BGE 142 V 425 | |||
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48. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Progrès Versicherungen AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_133/2016 vom 30. August 2016 | |
Regeste |
Art. 27 und 52 Abs. 2 KVG; Art. 35 KVV; Geburtsgebrechenmedikamentenliste (GGML): therapeutische Massnahmen im Zusammenhang mit Geburtsgebrechen. | |
Sachverhalt | |
A. A., geboren 1992, ist bei der Krankenkasse Progrès Versicherungen AG (nachfolgend: Progrès) obligatorisch krankenversichert. Sie leidet seit Geburt an einer Stoffwechselstörung (Phenylketonurie; Geburtsgebrechen Ziff. 452 gemäss Anhang zur Verordnung vom 9. Dezember 1985 über Geburtsgebrechen [GgV; SR 831.232.21]), für deren Behandlung die Invalidenversicherung bis zum Erreichen des 20. Altersjahres medizinische Massnahmen, unter anderem die Übernahme der Kosten für spezielle diätetische Nahrungsmittel ("Damin Mehl" und "Aproten"), gewährt hatte (Bestätigung der IV-Stelle des Kantons Bern vom 6. Januar 2015). Die am 30. November 2014 und 19. Januar 2015 gestellten Gesuche um Kostenübernahme für "Damin Mehl" und "Aproten" lehnte die Progrès mit Verfügung vom 11. Februar (wohl 2015) ab. Daran wurde auf Einsprache hin festgehalten (Einspracheentscheid vom 25. August 2015).
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B. Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 11. Januar 2016 ab, da es sich bei den beiden fraglichen Produkten nicht um Arzneimittel, sondern um diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke handle, womit eine Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenversicherung nicht möglich sei.
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C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei die Progrès zu verpflichten, ihr die Kosten für die beiden Speziallebensmittel "Damin Mehl" und "Aproten" aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu vergüten.
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Die Progrès beantragt Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. A. lässt dem Bundesgericht eine Eingabe vom 6. Mai 2016 zukommen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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3.2.1 Hervorzuheben ist insbesondere der Verweis auf Art. 27 KVG, wonach bei Geburtsgebrechen, die nicht durch die Invalidenversicherung gedeckt sind, eine Kostenübernahme für die gleichen Leistungen wie bei Krankheit besteht. Zu diesen Leistungen gehören unter anderem die ärztlich verordneten Analysen, Arzneimittel und der Untersuchung oder Behandlung dienende Mittel und Gegenstände (Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG). Korrekt sind ferner auch die Erwägungen des kantonalen Gerichts zum sogenannten "Listensystem", welches besagt, dass nur Leistungen übernommen werden, die - in abschliessender Aufzählung - auf der Arzneimittel- oder der Spezialitätenliste (ALT bzw. SL) angeführt sind. Zu beachten ist schliesslich Art. 52 Abs. 2 KVG, wonach die für Geburtsgebrechen zum Leistungskatalog der Invalidenversicherung gehörenden therapeutischen Massnahmen in die Erlasse und Listen nach Abs. 1 der Bestimmung aufgenommen werden (vgl. dazu die Geburtsgebrechenmedikamentenliste [GGML] in Kapitel IV der SL).
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Erwägung 4 | |
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4.2 Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung der Art. 27 und 52 Abs. 2 KVG sowie Art. 35 KVV geltend. Unter Verweis auf das bundesgerichtliche Urteil 9C_312/2012 vom 20. Dezember 2012 E. 5 (betreffend das Geburtsgebrechen Zöliakie) stellt sie sich auf den Standpunkt, es seien jene Stoffe und Medikamente in die Listen nach Art. 52 Abs. 1 KVG aufzunehmen, welche von der Invalidenversicherung bei Geburtsgebrechen bezahlt würden. Im Gegensatz zu Zöliakie verhalte es sich bei vorliegendem Gebrechen - der Phenylketonurie - anders: Betroffene seien lebenslänglich auf eine Spezialdiät angewiesen, die sich mit den im Haushalt verfügbaren Lebensmitteln nicht decken lasse. Die von diesem Leiden Betroffenen benötigten lebenslänglich eine Aminosäure-Substitution und zusätzlich eiweissarme Spezialnahrungsmittel zur Energiezufuhr im Sinne von Art. 20a der Verordnung des EDI vom 23. November 2005 über Speziallebensmittel ("Diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke"; SR 817.022.104). Es liege ferner eine Verletzung von Anhang 1 der KLV vor, welcher eine Kostenübernahme der künstlichen Ernährung zu Hause gemäss den Richtlinien der Gesellschaft für klinische Ernährung der Schweiz (GESKES) vorsehe. Die dort angeführte Indikation sei klar erfüllt; insbesondere bestehe ein Behandlungskomplex zwischen den Aminosäure-Substituten und der eiweissarmen Spezialdiät. Es entspreche denn auch der Praxis der im Schweizerischen Verband für Gemeinschaftsaufgaben der Krankenversicherer (SVK) organisierten Krankenversicherer, der 85 % der Krankenversicherer umfasse, die Kosten für die beiden Nahrungsmittel "Damin Mehl" und "Aproten" im Rahmen der künstlichen Ernährung zu Hause zu vergüten.
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Erwägung 5 | |
5.1 Art. 52 Abs. 2 des geltenden KVG ist erst im Rahmen der parlamentarischen Beratung auf Antrag von Nationalrat Wick in das Gesetz aufgenommen worden (AB 1993 N 1862; im Gesetzesentwurf zur Botschaft noch Art. 44 KVG). Der Antragsteller begründete seinen Vorstoss, der ohne weitere Diskussion und unterstützt von Bundesrätin Dreifuss angenommen wurde, just am Beispiel der Stoffwechselkrankheit Phenylketonurie: Erklärtes Ziel war es, für die Patienten mit angeborenen Stoffwechselkrankheiten - Geburtsgebrechen - nach Erreichen des 20. Lebensjahres die gleichen Rechte zu gewähren "wie für alle anderen Patienten auch". "Übernehmen heisse nicht" - so das Votum von Nationalrat Wick -, "dass Bundesrat oder Departement etwas finanziell übernehmen sollen. Ich meine damit ein Übernehmen zuhanden von Artikel 44, zuhanden der Listen, die dort aufgeführt sind." Art. 52 Abs. 2 KVG ist seither nur redaktionell geändert worden im Zusammenhang mit der Einführung des ATSG (AS 2002 3419). Der gesetzgeberische Wille dieses mit Inkrafttreten des KVG auf den 1. Januar 1996 eingeführten Art. 52 Abs. 2 KVG ist eindeutig: Es geht um Gewährleistung einer Weiterführung von notwendigen therapeutischen Massnahmen über das 20. Altersjahr hinaus. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang der Wortlaut von Art. 52 Abs. 2 KVG, welcher nicht von "Arzneimitteln" bzw. von "Mitteln und Gegenständen" spricht, sondern den weitergehenden Begriff der "therapeutischen Massnahmen" verwendet. Von Bedeutung ist zudem, dass der Gesetzgeber Art. 52 Abs. 2 KVG nachträglich hinzufügte, somit eine Ergänzung bzw. eine koordinationsrechtliche Verdeutlichung schuf zu Art. 27 KVG, der seinerseits dem ursprünglichen bundesrätlichen Gesetzesvorschlag entspricht (dort noch: Art. 21).
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5.3 Ausgehend von der klaren gesetzgeberischen Absicht, bei Personen mit Geburtsgebrechen einen "nahtlosen" Übergang von der Invaliden- zur Krankenversicherung zu gewährleisten (E. 5.1 hiervor), und angesichts des Ausnahmecharakters von Art. 52 Abs. 2 KVG (E. 5.2.2 hiervor) sowie des weitgefassten Wortlauts in Art. 52 Abs. 2 KVG und Art. 35 KVV (E. 5.1 hiervor am Ende) erscheint die in einem Teil der Literatur vertretene Auffassung zu absolut, es könnten nur diejenigen therapeutischen Massnahmen vergütet werden, die in den Listen (SL, ALT, GGML) angeführt sind (so GEBHARD EUGSTER, Die obligatorische Krankenpflegeversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 504 Rz. 321 ["Vielmehr gilt das Leistungsrecht der OKP"] sowie S. 632 Rz. 727 und 728 ["Bezüglich Arzneimittel [...] besteht eine Leistungspflicht nur, wenn sie in der GGML aufgeführt sind"]).
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Erwägung 6 | |
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6.2 Die Vorinstanz hat keine Feststellungen getroffen zur Frage, ob - neben der nicht bestrittenen Kostenübernahme für die Substitution von Aminosäuren (Phenylalanin-armes Gemisch an Aminosäuren, vgl. Bericht des Prof. Dr. med. D., stellvertretender Chefarzt der Universitätspoliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung des Spital E., vom 30. November 2014) - zusätzlich eine eiweissarme Diät vonnöten ist, die, wie von der Beschwerdeführerin geltend gemacht, ausschliesslich durch "Damin Mehl" und "Aproten" gewährleistet werden kann. Die Beschwerdegegnerin bestreitet, dass die Aminosäurebehandlung, für welche sie Kostengutsprache erteilt hat, in einem engen Behandlungskomplex mit den beiden fraglichen Nahrungsergänzungsmitteln steht; vielmehr seien diese im Zusammenhang mit der Aminosäure "gerade nicht unabdingbar". Zum Einwand der Beschwerdeführerin, die erforderlichen diätetischen Lebensmittel liessen sich - im Gegensatz zu einer Diät auf Grund einer Zöliakie - mit üblichen Haushalt-Lebensmitteln nicht decken (E. 4.2 hiervor), enthält sich die Beschwerdegegnerin einer Stellungnahme. Sie bezweifelt jedoch, wenn auch nicht substanziiert, dass die Beschwerdeführerin für die Erhaltung ihrer Gesundheit Aminosäureersatz und ergänzend auch eine eiweissarme Diät benötigt. Im angefochtenen Entscheid finden sich zu diesem Punkt ebenfalls keine Feststellungen.
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"Ich bestätige, dass oben genannte Patientin unter einer klassischen Phenylketonurie leidet. Das Therapiekonzept dieser Krankheit besteht in einer eiweissarmen Diät sowie einer Substitution mit Phenylalanin-armem Gemisch an Aminosäuren. Diese Krankheit wurde bis im Alter von 20 Jahren durch die IV unterstützt mit einerseits spezieller Nahrung (Phenylalanin-arme Ernährung: Aproten und andere Produkte), andererseits durch eine Substitution mit einem PKU-3 Pulver, welches die essentiellen anderen Aminosäuren enthält. (...). Offenbar bestehen Unklarheiten bezüglich der Übernahme dieser Phenylalanin-armen Produkte. Medizinisch sind sie klar indiziert. (...)."
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Aus der - in der Tat abgelehnten - Motion kann somit in Bezug auf die hier in Form der Phenylketonurie vorliegende Stoffwechselstörung nichts zu Ungunsten der Beschwerdeführerin abgeleitet werden. Die ablehnende parlamentarische Haltung bezog sich klarerweise ausschliesslich auf Spezialnahrungsmittel, welche bei anderen Krankheitsbildern notwendig sind und mit Lebensmitteln, die in einem Haushalt verfügbar sind, zusammengestellt werden können.
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Erwägung 7 | |
7.1 Im Anhang I zur KLV wird die sondenfreie enterale Ernährung zu Hause als Pflichtleistung angeführt (Ziff. 2.1 [Innere Medizin/Allgemein]). Präzisierend wird verlangt, dass eine Indikationsstellung gemäss den "Richtlinien der Gesellschaft für klinische Ernährung der Schweiz (GESKES) über Home Care, künstliche Ernährung zu Hause" vom Januar 2013 vorliegt. Nach diesen Richtlinien besteht eine Indikation zur künstlichen Ernährung zu Hause bei angeborenen Stoffwechselstörungen (Tabelle 1 S. 3). Zusätzlich wird in den Richtlinien unter dem Titel "Definition Zusatztrinknahrung (sondenfreie enterale Ernährung)" Folgendes angeführt (S. 6 unten f.):
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"Die anerkannten Produkte der sondenfreien enteralen Ernährung müssen Bestandteil der FSMP-Liste und somit vom BAG notifiziert sein.
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Nahrungsergänzungsmittel sowie isolierte Nahrungszusätze wie beispielsweise Eiweisspulver oder spezifische Aminosäureprodukte (z.B. Glutamin, Arginin), Kohlenhydratpulver, Eindickungsmittel, Faserprodukte sind ausgeschlossen von dieser Regelung, auch falls sie Bestandteil der FSMP Liste sind."
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8. Sämtliche angeführten Begründungslinien (E. 5.1-5.5, 6.2-6.4 hiervor) weisen in dieselbe Richtung: Von der Invalidenversicherung übernommene therapeutische Massnahmen sind vom Krankenversicherer zu übernehmen. Dies entspricht klarer gesetzgeberischer Absicht (E. 5.1 hiervor). Es bestand im vorliegenden Fall unstrittig eine Kostenübernahme sowohl von Substitution als auch von Diätnahrungsmitteln durch die Invalidenversicherung bis zum 20. Altersjahr. Beide Mittel sind, wie dargelegt (E. 6.3), zur Behandlung der Krankheit notwendig. Die über den Begriff "Arzneimittel" hinausgehende Formulierung von Art. 52 Abs. 2 KVG ("therapeutische Massnahmen") verdeutlicht das Bestreben des Gesetzgebers nach einer Koordination zwischen Invaliden- und obligatorischer Krankenversicherung im Bereich der Geburtsgebrechen (E. 5.3 f.). Der Wortlaut von Art. 52 Abs. 2 KVG ist klar: Der Leistungskatalog der Invalidenversicherung wird in den Leistungskatalog der Krankenversicherung übernommen. Nicht ersichtlich ist daher, weshalb die beiden fraglichen Spezialnährmittel, die explizit zum invalidenversicherungsrechtlichen Leistungskatalog gehören, nicht in die Listen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für therapeutische Massnahmen aufgenommen worden sind. Soweit sie in den Richtlinien der GESKES fehlen, sind diese deshalb unvollständig.
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