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56. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_577/2015 vom 16. August 2016 | |
Regeste |
Art. 16b Abs. 3 EOG; Art. 29 lit. b EOV; Art. 9 Abs. 3 und Art. 9a Abs. 2 AVIG; Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung bei Arbeitslosigkeit. | |
Sachverhalt | |
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"Ich hatte ein eigenes Coiffeur-Geschäft und beendete meine Tätigkeit Ende August 2013 [...]. Mein Arzt hat mir [...] abgeraten, die stehende Arbeit [bis zum Geburtstermin] weiterzuführen. Da ich selbständig war, habe ich mir kein Arztzeugnis ausstellen lassen. Falls Sie dieses benötigen, werde ich mich darum bemühen und es Ihnen nachreichen. Meine Selbständigkeit werde ich nicht mehr aufnehmen, da es mir nun aus familiären Gründen nicht mehr möglich ist, 100 % zu arbeiten. Allein schon aufgrund des Mietzinses der Räumlichkeit ist ein Teilzeitpensum nicht rentabel."
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Mit Verfügung vom 15. November 2013 und Einspracheentscheid vom 7. April 2014 lehnte die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen das Gesuch mangels Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen ab.
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B. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wies die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 2. Juli 2015 ab.
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C. A. führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag auf Zusprechung der Mutterschaftsentschädigung ab 9. Oktober 2013, eventuell sei die Sache zu ergänzender Abklärung und neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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a. während der neun Monate unmittelbar vor der Niederkunft im Sinne des AHVG obligatorisch versichert war;
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b. in dieser Zeit mindestens fünf Monate lang eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat; und
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c. im Zeitpunkt der Niederkunft:
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1. Arbeitnehmerin im Sinne von Art. 10 ATSG (SR 830.1) ist,
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2. Selbständigerwerbende im Sinne von Art. 12 ATSG ist, oder
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3. im Betrieb des Ehemannes mitarbeitet und einen Barlohn bezieht.
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Laut Abs. 3 regelt der Bundesrat die Anspruchsvoraussetzungen für Frauen, die wegen Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit:
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a. die Voraussetzungen von Abs. 1 lit. a nicht erfüllen;
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b. im Zeitpunkt der Niederkunft nicht Arbeitnehmerinnen oder Selbständigerwerbende sind.
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Die in Art. 16b Abs. 1 lit. a-c EOG genannten Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Die Mutterschaftsentschädigung ist grundsätzlich auf Frauen beschränkt, die im Zeitpunkt der Niederkunft erwerbstätig waren, d.h. die am Tag der Geburt noch in einem gültigen privat- oder öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnis oder Lehrverhältnis stehen oder im Zeitpunkt der Niederkunft von der AHV als Selbständigerwerbende anerkannt sind (Art. 16b Abs. 1 lit. c EOG; BBl 2002 7543 f.; BGE 133 V 73 E. 4.1 S. 77 f.; Urteil 9C_171/2008 vom 28. Mai 2008 E. 4.2). Ausnahmen sollen nur dann gemacht werden, wenn eine Frau (im Zeitpunkt der Niederkunft) wegen Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit nicht als erwerbstätig gilt (Art. 16b Abs. 3 EOG; BBl 2002 7544; BGE 136 V 239 E. 2 Ingress S. 241).
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a. bis zur Geburt ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung bezog; oder
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b. am Tag der Geburt die für den Bezug eines Taggeldes nach dem AVIG (SR 837.0) erforderliche Beitragsdauer erfüllt.
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a. eine Entschädigung für Erwerbsausfall bei Krankheit oder Unfall einer Sozial- oder Privatversicherung; oder
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b. Taggelder der Invalidenversicherung.
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Erfüllt eine arbeitsunfähige Mutter die Voraussetzungen von Abs. 1 nicht, so hat sie Anspruch auf die Entschädigung, wenn sie im Zeitpunkt der Geburt noch in einem gültigen Arbeitsverhältnis steht, ihr Anspruch auf Lohnfortzahlung jedoch vor diesem Zeitpunkt schon erschöpft war (Abs. 2 von Art. 30 EOV).
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Die Selbständigerwerbende, welche im Zeitpunkt der Niederkunft vorübergehend arbeitsunfähig war, hat bei gesetzmässiger Auslegung von Art. 30 Abs. 1 lit. a EOV auch dann Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung, wenn sie nicht über ein Ersatzeinkommen verfügt (BGE 133 V 73; Urteil E 3/06 vom 16. Januar 2008 E. 3.2.2 in fine).
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3. Unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten ist zu Recht unbestritten, dass die Beschwerdeführerin - anders als die Versicherten in den Urteilen BGE 133 V 73 E. 4 und 5 S. 77 ff., 9C_44/2012 vom 12. April 2012 E. 2 und 3 sowie E 3/06 vom 16. Januar 2008 E. 3.2-3.4 - am Tag der Niederkunft (9. Oktober 2013) nicht mehr über den AHV-rechtlichen Status einer Selbständigerwerbenden verfügte. Sie hatte sich mit Schreiben vom 4. September 2013 bei der Ausgleichskasse unmissverständlich per Ende August 2013 abgemeldet und um "entsprechende Einstellung der Beitragspflicht" ersucht. Unbestrittenermassen ging es ihr (aus Kostengründen) um eine raschestmögliche Auflösung des Coiffeurgeschäfts und seiner betrieblichen Infrastruktur, nachdem sie die Arbeit schwangerschaftsbedingt hatte einstellen müssen und für die Zukunft zum Schluss gelangt war, ![]() | 27 |
Weil die wegen Schwangerschaftsbeschwerden arbeitsunfähige Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Niederkunft weder über den Status als Selbständigerwerbende (Art. 16b Abs. 1 lit. c Ziff. 2 EOG) noch über ein bisher bezogenes Ersatzeinkommen verfügte, steht ihr unter dem Titel von Art. 30 Abs. 1 lit. a EOV in Verbindung mit Art. 16b Abs. 3 lit. b EOG keine Mutterschaftsentschädigung zu (vgl. E. 2.3 hiervor in fine).
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Erwägung 4.2 | |
4.2.1 Ob die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Niederkunft im vorgenannten Sinne materiell arbeitslos war, lässt sich aufgrund der gegebenen Aktenlage weder bejahen noch verneinen. Bereits im Einspracheverfahren berief sie sich auf ihre Arbeitslosigkeit zur Zeit der Geburt, ohne dass die Ausgleichskasse diesbezügliche Abklärungen vorgenommen hätte. Dasselbe gilt für das kantonale Gericht, welches einzig auf den Umstand verweist, dass die Versicherte im Anmeldeformular für die Mutterschaftsentschädigung auf die Frage "Waren Sie im Zeitpunkt der Niederkunft bzw. in den der Niederkunft vorangegangenen 9 Monaten arbeitslos?" mit "nein" geantwortet hatte. Die im Formular gestellte Frage ist indessen im vorliegenden Kontext alles andere als eindeutig. Sie muss nicht zwingend in weitem Sinne interpretiert werden, etwa ob im Zeitpunkt der ![]() | 31 |
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Fest steht, dass die Beschwerdeführerin innerhalb der ordentlichen Rahmenfrist für die Beitragszeit von zwei Jahren vor der Geburt (Art. 9 Abs. 3 AVIG) nicht während mindestens zwölf Monaten eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat (Art. 13 Abs. 1 AVIG), da sie bereits ab Februar 2011 keinen Lohn mehr bezog, sondern einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachging. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die massgebliche Rahmenfrist nach Art. 9a Abs. 2 AVIG verlängert werden kann. Dieser Bestimmung zufolge wird die Rahmenfrist für die Beitragszeit von Versicherten, die den Wechsel zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit ohne Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung vollzogen haben, um die Dauer der selbständigen Erwerbstätigkeit, höchstens jedoch um zwei Jahre verlängert (vgl. hierzu BGE 138 V 50).
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4.3.3 Nach dem Wortlaut (sämtlicher drei Sprachfassungen) von Art. 29 lit. b EOV ist nicht ohne weiteres klar, worauf sich die (mindestens zwölfmonatige) Beitragsdauer bezieht, d.h. in welchem Zeitraum sie von den arbeitslosen Müttern zu erfüllen war. Hatte dies innerhalb der ordentlichen Rahmenfrist von zwei Jahren vor der Geburt zu geschehen (Art. 9 Abs. 3 AVIG) oder kann diese Rahmenfrist gemäss den AVIG-Bestimmungen verlängert werden? Für Versicherte, die sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet haben, hat das Bundesgericht die Frage entschieden. Die für den Bezug eines Arbeitslosentaggeldes erforderliche Mindestbeitragszeit, deren Erfüllung Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung gibt, muss während der ordentlichen zweijährigen Rahmenfrist zurückgelegt worden sein. Eine Verlängerung dieser Frist nach Art. 9b Abs. 2 AVIG fällt ausser Betracht (BGE 136 V 239 E. 2.2-2.4 S. 242 f.). Das Gericht liess sich von der Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers leiten, wonach nur erwerbstätige Frauen Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung haben sollen. Diesen gleichgestellt sind Frauen, die wegen Arbeitslosigkeit (oder Arbeitsunfähigkeit) im Zeitpunkt der Niederkunft nicht erwerbstätig waren. Nur für diese Fälle ermächtigt Art. 16b Abs. 3 EOG den Bundesrat, von den in Abs. 1 genannten Voraussetzungen abzuweichen. Würde der Bundesrat die ![]() | 37 |
4.3.4 In völlig anderm Licht präsentiert sich die hier zu beurteilende Frage nach der Verlängerung der Rahmenfrist für die Beitragszeit im Sinne von Art. 9a Abs. 2 AVIG in Verbindung mit Art. 29 lit. b EOV. Eine derartige Verlängerung um die Dauer der selbständigen Erwerbstätigkeit (höchstens jedoch um zwei Jahre) kommt gerade (früher) erwerbstätigen Müttern zugute und entspricht somit der Regelungsabsicht des Gesetzgebers wie sie den Materialien zu entnehmen ist (E. 4.3.2 erster Abschnitt). Wenn ferner Sinn und Zweck der streitigen Verordnungsnorm in der Verhinderung von Fällen liegt, bei denen sich Frauen in "schockierender" Weise von der Mutterschaftsentschädigung ausgeschlossen sehen (vgl. a.a.O.), verlangt der hier zu beurteilende Sachverhalt über den Einzelfall hinaus exemplarisch nach einer Verlängerung der ordentlichen zweijährigen Rahmenfrist, um den Kreis der Anspruchsberechtigten nicht in stossender Weise zu verengen: Die Beschwerdeführerin war vor der Geburt ihres Sohnes während 4 Jahren und 8 Monaten ununterbrochen als angestellte oder selbständige Coiffeuse erwerbstätig, bevor sie ihren eigenen Salon fünfeinhalb Wochen vor der Niederkunft wegen Schwangerschaftsbeschwerden aufgab und ihren (noch abklärungsbedürftigen) Angaben zufolge wieder eine (Teilzeit-)Anstellung suchte. Die Auslegung der Verordnungsbestimmung mit Blick auf ihre Einbettung im Normengefüge weist schliesslich in dieselbe Richtung. Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung soll nach ausdrücklicher Intention des Verordnungsgebers (E. 4.3.2 hiervor zweiter Abschnitt) nicht nur die Mutter haben, die bis zur Geburt ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung bezieht (Art. 29 lit. a EOV), sondern eben auch diejenige, die am Tag der Geburt die diesbezüglichen Anspruchsvoraussetzungen bzw. die dafür erforderliche Beitragsdauer erfüllt, ohne tatsächlich ein Arbeitslosentaggeld zu beanspruchen (Art. 29 lit. b EOV). Unter die Frauen, welche Anspruch auf eine Mutterschaftsentschädigung haben, weil sie gemäss lit. a von Art. 29 EOV bis zur Geburt ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung bezogen haben, fallen zwangsläufig auch solche, die in den Genuss einer nach Art. 9a Abs. 2 AVIG verlängerten Rahmenfrist für die Beitragszeit gelangt waren. Es drängt sich deshalb unter systematischem Blickwinkel geradezu auf, Müttern, die - wie ![]() | 38 |
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4.3.6 Die Beschwerdeführerin hat nach Lage der Akten - zumindest in den letzten Jahren vor der Geburt ihres Sohnes am 9. Oktober 2013 - nie Leistungen der Arbeitslosenversicherung bezogen. Aufgrund ihrer von Anfang Februar 2011 bis Ende August 2013 dauernden selbständigen Erwerbstätigkeit verlängerte sich die Rahmenfrist für den Beitragsbezug um die Maximaldauer von zwei Jahren und umfasste mithin den Zeitraum vom 9. Oktober 2009 bis 8. Oktober 2013. Ab Beginn dieser Periode bis Ende Januar 2011 übte sie im Coiffeursalon B. eine beitragspflichtige Beschäftigung aus. Damit übertraf sie die für den Bezug eines Arbeitslosentaggeldes erforderliche Mindestbeitragsdauer von zwölf Monaten (Art. 29 lit. b EOV in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 AVIG). Ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung hat, hängt nach dem Gesagten allein davon ab, ob sie im Zeitpunkt der Geburt materiell arbeitsunfähig war, was das kantonale Gericht näher abzuklären hat (E. 4.2.2 hiervor). (...)
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