BGE 142 V 380 | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
42. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_86/2016 vom 6. Juli 2016 | |
Regeste |
Art. 15 Abs. 2 AVIG i.V.m. Art. 15 Abs. 3 AVIV; Art. 23 AVIG; Art. 40b AVIV; versicherter Verdienst von Behinderten. | |
Sachverhalt | |
A. Der 1962 geborene A. war seit 1. Oktober 2003 als Lagerist bei der B. AG tätig. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis aus gesundheitlichen Gründen auf den 31. Oktober 2014. Der Versicherte meldete sich am 28. August 2014 bei der Arbeitslosenversicherung zum Leistungsbezug ab 1. November 2014 an. Die Unia Arbeitslosenkasse leistete Taggelder auf der Grundlage eines versicherten Verdienstes von Fr. 6'549.- und eines beabsichtigten Beschäftigungsgrades von 100 %. Die IV-Stelle des Kantons Zürich stellte A. mit Vorbescheid vom 6. Februar 2015 ab 1. Oktober 2014 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze sowie ab 1. März 2015 bei einem solchen von 58 % eine halbe Invalidenrente in Aussicht und verneinte ab 1. April 2015 bei einem Invaliditätsgrad von 36 % einen Rentenanspruch. Hierauf teilte ihm die Arbeitslosenkasse mit Schreiben vom 5. März 2015 mit, dass der versicherte Verdienst an den von der Invalidenversicherung festgesetzten Invaliditätsgrad anzupassen sei. Damit habe er bis Ende Februar 2015 keinen Anspruch auf Arbeitslosentaggelder mehr; ab März 2015 bestehe ein Leistungsanspruch bei einem 42%igen "Vermittlungsgrad" und einem versicherten Verdienst von Fr. 2'751.- sowie ab April 2015 bei einem "Vermittlungsgrad" von 64 % und einem versicherten Verdienst von Fr. 4'191.-. Eine Rückforderung oder eine Verrechnung von Leistungen werde nach Erhalt des Verrechnungsantrages der Invalidenversicherung geprüft. Dies bestätigte die Arbeitslosenkasse mit Verfügung vom 23. März 2015 und Einspracheentscheid vom 12. Juni 2015.
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B. Die dagegen geführte Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 10. Dezember 2015 gut und bejahte in der Hauptsache einen einstweiligen Anspruch des Versicherten auf Arbeitslosenentschädigung über den 31. Januar 2015 hinaus auf der Basis eines ungekürzten versicherten Verdienstes in der Höhe von Fr. 6'549.-.
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C. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, in teilweiser Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei der Einspracheentscheid der Unia Arbeitslosenkasse vollumfänglich zu bestätigen.
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Die Unia Arbeitslosenkasse schliesst auf Gutheissung der Beschwerde, A. lässt deren Abweisung beantragen und um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
3.1 Die versicherte Person hat gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG (SR 837.0) in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 AVIG Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, wenn sie vermittlungsfähig ist, d. h., wenn sie bereit, in der Lage und berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen und an Eingliederungsmassnahmen teilzunehmen. Der Begriff der Vermittlungsfähigkeit als Anspruchsvoraussetzung schliesst graduelle Abstufungen aus. Nach Art. 15 Abs. 2 Satz 1 AVIG gilt der körperlich oder geistig Behinderte als vermittlungsfähig, wenn ihm bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage, unter Berücksichtigung seiner Behinderung, auf dem Arbeitsmarkt eine zumutbare Arbeit vermittelt werden könnte. Die Kompetenz zur Regelung der Koordination mit der Invalidenversicherung ist in Art. 15 Abs. 2 Satz 2 AVIG dem Bundesrat übertragen worden. Dieser hat in Art. 15 Abs. 3 AVIV (SR 837.02) festgelegt, dass ein Behinderter, der unter der Annahme einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage nicht offensichtlich vermittlungsunfähig ist, und der sich bei der Invalidenversicherung (oder einer anderen Versicherung nach Art. 15 Abs. 2 AVIV) angemeldet hat, bis zum Entscheid der anderen Versicherung als vermittlungsfähig gilt. In diesem Sinn sieht Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG (SR 830.1) vor, dass die Arbeitslosenversicherung für Leistungen, deren Übernahme durch die Arbeitslosenversicherung, die Krankenversicherung, die Unfallversicherung oder die Invalidenversicherung umstritten ist, vorleistungspflichtig ist.
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Erwägung 3.3 | |
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3.3.2 Die ratio legis des Art. 40b AVIV besteht darin, über die Korrektur des versicherten Verdienstes die Koordination zur Eidgenössischen Invalidenversicherung zu bewerkstelligen, um eine Überentschädigung durch das Zusammenfallen einer Invalidenrente mit Arbeitslosentaggeldern zu verhindern (BGE 140 V 89 E. 3 S. 90 f. mit Hinweis). Art. 40b AVIV betrifft allerdings, wie in BGE 133 V 524 präzisiert wurde, nicht allein die Leistungskoordination zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung, sondern - in allgemeinerer Weise - die Abgrenzung der Zuständigkeit der Arbeitslosenversicherung gegenüber anderen Versicherungsträgern nach Massgabe der Erwerbsfähigkeit. Nach Sinn und Zweck der Verordnungsbestimmung soll die Leistungspflicht der Arbeitslosenversicherung auf einen Umfang beschränkt werden, welcher sich nach der verbleibenden Erwerbsfähigkeit der versicherten Person während der Dauer der Arbeitslosigkeit auszurichten hat. Da die Arbeitslosenversicherung nur für den Lohnausfall einzustehen hat, welcher sich aus der Arbeitslosigkeit ergibt, kann für die Berechnung der Arbeitslosenentschädigung keine Rolle spielen, ob ein anderer Versicherungsträger Invalidenleistungen erbringt. Durch das Abstellen auf die verbleibende Erwerbsfähigkeit soll verhindert werden, dass die Arbeitslosenentschädigung auf einem Verdienst ermittelt wird, den der Versicherte nicht mehr erzielen könnte (BGE 140 V 89 E. 5.1 S. 91 f. mit Hinweisen; SVR 2014 ALV Nr. 13 S. 40, 8C_824/2013 E. 3.2). Hinsichtlich der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit ist der durch die Invalidenversicherung ermittelte Invaliditätsgrad massgeblich (ARV 2015 S. 165, 8C_746/2014 E. 3.3 mit Hinweis).
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Erwägung 4 | |
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4.2 Die Vorinstanz erwog, aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gehe nicht hervor, dass der Schwebezustand stets mit Erlass des invalidenversicherungsrechtlichen Vorbescheides ende. Indem die IV-Stelle mit Vorbescheid vom 6. Februar 2015 die Zusprache einer Rente angekündigt habe, wogegen der Beschwerdegegner am 30. April 2015 Einwände erhoben und u.a. die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens beantragt habe, sei im Zeitpunkt der Verfügung vom 23. März 2015 und des Einspracheentscheides vom 12. Juni 2015 noch unklar gewesen, ob die Invalidenversicherung weitere Abklärungen tätige oder nicht. Da das invalidenversicherungsrechtliche Verfahren damit im Einsprachezeitpunkt noch nicht abgeschlossen gewesen sei - ähnlich wie im Urteil SVR 2015 ALV Nr. 16 S. 47, 8C_403/2015 -, habe der Schwebezustand angedauert. Dies gelte für den gesamten Umfang der Erwerbsunfähigkeit, da keine Teilrechtskraft für die von der Invalidenversicherung im Vorbescheid anerkannte Teilinvalidität gelte. Die seit Januar 2015 gültige Vorgabe des SECO (AVIG-Praxis ALE, Rz. C29), wonach generell eine Anpassung des versicherten Verdienstes bei Erlass des IV-Vorbescheides zu erfolgen habe, sei nicht rechtsprechungskonform. Es bestehe deshalb ein Anspruch auf Arbeitslosentaggelder auf der Basis eines ungekürzten versicherten Verdienstes von Fr. 6'549.-.
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4.3 Das Beschwerde führende SECO stellt sich dagegen auf den Standpunkt, bereits aufgrund eines Vorbescheides der Invalidenversicherung habe eine allfällige Anpassung des versicherten Verdienstes zu erfolgen, auch wenn der Schwebezustand noch andauere. In Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in Einklang mit Art. 40b AVIV sowie aus Gründen der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung habe es die für die Verwaltung verbindlichen Vorgaben entsprechend angepasst. Die vorinstanzliche Beurteilung verletze Bundesrecht und stehe in Widerspruch zum Normzweck von Art. 40b AVIV. Die Möglichkeit, den versicherten Verdienst im Zeitpunkt des IV-Vorbescheides entsprechend dem darin ermittelten Invaliditätsgrad anzupassen, müsse grundsätzlich für alle Fälle gelten und nicht nur dort, wo bereits aufgrund einer im Vorbescheid in Aussicht gestellten ganzen Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 % die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung ende (ARV 2014 S. 210, 8C_53/2014 E. 4.2). Mit dem Vorbescheid stehe das Ausmass der Erwerbsunfähigkeit fest, was eine Anpassung des versicherten Verdienstes rechtfertige. Die Dauer der Vorleistung falle daher grundsätzlich nicht mit dem Zeitpunkt der Anpassung des versicherten Verdienstes zusammen. Es sei nicht zu erwarten, dass die versicherte Person im Invalidenversicherungsverfahren einen geringeren Invaliditätsgrad beantrage, als ihr im Vorbescheid mitgeteilt worden sei. Auch im Sinne der Rechtssicherheit dürfe der Zeitpunkt der Anpassung des versicherten Verdienstes nicht derart unbestimmt bleiben, wie dies die Vorinstanz formuliert habe, wonach "der Beschwerdeführer auch über den 31. Januar 2015 hinaus einstweilen Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung aufgrund eines ungekürzten versicherten Verdienstes von Fr. 6'549.- hat". In zeitlicher wie in masslicher Hinsicht sei für die Anwendung von Art. 40b AVIV der mit Vorbescheid im Invalidenversicherungsverfahren festgesetzte Invaliditätsgrad massgebend.
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Erwägung 5 | |
5.1 In sachverhaltlicher Hinsicht steht fest, dass der Versicherte im Invalidenversicherungsverfahren gegen den Vorbescheid vom 6. Februar 2015 Einwendungen erhob und unter anderem weitere medizinische Abklärungen in Form einer neuen fachärztlichen Begutachtung beantragte. Bis zum Erlass des Einspracheentscheides der Arbeitslosenkasse am 12. Juni 2015 standen die weiteren Schritte der zuständigen IV-Stelle noch nicht fest und damit ebenso wenig das Ausmass der Erwerbsunfähigkeit, weshalb die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung weiterbesteht, was unbestritten ist.
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Erwägung 5.2 | |
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5.2.2 Es ist jedoch möglich, dass das Ende des Schwebezustandes und der Zeitpunkt der Anpassung des versicherten Verdienstes auseinanderfallen. Vor Beendigung des Schwebezustandes kann eine Anpassung des versicherten Verdienstes aber nur dann erfolgen, wenn - wie im Urteil ARV 2015 S. 157, 8C_401/2014 E. 2-4 - das exakte Ausmass der Erwerbsunfähigkeit noch nicht geklärt ist und daher der Schwebezustand bis zum rechtskräftigen Entscheid hierüber im Invalidenversicherungsverfahren anhält, die Arbeitslosenkasse und die versicherte Person sich indes bereits über ein Mindestmass des Invaliditätsgrades einig sind. In diesem Umfang des von der Sozialversicherung ermittelten Invaliditätsgrades kann der versicherte Verdienst bereits korrigiert werden, um so einen Ausgleich zur weiter andauernden Vorleistungspflicht zu schaffen.
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5.4 Im Lichte der Sach- und Rechtslage ist die in Rz. C29 der AVIG-Praxis ALE festgehaltene Verwaltungsweisung insoweit verordnungs- und bundesrechtswidrig, als darin der Vorbescheid in jedem Fall, ohne Würdigung der Einzelfallkonstellationen, als hinreichende Grundlage für die Anwendung von Art. 40b AVIV angesehen wird. Sie lässt eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren Bestimmungen nicht zu. Das vorinstanzliche Gericht hat damit diese zu Recht nicht berücksichtigt (BGE 138 V 346 E. 6.2 S. 362; BGE 137 V 1 E. 5.2.3 S. 8; BGE 133 V 257 E. 3.2 S. 258 mit Hinweisen; vgl. BGE 133 II 305 E. 8.1 S. 315).
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5.6 Der Beschwerdegegner wendet schliesslich zutreffend ein, dass bis zum Erlass des Einspracheentscheides nicht feststand, wie sich der Sachverhalt bezüglich der Resterwerbsfähigkeit bis zum Verfügungszeitpunkt der IV-Stelle entwickeln wird. Daher ist hier die offene Formulierung des kantonalen Gerichts hinsichtlich des über den 31. Januar 2015 einstweilen andauernden Anspruchs auf Taggelder der Arbeitslosenentschädigung auf der Basis eines ungekürzten versicherten Verdienstes von Fr. 6'549.- nicht zu beanstanden. Das SECO dringt mit seiner Beschwerde nicht durch. (...)
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