BGE 143 V 105 | |||
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11. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_721/2016 vom 15. März 2017 | |
Regeste |
Art. 53 Abs. 1 ATSG; Art. 67 Abs. 1 VwVG in Verbindung mit Art. 55 Abs. 1 ATSG. | |
Sachverhalt | |
A. Der 1987 geborene A. wurde am 5. Juni 2005 von einer Sondereinheit der Polizei irrtümlich verhaftet. Er meldete dies der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva), wobei er auf beim Polizeieinsatz erlittene Verletzungen verwies. In der Folge klagte er namentlich über psychische Beschwerden. Die Suva anerkannte ihre Leistungspflicht als obligatorischer Unfallversicherer, gewährte bis Mai 2011 Heilbehandlung und richtete bis Juni 2011 Taggeld aus. Mit Verfügung vom 9. Juli 2010 verneinte die Invalidenversicherung, bei der sich A. unter Hinweis auf Folgen des Polizeieinsatzes ebenfalls zum Leistungsbezug angemeldet hatte, einen Anspruch auf eine Invalidenrente mit der Begründung, es habe nie eine Invalidität bestanden. Das wurde mit Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz vom 1. Mai 2012 und letztinstanzlich mit Urteil 8C_483/2012 des Bundesgerichts vom 4. Dezember 2012 bestätigt. Mit Verfügung vom 7. März 2013 kam die Suva im Sinne einer prozessualen Revision auf ihre ab 1. September 2005 erbrachten Leistungen zurück. Sie erkannte, ab diesem Datum bestehe kein Leistungsanspruch mehr und habe A. die Leistungen daher zu Unrecht bezogen, weshalb diese zurückgefordert würden. Daran hielt die Suva mit Einspracheentscheid vom 18. April 2013 fest.
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Mit rechtskräftigem Entscheid des Strafgerichts vom 1. Juli 2014 wurde A. des gewerbsmässigen Betrugs schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Begründet wurde dies damit, A. habe nach dem Ereignis vom 5. Juni 2005 bezüglich seines psychischen Gesundheitszustandes falsche Tatsachen vorgespielt sowie relevante Tatsachen unterdrückt und damit die Suva und die Invalidenversicherung arglistig getäuscht, um unrechtmässig Versicherungsleistungen beziehen zu können.
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B. Die von A. gegen den Einspracheentscheid vom 18. April 2013 erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 5. September 2016 unter Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A., in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei festzustellen, dass die Suva die 90-tägige Revisionsfrist versäumt habe. Weiter wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das letztinstanzliche Verfahren ersucht.
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Die Suva schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. Mit Eingabe vom 23. Januar 2017 hält A. an seinen Anträgen fest.
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Aus den Erwägungen: | |
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2.1 Gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG müssen formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war. Diese sog. prozessuale Revision kommt auch bei formlosen, rechtsbeständig gewordenen Leistungszusprechungen zur Anwendung (Urteil 8C_469/ 2013 vom 24. Februar 2014 E. 2, nicht publ. in: BGE 140 V 70, aber in: SVR 2014 UV Nr. 14 S. 44; SVR 2012 UV Nr. 17 S. 63, 8C_434/2011 E. 3; 2007 ALV Nr. 24 S. 75, C 119/06 E. 3.2; vgl. auch BGE 138 V 324 E. 3.1 S. 327; je mit Hinweisen). Neue Tatsachen und Beweismittel im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG sind innert 90 Tagen nach ihrer Entdeckung geltend zu machen; nebst dieser relativen Frist gilt eine absolute 10-jährige Frist, die mit der Eröffnung der Verfügung resp. des Einspracheentscheides zu laufen beginnt (vgl. Art. 67 Abs. 1 VwVG in Verbindung mit Art. 55 Abs. 1 ATSG; SVR 2012 IV Nr. 36 S. 140, 9C_896/2011 E. 4.2; erwähntes Urteil SVR 2012 UV Nr. 17 E. 3 mit Hinweisen).
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2.3 Der Begriff "neue Tatsachen oder Beweismittel" ist bei der (prozessualen) Revision eines Verwaltungsentscheides nach Art. 53 Abs. 1 ATSG gleich auszulegen wie bei der Revision eines kantonalen Gerichtsentscheides gemäss Art. 61 lit. i ATSG oder bei der Revision eines Bundesgerichtsurteils gemäss Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG. Neu sind Tatsachen, die sich bis zum Zeitpunkt, da im Hauptverfahren noch tatsächliche Vorbringen prozessual zulässig waren, verwirklicht haben, jedoch dem Revisionsgesuchsteller trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren. Die neuen Tatsachen müssen ferner erheblich sein, d.h. sie müssen geeignet sein, die tatbestandliche Grundlage des zur Revision beantragten Entscheids zu verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer andern Entscheidung zu führen. Neue Beweismittel haben entweder dem Beweis der die Revision begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil des Gesuchstellers unbewiesen geblieben sind. Erheblich ist ein Beweismittel, wenn anzunehmen ist, es hätte zu einem anderen Urteil geführt, falls das Gericht resp. die Verwaltung im Hauptverfahren davon Kenntnis gehabt hätte (ARV 2013 S. 356, 8C_334/2013 E. 3.2; vgl. auch erwähntes Urteil SVR 2012 UV Nr. 17 E. 7.1; je mit Hinweisen). Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss der Sachverhaltswürdigung, sondern der Sachverhaltsfeststellung dient. Es bedarf dazu neuer Elemente tatsächlicher Natur, welche die Entscheidungsgrundlagen als objektiv mangelhaft erscheinen lassen (BGE 138 V 324 E. 3.2 S. 328 mit Hinweisen; vgl. auch erwähnte Urteile ARV 2013 S. 356 E. 3.2; SVR 2012 UV Nr. 17 E. 7.1; je mit Hinweisen).
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2.4 Grundsätzlich bestimmt sich der Zeitpunkt, in welchem die Partei den angerufenen Revisionsgrund hätte entdecken können, nach dem Prinzip von Treu und Glauben. Praxisgemäss beginnt die relative 90-tägige Revisionsfrist zu laufen, sobald bei der Partei eine sichere Kenntnis über die neue erhebliche Tatsache oder das entscheidende Beweismittel vorhanden ist. Blosse Vermutungen oder gar Gerüchte genügen dagegen nicht und vermögen den Lauf der Revisionsfristen nicht in Gang zu setzen (erwähntes Urteil SVR 2012 UV Nr. 17 E. 4.1 mit Hinweis auf BGE 95 II 283 E. 2b S. 286; Urteile 4F_8/2010 vom 18. April 2011 E. 1.3; 4C.111/2006 vom 7. November 2006 E. 1.2; 4P.102/2006 vom 29. August 2006 E. 4.1 und 5C.145/1999 vom 23. Juli 1999 E. 3; KARIN SCHERRER, in: Praxiskommentar VwVG, Waldmann/Weissenberger [Hrsg.], 2. Aufl. 2016, N. 4 zu Art. 67 VwVG; AUGUST MÄCHLER, in: Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, Auer/Müller/Schindler [Hrsg.], 2008, N. 2 zu Art. 67 VwVG; PIERRE FERRARI, in: Commentaire de la LTF, Corboz/Wurzburger/Ferrari/Frésard/Aubry Girardin [Hrsg.], 2009, N. 7 zu Art. 124 BGG; YVES DONZALLAZ, Loi sur le Tribunal fédéral, 2008, N. 4726 zu Art. 124 BGG). Die sichere Kenntnis ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht erst dann gegeben, wenn der Revisionskläger die neue erhebliche Tatsache sicher beweisen kann, sondern es genügt ein auf sicheren Grundlagen fussendes Wissen darüber (Urteil 4A_277/2014 vom 26. August 2014 E. 3.3 mit Hinweisen; Urteil 4A_222/2011 vom 22. August 2011 E. 2.1 mit Hinweisen wörtlich: "... le requérant doit pouvoir disposer d'un titre l'établissant ou en avoir une connaissance suffisante pour en requérir l'administration").
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Ein Observationsbericht bildet für sich allein keine sichere Basis für Sachverhaltsfeststellungen betreffend den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person. Er kann diesbezüglich höchstens Anhaltspunkte liefern oder Anlass zu Vermutungen geben. Sichere Kenntnis des Sachverhalts kann in dieser Hinsicht erst die ärztliche Beurteilung des Observationsmaterials liefern. Die relative 90-tägige Revisionsfrist beginnt somit grundsätzlich erst zu laufen, wenn diese ärztliche Beurteilung vorliegt. Die Verwaltung hat die erforderlichen medizinischen Abklärungen innert angemessener Frist durchzuführen. Tut sie dies nicht, darf sich ihre Säumnis nicht zu ihren Gunsten und zuungunsten der versicherten Person auswirken. In einem solchen Fall ist der Beginn der relativen 90-tägigen Frist vielmehr auf den Zeitpunkt festzusetzen, in welchem die Verwaltung ihre unvollständige Kenntnis mit dem erforderlichen und zumutbaren Einsatz hätte hinreichend ergänzen können (erwähntes Urteil SVR 2012 UV Nr. 17 E. 4.2 mit Hinweis auf BGE 112 V 180 E. 4b S. 182; SVR 2005 ALV Nr. 8 S. 25, C 214/03 E. 3.1.2). Sodann hat das Bundesgericht im Urteil 4A_421/2014 vom 10. März 2015 E. 3.3 (veröffentlicht in: SJ 2015 I S. 371) erkannt, im beurteilten Fall habe die - für den Beginn der 90-tägigen Revisionsfrist gemäss Art. 329 Abs. 1 ZPO massgebliche - Kenntnis des Revisionsgrundes aufgrund der bis dahin gegebenen grossen rechtlichen Unsicherheit erst vorgelegen, nachdem ein kantonales Gericht über den revisionsrelevanten Umstand entschieden habe und die Frist für die gegen diesen Entscheid zu erhebende Beschwerde unbenützt abgelaufen sei.
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2.5.1 Das dazu von der Suva eingeholte psychiatrische Gutachten von Prof. Dr. med. B. vom 23. Februar 2012 konnte diese Frage nicht beantworten. Die Expertin gelangte zum Schluss, dass im Begutachtungszeitpunkt eine persistierende Belastungsstörung nicht (mehr) zu belegen sei. Sie hielt u.a. fest, unklar sei beispielsweise geblieben, wann die Besserung der Beschwerden eingesetzt habe, deren Vorhandensein nach dem traumatischen Ereignis 2005 die Gutachterin nicht grundsätzlich bezweifle. Eine psychiatrische Diagnose sei nach ICD-10/DSM-IV nicht mit ausreichender Sicherheit zu stellen. Abweichend von den Vorakten und den geklagten Beschwerden des Exploranden sei eine persistierende PTBS nicht (mehr) zu belegen, da heute einerseits erhebliche Zweifel an der Beschwerdenvalidität bestünden und andererseits, ginge man von Validität aus, die Kriterien gemäss SKID-I nach DSM-IV nicht mehr vollumfänglich erfüllt seien. Damit liess die Expertin die für die Revision relevante Frage offen, ob eine PTBS vorlag und ab wann dies nicht mehr zutraf. Das Gutachten konnte daher mit Bezug auf das Observationsmaterial keine sichere Kenntnis des Sachverhalts liefern.
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2.5.2 Das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz gelangte in seinem Entscheid vom 1. Mai 2012 zum Schluss, dass von Anfang an keine nicht überwindbare PTBS vorgelegen habe. Die betreffende Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts wurde indessen vom Versicherten mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten bestritten. Dieser stellte sich auf den Standpunkt, bei ihm habe entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz von Beginn weg eine nicht überwindbare PTBS bestanden. Die Frage, ob und gegebenenfalls bis wann eine solche PTBS vorlag, war somit Gegenstand des Urteils des Bundesgerichts 8C_483/ 2012 vom 4. Dezember 2012. Zwar deuteten die im Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 1. Mai 2012 gewürdigten Beweismittel darauf hin, dass beim Beschwerdeführer von Anfang an keine nicht überwindbare PTBS vorgelegen hatte. Sodann ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die sichere Kenntnis nicht erst dann gegeben, wenn der Revisionskläger die neue erhebliche Tatsache sicher beweisen kann, sondern es genügt ein auf sicheren Grundlagen fussendes Wissen darüber. Ein solches Wissen über die strittige Frage lag für die Suva jedoch erst nach dem Urteil des Bundesgerichts vom 4. Dezember 2012 vor, weshalb sie auch erst ab diesem Zeitpunkt die für eine Revision erforderliche sichere Kenntnis über die neue erhebliche Tatsache haben konnte. Die vorinstanzliche Beurteilung, dass die 90-tägige Frist für die Revision erst mit Kenntnisnahme des erwähnten Bundesgerichtsurteils ausgelöst wurde, ist daher nicht zu beanstanden. Dies führt zur Abweisung der Beschwerde. (...)
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