BGE 142 V 342 | |||
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38. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_676/2015 vom 7. Juli 2016 | |
Regeste |
Art. 4 Abs. 1 IVG; Art. 6, Art. 7 Abs. 2 und Art. 8 ATSG; posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). |
Entgegen dem Antrag des BSV braucht im vorliegenden Zusammenhang nicht entschieden zu werden, ob die Praxis nach BGE 141 V 281 auf alle (psychischen) Leiden auszudehnen ist (E. 5.3). | |
Sachverhalt | |
A. Der 1972 geborene A. war Sicherheitsfachmann bei der Firma B. Am 24. April 2011 wurde er angeschossen und am Hals sowie an der linken Schulter verletzt. Am 12. September 2011 meldete er sich bei der IV-Stelle Bern zum Leistungsbezug an. Diese holte diverse Arztberichte und ein Gutachten des Ärztlichen Begutachtungsinstituts (ABI) GmbH, Basel, vom 10. Juni 2014 mit Ergänzung vom 4. November 2014 ein. Mit Verfügung vom 16. April 2015 wies die IV-Stelle das Gesuch des Versicherten um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung im Verwaltungsverfahren ab. Mit Verfügung vom 20. April 2015 verneinte sie den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen und Invalidenrente.
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B. Die gegen diese beiden Verfügungen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 14. August 2015 ab.
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C. Mit Beschwerde beantragt der Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihm von April 2012 bis Dezember 2013 eine ganze und ab Januar 2014 eine Dreiviertelsrente, eventuell ab Januar 2014 eine halbe Invalidenrente auszurichten; die unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren sei zu bewilligen; für das bundesgerichtliche Verfahren sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
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Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliessen auf Beschwerdeabweisung. Mit Eingabe vom 30. November 2015 hält der Versicherte an der Beschwerde fest.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
3. Die Vorinstanz erwog mit einlässlicher Begründung - auf die verwiesen wird - im Wesentlichen, das allgemeininternistische, psychiatrische, orthopädische, neurologische und otorhinolaryngologische ABI-Gutachten vom 10. Juni/4. November 2014 erfülle hinsichtlich der Diagnosestellung die Anforderungen an eine medizinische Beurteilungsgrundlage. Die gutachterliche Annahme, dass der Versicherte nicht an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leide und keine depressive Störung vorliege, überzeuge. Körperlich bestünden einzig qualitative Gehörseinschränkungen. Aus neurologischer und orthopädischer Sicht seien dem Versicherten körperlich mittelschwere, nach Eingewöhnungszeit und regelmässiger körperlicher Aktivität auch schwere Tätigkeiten ohne ausgeprägte schulterbelastende Arbeiten voll zumutbar. Das ABI-Gutachten erlaube eine Beurteilung der psychischen Problematik gestützt auf die mit Urteil BGE 141 V 281 geänderte Rechtsprechung zu den psychosomatischen bzw. äquivalenten Leiden, zu denen die PTBS gehöre. Zum Komplex der "Gesundheitsschädigung" (BGE 141 V 281 E. 4.3.1 S. 298) sei festzuhalten, dass die Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde und Symptome nicht übermässig sei, liege doch keine schwere PTBS vor. Betreffend "Behandlungserfolg oder -resistenz" sei zu bemerken, dass der Versicherte den Cannabiskonsum, der sich ungünstig auf die Verarbeitung des dramatischen Ereignisses auswirke, nicht aufgebe, obwohl ihm dies ohne Weiteres zumutbar wäre. Weiter bestünden keine Komorbiditäten. Zudem seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass die Persönlichkeit des Versicherten ein Leistungsvermögen ausschlösse (BGE 141 V 281 E. 4.3.2 S. 302). Der soziale Kontext (BGE 141 V 281 E. 4.3.3 S. 303) mit täglichem Kontakt zu Kollegen zeige, dass sich die PTBS nicht in jedem Lebensbereich manifestiere. Der Versicherte sei meistens nachmittags mit zwei bis drei Kollegen unterwegs; er mache Spaziergänge, besuche das Restaurant eines Kollegen, wo er mit der Play-Station spielen könne. In der Kategorie "Konsistenz" (BGE 141 V 281 E. 4.4 S. 303) bestehe keine gleichmässige Einschränkung des Aktivitätsniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen. Insbesondere zeigten der tägliche Kontakt mit Kollegen, der gemeinsame Cannabiskonsum, das Spielen von Videogames sowie das Lesen von Zeitungen, dass die Einschränkungen sich nicht konsistent manifestierten. Immerhin nehme der Versicherte therapeutische Optionen wahr, verzichte aber nicht auf den für ihn besonders schädlichen Cannabiskonsum. Angesichts der vorhandenen Ressourcen könnte er die geklagten Leistungseinschränkungen bei Aufbietung allen guten Willens überwinden. Die im ABI-Gutachten vom 10. Juni 2014 aus psychiatrischer Sicht attestierte 50%ige Arbeitsunfähigkeit sei somit nicht zu beachten, weshalb kein Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung bestehe.
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Erwägung 4 | |
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Erwägung 5 | |
5.1 Eine PTBS entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmasses (kurz oder lang anhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Angst und Depression sind häufig mit den Symptomen und Merkmalen der PTBS assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Drogeneinnahme oder übermässiger Alkoholkonsum können als komplizierende Faktoren hinzukommen. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. Bei wenigen Patienten nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über (Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V [F], Klinisch-diagnostische Leitlinien, Dilling/Mombour/Schmidt [Hrsg.], 10. Aufl. 2015, S. 207 f.; vgl. auch KRAEMER/HEPP/SCHNYDER, Entstehung, Verlauf und therapeutische Möglichkeiten der posttraumatischen Belastungsstörung, Der medizinische Sachverständige [MedSach] 2007 S. 153; ULRICH SCHNYDER, Posttraumatische Belastungsstörungen [Diagnostik, Prävalenz und Behandlungsmöglichkeiten], in: Psychische Störungen und die Sozialversicherung - Schwerpunkt Unfallversicherung, 2002, S. 101 und 114; Urteil 9C_636/2013 vom 25. Februar 2014 E. 4.3.2).
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Neuere Übersichtsarbeiten sprechen von einer "sizeable minority" in einer Grössenordnung von 10 %, bei denen über Jahre hinweg Symptome einer PTBS persistieren. Insbesondere progrediente Entwicklungen widersprechen dem zu erwartenden degressiven Charakter posttraumatischer Störungen (WOLFGANG SCHNEIDER UND ANDERE, Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, 2012, S. 533). WOLFGANG HAUSOTTER, Begutachtung somatoformer und funktioneller Störungen, 2. Aufl. 2004, S. 196, geht davon aus, dass eine Krankheitswertigkeit der PTBS gegeben ist, wenn eine Mindestschwere vorliegt, bedeutsame Zusatzsymptome hinzutreten und die Erfüllung von Alltagsaufgaben nicht mehr möglich ist.
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Erwägung 5.2 | |
5.2.1 Die Rechtsprechung hat zu den "vergleichbaren psychosomatischen Leiden" bislang ausdrücklich jene gezählt, die im Nachgang zu BGE 130 V 352 über die Jahre als sogenannte "pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage" in invalidenversicherungsrechtlicher Hinsicht den gleichen sozialversicherungsrechtlichen Anforderungen (Regel-Ausnahmemodell mit "Überwindbarkeitsvermutung") unterstellt wurden. In der betreffenden Aufzählung, auf die BGE 141 V 281 in E. 4.2 verweist, findet sich die PTBS gerade nicht erwähnt (vgl. BGE 140 V 8 E. 2.2.1.3 S. 13). Dies mag insofern überraschen, als es in der Vergangenheit schon Fälle gab, in denen das Bundesgericht auf sie dieselben Regeln anwandte, ohne dass es sich dabei je näher mit Pathogenese oder Ätiologie des Leidens befasst hätte (vgl. E. 4.2 hiervor und dortige Hinweise). Zu Weiterungen hinsichtlich dieser letzteren Aspekte besteht nach der gemäss BGE 141 V 281 geänderten Rechtsprechung auch im vorliegenden Fall keine Veranlassung.
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5.2.3 Bei der hier anstehenden Beurteilung ist davon auszugehen, dass es sich bei der PTBS ganz allgemein um eine Störung handelt, die nicht nur keinen Bezug zu einem organischen Geschehen aufweist, sondern für die sich keine oder kaum objektivierbare Befunde erheben lassen, was namentlich auf ihre typischen Symptome (Nachhallerinnerungen, Alp-/Träume, Wiedererleben, Vermeidungsverhalten, Überwachsamkeit, erhöhte Schreckhaftigkeit) zutrifft. Dazu können weitere vielfältige Symptome treten, die ebenso bei anderen Störungen vorkommen und nach differenzierter Prüfung rufen. Auch der Verlauf zeigt sich sehr wechselhaft und nicht prognostizierbar, wobei progrediente Entwicklungen kaum zu erwarten sind und Chronifizierung, verbunden mit sozialem Rückzug und Antriebsmangel, eher selten auftritt (HAUSOTTER, a.a.O., E. 5.2.2 S. 253). Bei einem dergestalt schwer fassbaren, rein subjektiven, nicht objektivierbaren und unspezifischen Krankheitsbild ist in Zusammenhang mit der Diagnosestellung in besonderer Weise auch auf Ausschlussgründe (Aggravation und dergleichen) zu achten (vgl. BGE 141 V 281 E. 2.2 S. 287 f.). Soweit es darüber hinaus schlussendlich vor allem um die Folgenabschätzung geht, mithin darum, die Auswirkungen der Störung auf das Leistungsvermögen bzw. die Arbeitsfähigkeit zu erheben und zu gewichten, bedarf es nach dem Erwogenen gerade auch bei der PTBS des "konsistenten Nachweises" mittels "sorgfältiger Plausibilitätsprüfung". Dafür liegt die besondere Eignung des strukturierten Beweisverfahrens unter Verwendung der Standardindikatoren nach Massgabe von BGE 141 V 281 E. 4.1.3 vor dem rechtlichen Hintergrund des Art. 7 Abs. 2 ATSG (SR 830.1) gleichsam auf der Hand. Dies alles gilt umso mehr, als dem "Konzept der PTBS" offenbar auch von Seiten renommierter Psychiater massive Kritik ("interessengesteuerte Modediagnose mit inflationärer Ausweitung") erwachsen ist (Nachweis bei HAUSOTTER, a.a.O., E. 5.2.2 S. 247). Anderseits kann auf diesem Wege auch den eingangs erwähnten konzeptionellen Unterschieden zwischen DSM-5 und ICD-10 Rechnung getragen werden, die sich zwar bezogen auf die Diagnose auswirken mögen, die ihrerseits für sich allein für die Anspruchsbegründung jedoch rechtsprechungsgemäss nie ausreichend sein kann (vgl. BGE 141 V 281 E. 3.4.1.1 S. 291 f.; BGE 130 V 352 E. 2.2.5 S. 356).
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