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59. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_337/2016 / 9C_383/2016 vom 17. November 2016 | |
Regeste |
Art. 9 Abs. 2 IVG; aArt. 22quater Abs. 2 IVV, in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2007; Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 lit. a, Art. 19 f. und Ziff. 4 Anhang VI (Schweiz) der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (in Kraft gestanden bis 31. März 2012): Versicherungsmässige Voraussetzungen in Bezug auf Eingliederungsmassnahmen bei Kindern von in der Schweiz erwerbstätigen Grenzgängern. | |
Sachverhalt | |
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A.a A. lebt seit ihrer Geburt bei ihren Eltern in Deutschland. Ihre Mutter, B., ist Schweizerin und arbeitet in der Schweiz; ihr Vater, C., ist deutscher Staatsangehöriger. Die Eltern meldeten ihre Tochter im Frühjahr 2008 bei der schweizerischen Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, wobei sie als Behinderung eine Mosaik-Trisomie 9 vermerkten. Mit Verfügung vom 2. November 2010 lehnte die IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA im Sinne des Vorbescheids vom 31. August 2010 das Gesuch um medizinische Massnahmen zur Behandlung der Mosaik-Trisomie 9 (Rechnung der D. vom 6. Januar 2010) ab. In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das Bundesverwaltungsgericht mit Entscheid vom 15. November 2012 diesen Verwaltungsakt auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung des Sachverhalts im Sinne der Erwägungen und zum Erlass einer neuen Verfügung an die IVSTA zurück (Verfahren C-8580/2010).
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A.b Nach Abklärungen lehnte die IVSTA mit Verfügung vom 12. Februar 2014 das Gesuch um medizinische Massnahmen zur Behandlung der Mosaik-Trisomie 9 (Rechnung der D. vom 6. Januar 2010) erneut ab. Bereits am 26. September 2013 hatte sie im Sinne des Vorbescheids vom 7. Dezember 2010 die Ablehnung des Hilfsmittels (Spezial-Halbschuhe für Orthesen gemäss Kostenvoranschlag der D. vom 27. Oktober 2010) verfügt.
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B. Gegen beide Verfügungen erhoben B. und C. als gesetzliche Vertreter ihrer Tochter Beschwerde. Beide Rechtsmittel hiess das Bundesverwaltungsgericht, Abteilung III, mit Entscheiden vom 22. März 2016 und 29. April 2016 gut, indem es die angefochtenen Verwaltungsakte aufhob und die Sache an die IVSTA zurückwies, damit diese nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen über den Leistungsanspruch neu verfüge.
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C. Die IVSTA hat gegen beide Entscheide Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht, mit welchen sie deren Aufhebung beantragt (Verfahren 9C_337/2016 und 9C_383/2016).
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B. und C. beantragen die Abweisung beider Beschwerden, das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) deren Gutheissung.
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Zu beiden Vernehmlassungen des BSV haben sich die Eltern von A. geäussert.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerden gut.
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Es ist unbestritten, dass sich die Beschwerdegegnerin grundsätzlich auf Art. 3 Abs. 1 VO 1408/71 berufen kann (vgl. BGE 133 V 320 E. 5.2.5 S. 324 ff.; EICHENHOFER, a.a.O., N. 7 und 10 zu Art. 3 VO 1408/71).
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Die Beschwerdeführerin bringt dagegen vor, aus dem Urteil des Bundesgerichts 9C_1026/2010 vom 23. Dezember 2011 E. 4 sei zu folgern, dass nur bei Bestehen einer Versicherungslücke in Bezug auf die beantragten Eingliederungsleistungen von Inkompatibilität der Regelung nach Art. 9 Abs. 2 IVG mit dem europäischen Koordinationsrecht auszugehen sei. Eine solche Lücke sei nicht gegeben und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht festgestellt worden. Sodann sei fraglich, ob eine Kostenbeteiligung von jährlich höchstens Fr. 350.- gemäss Art. 64 Abs. 4 KVG und Art. 103 Abs. 2 KVV (SR 832.102) eine indirekte Diskriminierung im Sinne von Art. 2 FZA (SR 0.142.112.681) und Art. 3 Abs. 1 VO 1408/71 darstellen könne. Es komme hinzu, dass die Eltern frei hätten wählen können, ihre Tochter der schweizerischen oder der deutschen Krankenversicherung zu unterstellen. Bei Letzterem hätten sie das schweizerische System der Kostenbeteiligung vermeiden können. Die freie Wahlmöglichkeit schliesse die Annahme einer indirekten Diskriminierung aus. Das BSV bringt u.a. vor, die schweizerischen Sozialversicherungen würden medizinische Massnahmen für Kinder in verschiedenen Versicherungszweigen vorsehen. Dieser Umstand dürfe nicht dazu führen, Kinder ohne Wohnsitz in der Schweiz über ![]() | 13 |
Erwägung 6.3 | |
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Aus dem Urteil 9C_1026/2010 vom 23. Dezember 2011 lässt sich nichts Entscheidendes herauslesen für die Beurteilung der Frage, ob im vorliegenden Fall die Anwendung von Art. 9 Abs. 2 IVG bzw. aArt. 22quater Abs. 2 IVV zu einer (indirekten) Diskriminierung der Beschwerdegegnerin im Sinne von Art. 3 Abs. 1 VO 1408/71 führt. Auch BGE 137 V 167 ist nicht einschlägig. Dort gelangte das Bundesgericht in einem nicht von FZA und VO 1408/71 erfassten Fall zum Ergebnis, dass die bundesrechtskonforme Auslegung von Art. 9 Abs. 2 IVG keine Ausweitung dieser Bestimmung auf davon nicht erfasste Personen zulässt (i.c. minderjähriges Kind, das in ![]() | 15 |
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6.3.2.1 Die besonderen Vorschriften zu den Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft (Titel III Kapitel 1, Art. 18 ff. VO 1408/71) statuieren in Abschnitt 2 "Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige" in Art. 19 als allgemeine Regel Folgendes: Ein Arbeitnehmer oder Selbstständiger, der im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des zuständigen Staates wohnt und die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 18, erfüllt, erhält in dem Staat, in dem er wohnt, Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre (Abs. 1 lit. a). Absatz 1 gilt entsprechend für Familienangehörige, die im Gebiet eines anderen als des zuständigen Staates wohnen, sofern sie nicht auf Grund der Rechtsvorschriften des Staates, in dessen Gebiet sie wohnen, Anspruch auf diese Leistungen haben (Abs. 2 erster Abschnitt). Wohnen die Familienangehörigen im Gebiet eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Anspruch auf Sachleistungen nicht von Versicherungs- oder Beschäftigungsbedingungen abhängig ist, so gelten die ihnen gewährten Sachleistungen als für Rechnung des Trägers gewährt, bei dem der Arbeitnehmer oder Selbstständige versichert ist, es sei denn, dass sein Ehegatte oder die Person, die für die Kinder sorgt, eine Berufstätigkeit im Gebiet dieses Mitgliedstaats ausübt (Abs. 2 zweiter Abschnitt).
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Es gilt somit das Prinzip der aushelfenden Sachleistungserbringung am Wohnort (KARL-JÜRGEN BIEBACK, in: Europäisches Sozialrecht, Maximilian Fuchs [Hrsg.], 4. Aufl. 2005, N. 4 und 20 ff. zu Art. 19 VO 1408/71). Dabei gehen die Kosten zu Lasten des zuständigen Versicherers des Beschäftigungsstaates (BBl 1999 6321 f.), im Falle der Schweiz somit der Krankenversicherung oder der Invalidenversicherung. Unklar ist, ob die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ![]() | 18 |
6.3.2.2 Art. 20 mit der Überschrift "Grenzgänger [Art. 1 lit. b] und deren Familienangehörige - Sonderregelungen" hält fest: Ein Grenzgänger kann die Leistungen auch im Gebiet des zuständigen Staates erhalten. Diese Leistungen werden vom zuständigen Träger nach den Rechtsvorschriften dieses Staates erbracht, als ob der Grenzgänger dort wohnte. Die Familienangehörigen eines Grenzgängers können unter den gleichen Voraussetzungen Leistungen erhalten; die Gewährung dieser Leistungen ist jedoch - ausser in dringlichen Fällen - davon abhängig, dass zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten oder zwischen den zuständigen Behörden dieser Staaten eine entsprechende Vereinbarung getroffen worden ist oder dass, in Ermangelung einer solchen Vereinbarung, der zuständige Träger vorher seine Genehmigung hierzu erteilt hat. Durch diese Vorschrift wird den Grenzgängern ein Wahlrecht eingeräumt, Leistungen nicht nur am Wohnort, sondern auch am Beschäftigungsort in Anspruch zu nehmen (BIEBACK, a.a.O., N. 1 zu Art. 20 VO 1408/71; BBl 1999 6323 oben). Davon werden indessen die Familienangehörigen nicht automatisch erfasst, sondern nur, wenn einer der explizit vorgesehenen Ausnahmetatbestände gegeben ist. Der Grund liegt darin, dass sie ![]() | 19 |
6.3.2.3 Die Verordnung hätte Art. 20 Satz 1 und 2 für die Familienangehörigen des Grenzgängers, die im Gebiet eines anderen als des zuständigen Beschäftigungsstaats wohnen, für entsprechend anwendbar erklären können, wie sie es im Rahmen der allgemeinen Regelung nach Art. 19 tut (vgl. E. 6.3.2.1 hiervor). Das macht sie indessen ausdrücklich nicht, sondern überlässt es den einzelnen Staaten, untereinander Vereinbarungen betreffend ein Wahlrecht und dessen Ausgestaltung in Bezug auf Sachleistungen für Familienangehörige von Grenzgängern (bei Krankheit und Mutterschaft) am Beschäftigungsort abzuschliessen. Einzige Schranke aus Sicht des Koordinationsrechts, dem es nicht um die inhaltliche Angleichung nationaler Systeme sozialer Sicherheit im Sinne einer Harmonisierung geht (BGE 141 V 246 E. 5.1 S. 251), ist, dass die Rechtsstellung der betreffenden Personen nach Art. 19 Abs. 2 nicht tangiert oder sogar verschlechtert wird, und zwar unabhängig davon, ob sie im Sinne eines Teils der Lehre (nicht aus eigenem Recht) der Versicherung des Erwerbstätigen im Beschäftigungsstaat unterstellt sind oder nicht (E. 6.3.2.1 hiervor). Die Mitgliedstaaten sind indessen nicht gehalten, eine mit Art. 19 Abs. 2 in dem Sinne gleich lautende Regelung zu schaffen, dass der Versicherungsträger bzw. Versicherungszweig im Beschäftigungsstaat des Grenzgängers, für dessen Rechnung die aushelfende Sachleistungserbringung am Wohnort erfolgt, im Wahlrecht des Familienangehörigen in Bezug auf die Leistungserbringung am Erwerbsort steht. Die gegenteilige Auffassung lässt sich nicht etwa damit begründen, dass es sich ungeachtet der innerstaatlichen Zuständigkeit um Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft im Sinne von Art. 4 Abs. 1 lit. a VO 1408/71 handelt (in diesem Sinne BUCHER, a.a.O., S. 75 N. 54). Das vom FZA übernommene Gemeinschaftsrecht im Bereich soziale Sicherheit will koordinieren, nicht harmonisieren. Die Mitgliedstaaten bestimmen grundsätzlich, unter welchen Voraussetzungen ein Recht auf Unterstellung unter eine Versicherung oder eine Verpflichtung hierzu besteht und Leistungen gewährt werden (BGE 134 V 428 E. 3.1 S. 431; vgl. auch EICHENHOFER, a.a.O., N. 8 zu Art. 3 VO 1408/71, wonach Art. 3 das Recht jedes Mitgliedstaates zur grundsätzlichen freien rechts- und sozialpolitischen Gestaltung unberührt lässt).
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Ziff. 4 Anhang VI (Schweiz) VO 1408/71 ist eine Vereinbarung zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 20 Satz 3. Danach gilt ![]() | 21 |
6.4 Nach dem Gesagten halten sich Art. 9 Abs. 2 IVG und aArt. 22quater Abs. 2 IVV, welche die Kinder von in der Schweiz tätigen Grenzgängern von der Unterstellung unter die schweizerische Invalidenversicherung ausnehmen, im Rahmen der VO 1408/71. Die Nichtanwendung dieser Bestimmungen durch das Bundesverwaltungsgericht verletzt Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG). Die Beschwerden sind begründet. (...)
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