BGE 143 V 66 | |||
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5. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_814/2016 vom 3. April 2017 | |
Regeste |
Art. 5 Abs. 3 BV; Art. 55 Abs. 1 IVG; Art. 40 Abs. 3 IVV; örtlich zuständige IV-Stelle. | |
Sachverhalt | |
A. A., geboren 1972, ist Mutter eines Sohnes (geboren 1995) und einer Tochter (geboren 2001). Sie war verschiedentlich als Hilfsarbeiterin tätig. Ab 1. April 2004 bezog sie bei einem Invaliditätsgrad von 55 % eine halbe Rente der Invalidenversicherung (Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 5. Juli 2006). Im Rahmen der im Jahr 2009 eingeleiteten ordentlichen Revision hob die nunmehr zuständige IV-Stelle des Kantons Zürich diese Invalidenrente mit Verfügung vom 29. August 2011 auf Ende des der Verfügungszustellung folgenden Monats auf. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich am 20. Dezember 2012 gut, hob die Verfügung vom 29. August 2011 auf und stellte fest, A. habe weiterhin Anspruch auf eine halbe Invalidenrente; zudem ordnete es die Überweisung der Akten an die IV-Stelle des Kantons Zürich nach Eintritt der Rechtskraft an, damit diese den Rentenanspruch im Sinne von lit. a der Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision) prüfe.
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Nach Einholung des Gutachtens der Frau Dr. med. B., Fachärztin für Innere Medizin, speziell Rheumaerkrankungen, vom 12. April 2014 und des Gutachtens des PD Dr. med. C., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 30. April 2014 sowie deren bidisziplinäre Zusammenfassung vom 2. Mai 2014 hob die IV-Stelle am 7. Mai 2015 die Invalidenrente auf Ende des der Verfügung folgenden Monats auf.
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B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Beschwerde am 29. September 2016 ab.
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C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, es seien der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und ihr wieder eine Invalidenrente auszurichten. Zudem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.
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D. Das Bundesgericht hat am 3. April 2017 eine öffentliche Beratung durchgeführt.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 4 | |
4.1 Die Versicherte lebte bei Einleitung der ordentlichen Rentenrevision im Jahre 2009 im Kanton Zürich, weshalb die IV-Stelle des Kantons Zürich dafür zuständig war. In ihrer Stellungnahme vom 25. März 2011 zum Vorbescheid vom 22. März 2011 führte die Versicherte noch den bisherigen Wohnsitz im Kanton Zürich auf. Mit Vollmacht vom 15. September 2011 beauftragte sie Rechtsanwältin D. zur Vertretung betreffend Leistungen der Invalidenversicherung; dabei erscheint erstmals die neue Wohnadresse im Kanton Aargau. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hob die am 29. August 2011 verfügte Einstellung der Invalidenrente am 20. Dezember 2012 mit der Feststellung auf, die Versicherte habe weiterhin Anspruch auf eine halbe Invalidenrente, und überwies die Sache zur Überprüfung im Sinne der Schlussbestimmungen zur 6. IV-Revision an die IV-Stelle des Kantons Zürich. Nachdem die als unentgeltliche Rechtsvertreterin bestellte Rechtsanwältin von diesem Entscheid Kenntnis genommen hatte, teilte sie der IV-Stelle des Kantons Zürich am 25. Februar 2013 mit, ihr Mandat sei beendet. Mit Vorbescheid vom 9. Dezember 2014 stellte die IV-Stelle des Kantons Zürich der Versicherten die Aufhebung ihrer Rente in Aussicht. Am 28. Januar 2015 leitete die IV-Stelle des Kantons Aargau die Stellungnahme vom 22. Januar 2015 der erneut beauftragtenRechtsanwältin D. zum Vorbescheid an die IV-Stelle des Kantons Zürich weiter. Darin ersuchte die Rechtsvertreterin, welche zwar über den Vorbescheid verfügte, um Zustellung der Akten. Dem kam die IV-Stelle des Kantons Zürich am 4. Februar 2015 nach und erstreckte antragsgemäss die Frist zur Stellungnahme um 30 Tage ab Erhalt der Akten. Die ergänzende Stellungnahme zum Vorbescheid adressierte die Rechtsvertreterin erneut an die IV-Stelle des Kantons Aargau. Auf telefonische Nachfrage der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 16. März 2015 übermittelte sie dieses Schreiben auch der IV-Stelle des Kantons Zürich. Mit Schreiben vom 2. April 2015 setzte die IV-Stelle des Kantons Zürich der Rechtsvertreterin eine Nachfrist zur Einreichung der Unterlagen zum Gesuch um unentgeltlichen Rechtsbeistand. Dieser Aufforderung kam die Rechtsanwältin am 9. April 2015 nach; in diesem Schreiben entschuldigte sie sich für die verursachten Umstände, da sie angesichts des Wohnsitzes der Versicherten die Unterlagen fälschlicherweise an die IV-Stelle des Kantons Aargau gesandt habe, und erneuerte ihr Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung der Versicherten. In der Beschwerde vom 9. Juni 2015 gegen die Rentenaufhebung mit Verfügung vom 7. Mai 2015 erhob sie erstmals den Einwand, die IV-Stelle des Kantons Zürich sei unzuständig und hätte nach dem Entscheid vom 20. Dezember 2012 die Sache an die IV-Stelle des Kantons Aargau übergeben müssen.
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4.3 Auch der Private ist im Verkehr mit den Behörden an Treu und Glauben gebunden (Art. 5 Abs. 3 BV). Ein auch im öffentlichen Recht anerkannter Ausfluss davon ist das Verbot widersprüchlichen Verhaltens. Da jedoch die Berufung auf das Verbot widersprüchlichen Verhaltens gegenüber dem Bürger stets auf eine Verkürzung von dessen gesetzlichen Rechtspositionen hinausläuft, ist - insbesondere wenn es aus passivem Verhalten abgeleitet wird - Zurückhaltung angebracht (THOMAS GÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005, S. 194 ff., S. 197). In Anlehnung an die privatrechtliche Doktrin zu Art. 2 Abs. 2 ZGB kann Widersprüchlichkeit einerseits auf der Unvereinbarkeit zweier Verhaltensweisen und andererseits auf dem Verbot, begründete Erwartungen eines anderen zu enttäuschen, beruhen. Zentral ist die Abwägung der Interessen und dabei eine allfällige Vertrauensbetätigung der Behörden (GÄCHTER, a.a.O., S. 199 f., S. 208 und S. 556 f.; BGE 137 V 394 E. 7.1 S. 403).
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Die bundesgerichtliche Rechtsprechung verlangt gestützt auf den auch für Private geltenden Grundsatz von Treu und Glauben und das Verbot des Rechtsmissbrauchs (Art. 5 Abs. 3 BV; BGE 137 V 394 E. 7.1 S. 403 mit Hinweisen), dass verfahrensrechtliche Einwendungen so früh wie möglich, das heisst nach Kenntnisnahme eines Mangels bei erster Gelegenheit, vorzubringen sind. Es verstösst gegen Treu und Glauben, Mängel dieser Art erst in einem späteren Verfahrensstadium oder sogar erst in einem nachfolgenden Verfahren geltend zu machen, wenn der Einwand schon vorher hätte festgestellt und gerügt werden können. Wer sich auf das Verfahren einlässt, ohne einen Verfahrensmangel bei erster Gelegenheit vorzubringen, verwirkt in der Regel den Anspruch auf spätere Anrufung der vermeintlich verletzten Verfahrensvorschrift (vgl. BGE 135 III 334 E. 2.2 S. 336; BGE 134 I 20 E. 4.3.1 S. 21; BGE 132 II 485 E. 4.3 S. 496 f.; BGE 130 III 66 E. 4.3 S. 75; je mit Hinweisen; Urteil 1C_630/2014 vom 18. September 2015 E. 3.1).
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So sind etwa verspätet vorgebrachte Ausstandsgründe nicht zu berücksichtigen resp. verwirkt (BGE 140 I 271 E. 8.4.5 S. 276; SVR 2006 UV Nr. 20 S. 70 E. 4.5, U 303/05; vgl. zum "Organmangel" etwa Urteil 2C_694/2012 vom 21. Dezember 2012 E. 2.2.). Eine Organisation verwirkt ihr Recht auf eine Beschwerde, wenn sie trotz Kenntnis der erfolgten baulichen Veränderungen infolge nicht ordnungsgemässer Publikation der Baubewilligung zuwartet (Urteil 1C_150/2012 vom 6. März 2013 E. 2.3 ff., publiziert in: ZBl 115/2014 S. 324). Eine Partei versäumt, die zur Wahrung ihrer Rechte notwendigen Schritte zu unternehmen, wenn sie eine Verfahrensrüge erst im Rechtsmittelverfahren, resp. wenn das Urteil zu ihrem Nachteil ausgefallen ist, vorbringt (Urteil 5A_121/2013 vom 2. Juli 2013; vgl. auch Urteil 4A_160/2013 vom 21. August 2013 E. 3.4). Auch im Rahmen des strafrechtlichen Verfahrens werden formelle Rügen, die in einem früheren Verfahrensstadium hätten geltend gemacht werden können, nicht berücksichtigt, wenn sie erst bei ungünstigem Ausgang vorgebracht werden; diese Rechtsprechung entspricht nicht nur jener des Bundesgerichts, sondern auch jener des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil 6B_678/2013 vom 3. Februar 2014 E. 2.2 und 2.3). Ebenfalls verspätet ist die Rüge im Rechtsmittelverfahren, der vorinstanzlich durchgeführte Augenschein sei nicht rechtskonform erfolgt, wenn die gerügten Umstände bereits vor Erlass des vorinstanzlichen Entscheids bekannt waren (Urteil 1C_542/2011 vom 3. Oktober 2012 E. 4.1). Bei falschen Rechtsmittelbelehrungen wird von einer anwaltlich vertretenen Person erwartet, dass ihr Vertreter die einschlägigen Gesetzestexte konsultiert; es liegt eine nicht zu schützende grobe Sorgfaltswidrigkeit vor, wenn sich die Fehlerhaftigkeit bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt (vgl. etwa Urteil 8C_122/2013 vom 7. Mai 2013 E. 4.1 mit Hinweisen). Schliesslich gewährte das Bundesgericht auch keinen Schutz aus Art. 5 Abs. 3 BV im Falle einer anwaltlich vertretenen Person, der von der Verwaltung offensichtlich zu Unrecht eine Nachfrist zur Einreichung einer Einspracheergänzung gewährt wurde (Urteil 9C_191/2016 vom 18. Mai 2016 E. 4.3).
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Angesichts der dargelegten Praxis des Bundesgerichts gilt die Rüge der örtlichen Unzuständigkeit einer Behörde als verspätet, wenn sie von einer anwaltlich vertretenen Person nicht umgehend vorgebracht wird. Auch in diesem Fall darf nicht zugewartet werden, bis die für die betroffene Person nachteilige Verfügung - von einer angeblich örtlich unzuständigen IV-Stelle - erlassen wird, um diese danach im Rechtsmittelverfahren anzufechten.
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4.4 Gemäss dem in E. 4.1 dargelegten Verfahrensablauf war der Rechtsvertreterin bereits mit Kenntnisnahme des Entscheids vom 20. Dezember 2012 bekannt, dass die Akten an die IV-Stelle des Kantons Zürich überwiesen wurden. Spätestens beim Verfassen des Schreibens vom 9. April 2015 - und damit noch vor Verfügungserlass - war der Rechtsvertreterin klar, dass die IV-Stelle des Kantons Zürich weiterhin den Fall bearbeitete. Dennoch erhob sie keinerlei Einwände dagegen. Der erst nach Erlass der Verfügung vom 7. Mai 2015 in der Beschwerde an die Vorinstanz erhobene Einwand der örtlichen Unzuständigkeit erfolgt damit zu spät und zeitigt keine Rechtsfolgen. (...)
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