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36. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Atupri Krankenkasse gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_667/2015 vom 7. Juni 2016 | |
Regeste |
Art. 32 Abs. 1, Art. 34 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 lit. b KVG; Art. 71a Abs. 1 lit. a und b sowie Art. 73 KVV; Kostenübernahme für ein ohne Limitierung in der Spezialitätenliste aufgeführtes Arzneimittel, welches in einer höheren als der von Swissmedic zugelassenen Dosierung abgegeben wird (Off-Label-Use). | |
Sachverhalt | |
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde, mit der A. Berichte des Dr. med. B. vom 18. Januar 2015 und des PD Dr. med. H., Chefarzt Neurologie, Klinik I., vom 17. März 2015 hatte auflegen lassen, hiess das Obergericht des Kantons Schaffhausen, nachdem von Seiten der Atupri u.a. eine Stellungnahme ihres Vertrauensarztes Dr. med. J. vom 30. April 2015 eingereicht worden war, mit Entscheid vom 28. Juli 2015 in Aufhebung des angefochtenen Einspracheentscheids und der Verfügung der Atupri vom 30. Dezember 2013 teilweise gut. Es verpflichtete die Atupri, rückwirkend und weiterhin für A. die Kosten einer unlimitierten Anwendung des Medikaments Sumatriptan-Mepha (Injektionslösung) gemäss Verordnung des behandelnden Arztes zu übernehmen, solange keine adäquate alternative Behandlung zur Verfügung stehe. A. habe ferner ein Kopfschmerztagebuch zu führen und dieses regelmässig seinem behandelnden Arzt vorzuweisen. Für Relpax und weitere Triptane müsse keine Kostengutsprache geleistet werden.
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C. Die Atupri führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.
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Während A. auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
2.1 Die soziale Krankenversicherung gewährt Leistungen u.a. bei Krankheit (Art. 3 ATSG [SR 830.1]; Art. 1a Abs. 2 lit. a KVG). Im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung dürfen die Versicherer keine anderen Kosten als diejenigen für die Leistungen nach den Art. 25-33 KVG übernehmen (Art. 34 Abs. 1 KVG). Dazu zählen auch die Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen. Diese Leistungen umfassen u.a. die ärztlich verordneten Arzneimittel der ![]() | 6 |
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2.3 Kassenpflichtig sind pharmazeutische Spezialitäten des Weitern lediglich im Rahmen von Indikationen und Anwendungsvorschriften, die bei Swissmedic registriert sind (BGE 130 V 532 E. 5.2 S. 541 f.). Die Anwendung eines Arzneimittels ausserhalb der registrierten Indikationen und Anwendungsvorschriften macht dieses zu einem solchen "ausserhalb der Liste" bzw. zu einem "Off-Label-Use" und damit grundsätzlich zur Nichtpflichtleistung (BGE 139 V 375 E. 4.3 S. 377; BGE 136 V 395 E. 5.1 S. 398 f.; BGE 130 V 532 E. 3.2.2 S. 538 und E. 3.4 S. 540; Urteil 9C_785/2011 vom 25. April 2012 E. 2.1.2.1 mit Hinweisen, in: SVR 2012 KV Nr. 20 S. 71; zum Ganzen: LORIS MAGISTRINI, L'utilisation hors étiquette de médicaments et son remboursement par l'assurance-maladie, Jusletter vom 31. Januar 2011).
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2.3.1 Nach der Rechtsprechung sind ausnahmsweise auch die Kosten von nicht in der SL aufgeführten Arzneimitteln und von Arzneimitteln der SL ausserhalb der registrierten Indikationen und Anwendungsvorschriften zu übernehmen. Voraussetzung ist, dass ein sogenannter Behandlungskomplex vorliegt oder dass für eine Krankheit, die für die versicherte Person tödlich verlaufen oder schwere und chronische gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann, ![]() | 9 |
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2.3.2.1 Gemäss dessen lit. a besteht eine Leistungspflicht, wenn der Einsatz des Arzneimittels eine unerlässliche Voraussetzung für die Durchführung einer anderen von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommenen Leistung bildet und diese eindeutig im Vordergrund steht (Behandlungskomplex; vgl. BGE 130 V 532 E. 6.1 S. 544).
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2.3.2.2 Der zweite, in lit. b geregelte Tatbestand ist gegeben, wenn vom Einsatz des Arzneimittels ein grosser therapeutischer Nutzen gegen eine Krankheit erwartet wird, die für die versicherte Person tödlich verlaufen oder schwere und chronische gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen kann, und wegen fehlender therapeutischer Alternativen keine andere wirksame und zugelassene Behandlungsmethode verfügbar ist. Die Frage, ob ein für die Kostenübernahme vorausgesetzter hoher therapeutischer Nutzen vorliegt, ist sowohl in allgemeiner Weise als auch bezogen auf den konkreten Einzelfall zu beurteilen (BGE 136 V 395 E. 6.4 und 6.5 S. 401 f.). Der Nachweis der allgemeinen Eignung, den angestrebten therapeutischen Nutzen zu erzielen, muss nach wissenschaftlichen Methoden erbracht werden (BGE 136 V 395 E. 6.5 S. 401 f. mit Hinweisen; Urteil 9C_572/2013 vom 27. November 2013 E. 4.3). Der Begriff des hohen therapeutischen Nutzens orientiert sich grundsätzlich an der gleichlautenden Voraussetzung für eine befristete Bewilligung nicht zugelassener Arzneimittel im Sinne von Art. 9 Abs. 4 des Bundesgesetzes vom 15. Dezember 2000 über Arzneimittel und Medizinprodukte (HMG; SR 812.21). Eine solche Zulassung setzt nach Art. 19 Abs. 1 lit. c der Verordnung des Schweizerischen Heilmittelinstituts vom 22. Juni 2006 über die vereinfachte Zulassung von Arzneimitteln und die Zulassung von Arzneimitteln im ![]() | 12 |
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3.2 Im Arzneimittelkompendium der Schweiz finden sich unter dem Stichwort "IMIGRAN Inj Lös 6 mg/0,5ml (Sumatriptan)" u.a. folgende Einträge (www.compendium.ch [besucht am 30. Mai 2016]): ![]() | 15 |
Erwägung 4 | |
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Erwägung 4.3 | |
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4.3.2 Die Beschwerdeführerin bringt dagegen im Wesentlichen vor, die Vorinstanz verkenne bzw. lasse gänzlich unberücksichtigt, dass gemäss Art. 71a Abs. 1 lit. b KVV der "grosse therapeutische Nutzen" die zentrale Voraussetzung für die ausnahmsweise Kostenübernahme im Rahmen eines "Off-Label-Use" bilde. Der im angefochtenen Entscheid mehrfach verwendete - und im Sinne des ![]() | 19 |
Erwägung 4.4 | |
4.4.1 Für die ausnahmsweise Übernahme der Kosten von Arzneimitteln der SL ausserhalb der registrierten Anwendungsvorschriften durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung bedarf es u.a. eines vom Einsatz des Medikaments zu erwartenden hohen bzw. grossen therapeutischen Nutzens. Ein diesbezüglicher Nachweis ist mittels publizierter klinischer Studien, die mindestens in Form von Zwischenergebnissen einen entsprechenden Schluss zulassen, oder anderweitiger veröffentlichter wissenschaftlicher Erkenntnisse zu erbringen. Eine Einzelfallbeurteilung mit dem Hinweis darauf, dass das fragliche Präparat Wirkung gezeigt habe, reicht dafür nicht (vgl. E. 2.3.2.2 hiervor). Die Vorinstanz räumt in ihren Erwägungen ein, die Wirksamkeit einer regelmässig erhöhten Dosierung des Präparats Sumatriptan-Mepha beim Beschwerdegegner sei nicht auf Grund von eigentlichen wissenschaftlichen Studien, sondern hauptsächlich basierend auf Meinungsäusserungen der involvierten Spezialisten, welche wiederum auf individuellen Erfahrungswerten beruhten, zu ![]() | 20 |
4.4.2 Sodann wird die Wirksamkeit der Dosen von Sumatriptan-Mepha, welche die zugelassene Anzahl von zwei Injektionen täglich über einen längeren Zeitraum hinweg beträchtlich überschreiten, im angefochtenen Entscheid zusammenfassend damit erklärt, dass keine negativen Wirkungen wie ein Medikamentenübergebrauchs-Kopfschmerz, eine Gewöhnung oder gravierende Nebenwirkungen ausgewiesen seien. Auch eine derartige Anwendung mindere die Wirksamkeit des Präparats demnach nicht. Die Vorinstanz übersieht dabei, dass der zu prüfende Ausnahmetatbestand des Art. 71a Abs. 1 lit. b KVV ![]() | 21 |
4.5 Entgegen der Betrachtungsweise der Beschwerdeführerin kann eine Leistungspflicht indessen auch nicht allein gestützt auf die von ihr beigebrachten medizinischen Unterlagen (Expertise der MEDAS vom 1. Dezember 2005, Bericht des Prof. Dr. med. G. vom 19. Januar 2015, Stellungnahme des Vertrauensarztes Dr. med. J. vom 30. April 2015) verneint werden. Insbesondere bestehen hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzung des grossen therapeutischen Nutzens der erhöhten Dosierung von Sumatriptan-Mepha verschiedene ungeklärte Fragen, welchen im Rahmen ergänzender medizinischer Vorkehren nachzugehen ist. In Anbetracht der äusserst hohen, unter Umständen bis ans Toxische reichenden Dosierung (die ihrerseits Schmerzen verursachen kann) bedarf der Beschwerdegegner eines ärztlich überwachten Behandlungsplanes. Zudem ist unklar, ob von einem erheblichen Risiko irreversibler Nebenwirkungen oder Spätfolgen (insbesondere Gefässverengungen) auszugehen ist. Eine Vergütung fortgesetzter Mehrfachapplikationen zu Lasten der Versicherung lässt sich alsdann nur vertreten, wenn daraus ein objektiv feststellbarer therapeutischer Effekt resultiert, und nicht nur eine subjektive Placebowirkung. Des Weitern wird zu prüfen sein, wie es sich mit der Notwendigkeit und Zumutbarkeit einer verschiedentlich empfohlenen Abklärung in stationärem Rahmen verhält (stationärer Aufenthalt zur Entzugstherapie [Triptane und Amphetamine; MEDAS-Gutachten vom 1. Dezember 2005, S. 14]; stationäre ![]() | 22 |
Weil die Sache insofern nicht spruchreif ist, geht sie zurück an die Beschwerdeführerin, damit diese ein medizinisches Administrativgutachten einhole, das sich nebst den aufgeführten Punkten auch zum aktuellen wissenschaftlichen Stand im Bereich der Sumatriptan-Mepha-Anwendung zu äussern hat. Danach wird sie erneut über ihre Leistungspflicht nach Massgabe des zum "Off-Label-Use" Gesagten befinden. (...)
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