Grund der vorstehenden Erwägungen steht fest, dass die vorhandenen medizinischen Akten keine zuverlässige Grundlage bieten, um darüber befinden zu können, ob die am 24. Januar 2013 durchgeführte Operation eine zur Behandlung des Geburtsgebrechens Ziff. 178 GgV-Anhang notwendige medizinische Massnahme im Sinne von Art. 13 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3 GgV darstellt. Diesem Umstand hat die Vorinstanz in Verletzung des ihr obliegenden Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG) nicht Rechnung getragen. Infolge unvollständig erhobenen rechtserheblichen Sachverhalts entfalten die entsprechenden Feststellungen im angefochtenen Entscheid für das Bundesgericht keine Bindungswirkung. Die Angelegenheit ist vielmehr an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie eine gutachtliche kinderorthopädische Abklärung in die Wege leite. Hernach wird sie erneut über den Leistungsanspruch von A. zu befinden haben. (...)
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