BGE 143 V 341 | |||
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36. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_108/2017 vom 16. August 2017 | |
Regeste |
Art. 3 Abs. 3 UVG (in der bis Ende 2016 in Kraft gestandenen Fassung); Art. 8 UVV und Art. 2 und 3 der Verordnung vom 24. Januar 1996 über die Unfallversicherung von arbeitslosen Personen (in Kraft bis Ende 2016); Art. 27 Abs. 2 ATSG und Art. 9 BV; Abredeversicherung; Beratungspflicht des Versicherungsträgers und Grundsatz von Treu und Glauben. | |
Sachverhalt | |
A. Die Arbeitslosenkasse des Kantons Luzern hatte dem 1958 geborenen A. in der Rahmenfrist für den Leistungsbezug vom 25. März 2013 bis 24. März 2015 Taggelder der Arbeitslosenversicherung ausgerichtet. Im letzten Bezugsmonat Januar 2015 wurden diesem gemäss Abrechnung der Arbeitslosenkasse vom 28. Januar 2015 16 entschädigungsberechtigte Taggelder ausbezahlt, wobei per 28. Januar 2015 260 bezogene Taggelder aufgeführt wurden, ohne explizite Angabe des letzten Bezugstages. Die Online-Anmeldung des A. zum Abschluss einer Abredeversicherung für Nichtberufsunfälle an die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) datiert vom 24. Februar 2015. Ebenfalls am 24. Februar 2015 zahlte er auch die erste Monatsprämie ein. Gleichentags bestätigte die Suva die Versicherungsdeckung nach UVG. A. verlängerte den Versicherungsschutz monatlich bis Ende August 2015 und bezahlte entsprechende Prämien ein. Die Suva sicherte ihm jeweils, letztmals mit Schreiben vom 21. Juli 2015 für die Dauer vom 1. März bis 31. August 2015, die Versicherungsdeckung nach UVG zu.
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Gemäss Unfallmeldung der Arbeitslosenkasse an die Suva vom 24. Juli 2015 rutschte A. am 22. Juli 2015 auf einer nassen Treppenstufe aus und zog sich einen Bruch des Mittelfusses links zu. Die Suva verneinte mit Verfügung vom 20. August 2015 einen Leistungsanspruch für die Folgen des Unfalls vom 22. Juli 2015 mit der Begründung, A. habe keine gültige Abredeversicherung abgeschlossen und sei daher nicht bei ihr unfallversichert. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 2. März 2016).
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B. Das Kantonsgericht Luzern wies die dagegen erhobene Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat (Entscheid vom 22. Dezember 2016).
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Die Suva und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde und verweisen auf die Erwägungen im angefochtenen Gerichtsentscheid. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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Erwägung 3.2 | |
3.2.1 Arbeitslose Personen, welche die Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 8 AVIG (SR 837.0) erfüllen oder Entschädigungen nach Art. 29 AVIG beziehen, sind bei der Suva obligatorisch gegen Unfälle versichert (Art. 2 Satz 1 aUVAL). Die Versicherung nach Art. 2 aUVAL ist eine Nichtberufsunfallversicherung (BGE 133 V 161 E. 2.2.1 S. 164). Sie beginnt nach Art. 3 Abs. 1 aUVAL mit dem Tag, an welchem die arbeitslose Person erstmals die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 8 AVIG erfüllt oder Entschädigungen nach Art. 29 AVIG bezieht (vgl. BGE 127 V 458 E. 2a/bb S. 459). Die Versicherung endet mit dem 30. Tag nach dem Tag, an dem die arbeitslose Person letztmals die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 8 AVIG erfüllt hat oder Entschädigungen nach Art. 29 AVIG bezogen hat (Art. 3 Abs. 2 aUVAL; vgl. nunmehr ab 1. Januar 2017 die mit einer kleinen Änderung in Art. 3 Abs. 2 UVG aufgenommene Regelung). Soweit die aUVAL keine spezielle Regelung enthält, richtet sich die Unfallversicherung der arbeitslosen Personen nach den Vorschriften des UVG und der UVV (SR 832.202; Art. 1 aUVAL).
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3.2.2.1 Nach den Grundsätzen über die Informationspflicht, die bezüglich der Abredeversicherung dem Versicherer und dem Arbeitgeber - als Organe der Versicherungsdurchführung - zukommt, und denjenigen über die Folgen einer Verletzung dieser Pflicht gilt, dass der Versicherer den Arbeitgeber und dieser den Arbeitnehmer über die Möglichkeit der Abredeversicherung zu informieren hat. Eine Verletzung dieser Informationspflicht kann nach den Prinzipien des öffentlich-rechtlichen Vertrauensschutzes zur Folge haben, dass die Versicherungsdeckung auch in Ermangelung einer Abredeversicherung bejaht wird (aArt. 72 UVV; SVR 2010 UV Nr. 2 S. 7, 8C_784/2008 E. 2 mit Hinweis auf BGE 121 V 28).
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3.2.2.2 Nach ständiger Rechtsprechung betreffend die Abredeversicherung einer arbeitslosen Person gemäss Art. 3 aAbs. 3 UVG und Art. 8 UVV in Verbindung mit Art. 2 und 3 aUVAL trifft die Informationspflicht nach aArt. 72 UVV (vgl. ab 1. Januar 2017 die explizite Regelung in Art. 72 Abs. 2 UVV) grundsätzlich die Organe der Arbeitslosenversicherung, die in diesem Regelungszusammenhang als Organe der Unfallversicherungsdurchführung tätig sind. Verletzen diese demnach ihre Pflicht, eine versicherte Person über die Möglichkeit einer Verlängerung des Unfallversicherungsschutzes durch Abschluss einer Abredeversicherung zu orientieren, hat dies unter bestimmten Voraussetzungen ebenso eine Leistungspflicht der Suva zur Folge (BGE 121 V 28 E. 2c S. 34; ARV 2010 S. 50, 8C_286/2009; RKUV 2004 Nr. U 499 S. 167, U 263/02 E. 1.2; Urteil U 600/06 vom 22. November 2007 E. 3.2 mit Hinweisen).
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4. In der Unfallmeldung der Arbeitslosenkasse vom 24. Juli 2015 wurde als letzter Tag mit Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung der 16. Januar 2015 angegeben. Gleichentags korrigierte die Kasse dieses Datum mittels E-Mail auf den 22. Januar 2015. Gestützt darauf hat die dreissigtägige Versicherungsnachdeckung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 aUVAL in Verbindung mit Art. 8 UVV am 23. Januar 2015 begonnen und am 21. Februar 2015 geendet. Die Anmeldung des Beschwerdeführers zwecks Abschlusses einer Abredeversicherung mit Online-Zahlung am 24. Februar 2015 war folglich unbestrittenermassen verspätet. Umstritten ist hingegen, ob der Beschwerdeführer in seinem Vertrauen auf eine gültig zustande gekommene Abredeversicherung zu schützen ist.
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Erwägung 5 | |
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Erwägung 5.2 | |
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Gemäss Art. 27 Abs. 2 ATSG hat jede Person Anspruch auf grundsätzlich unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten (Satz 1). Dafür zuständig sind die Versicherungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind (Satz 2). Die Beratung ist grundsätzlich auf entsprechendes Begehren der betreffenden Person sowie ohne Antrag vorzunehmen, wenn der Versicherungsträger einen entsprechenden Bedarf feststellt. Eine ungenügende oder fehlende Wahrnehmung der Beratungspflicht kommt einer falsch erteilten Auskunft des Versicherungsträgers gleich, weshalb dieser in Nachachtung des Vertrauensprinzips hierfür einzustehen hat (SVR 2007 KV Nr. 14 S. 53, K 7/06 E. 3.3 mit Hinweisen).
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5.2.2 Im vorliegenden Fall besteht die nachteilige Disposition des Beschwerdeführers darin, dass er - ohne dies zu wissen - keine gültige Abredeversicherung abgeschlossen hat und somit im Zeitpunkt des Ereignisses vom 22. Juli 2015 nicht gegen die Folgen von Nichtberufsunfällen versichert war. Die Ausgangslage lässt keinen Zweifel daran, dass der Beschwerdeführer von der Möglichkeit der Abredeversicherung Gebrauch machen wollte, wähnte er sich doch im Glauben, für einen entsprechenden Versicherungsschutz alles Notwendige unternommen zu haben. Hätte er von der zu späten Anmeldung bei der Suva gewusst, hätte er sich bei einem anderen Versicherungsträger um Abschluss einer Nichtberufsunfallversicherung bemüht. Insoweit liegt eine andere Konstellation vor als im Urteil 8C_784/2008 vom 11. September 2009, welches in der Beschwerde angerufen wird.
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Erwägung 5.3 | |
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5.3.2.1 Die Berufung auf Art. 43 ATSG ist allerdings nicht stichhaltig. Art. 43 ATSG bezieht sich namentlich auf Leistungsbegehren und ein solches wurde vorliegend erst nach Eintritt des Schadenfalls vom 22. Juli 2015 gestellt. Der Beschwerdeführer vertritt aber den Standpunkt, dass er vor dem Unfallereignis über das Nichtzustandekommen der Abredeversicherung hätte aufgeklärt werden müssen, damit ihm die Möglichkeit offengestanden hätte, sich anderweitig abzusichern. Somit stützt er sich hauptsächlich auf Art. 27 ATSG (vgl. E. 5.2.1 hiervor und E. 5.3.2.2 hiernach). Ob die Arbeitslosenversicherung ihrer Aufklärungs- und Beratungspflicht im Sinne von Art. 27 Abs. 1 oder Abs. 2 ATSG nachgekommen ist, kann - wie erwähnt - dahingestellt bleiben.
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5.3.2.2 Die Suva sah keinen Verstoss gegen ihre Aufklärungs- und Beratungspflichten, da sie bezüglich des letzten Arbeitslosenbezugstags vom Beschwerdeführer falsch informiert worden war. Sie habe erst mit E-Mail des Mitarbeiters der Arbeitslosenkasse am 24. Juli 2015 erfahren, dass das richtige Datum auf den 22. Januar 2015 laute. Nach der unbestritten gebliebenen Feststellung der Vorinstanz hat der Beschwerdeführer in seiner Anmeldung zum Abschluss einer Abredeversicherung den 28. Januar 2015 genannt (bzw. den 28. Februar 2015; vgl. dazu E. 5.3.1 hiervor). Die Suva stützte sich auf den in ihren monatlichen Bestätigungen über die Versicherungsdeckung nach UVG enthaltenen Passus: "Die Versicherungsdeckung besteht nur unter der Voraussetzung, dass die von Ihnen gemachten Angaben korrekt sind". Wie sie in ihrem Bericht über die Besprechung vom 17. August 2015 mit dem Beschwerdeführer am Schalter der Agentur Zentralschweiz ausserdem festgehalten hatte, kontrolliert sie jeweils erst bei einem konkreten Unfall, ob die Einzahlung wirklich innerhalb der 30 Tage erfolgt, bzw. ob die Abredeversicherung gültig zustande gekommen sei.
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5.3.2.3 Diese Praxis der Suva, erst nach Eintritt eines Schadenfalls die rechtzeitige Bezahlung der ersten Prämie und damit die Frage nach dem Zustandekommen eines Abredeversicherungsvertrags zu prüfen, kann zu stossenden Ergebnissen führen, wie die vorliegende Streitsache zeigt. Für den Fall, dass eine (vermeintlich versicherte) Person unfallfrei bleibt, leistet sie unter Umständen während sechs Monaten Prämien für eine Abredeversicherung, obwohl sie gar keinen Versicherungsschutz geniesst. Im Unwissen darum sieht diese keinen Anlass, sich bei einem anderen Versicherungsträger um den Abschluss einer Nichtberufsunfallversicherung zu bemühen. Erleidet sie jedoch einen Unfall, erfährt sie erst nach der Schadenmeldung, dass keine Versicherungsdeckung besteht. Nachträglich kann sie sich nicht mehr versichern. Geht unter dem Aspekt von Treu und Glauben eine anfängliche unzutreffende Bestätigung der Versicherungsdeckung seitens der Suva allein gestützt auf die Angaben der zu versichernden Person noch an, so kann für die nachfolgenden monatlichen Versicherungsdeckungszusagen der Suva nicht das Gleiche gelten. Bei der rechtzeitigen Bezahlung der Prämie handelt es sich um eine elementare, aber auch einfach nachzuprüfende Voraussetzung für ein gültiges Zustandekommen der Abredeversicherung. Es ist der Suva im Rahmen ihrer Aufklärungs- und Beratungspflicht im Sinne von Art. 27 Abs. 2 ATSG zuzumuten, zeitnah nach der ersten Zahlung der Abredeversicherungsprämie zu prüfen, ob die 30-tägige Frist gemäss Art. 3 Abs. 2 aUVAL in Verbindung mit Art. 8 UVV eingehalten wurde.
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Mit den im vorliegenden Fall insgesamt sechs Versicherungsdeckungsbestätigungen - die letzte für die Verlängerung bis Ende August 2015 datiert vom 21. Juli 2015 und somit einen Tag vor dem Unfallereignis - hat die Suva eine Vertrauensgrundlage im Sinne von Art. 9 BV geschaffen, die eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Beschwerdeführers gebietet, da sämtliche Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Nachdem der Beschwerdeführer bereits für mehrere Monate Abredeversicherungsprämien geleistet hatte, musste er mit der Auskunft, er habe sich ursprünglich, im Februar 2015, zu spät angemeldet, weshalb die Abredeversicherung nicht zustande gekommen sei, nicht mehr rechnen (vgl. E. 5.2.1 hiervor). Mit anderen Worten kann sich die Suva bezüglich des rechtzeitigen Abschlusses zwar für eine erste Phase nach Einzahlung der Versicherungsprämie auf die Angaben der versicherten Person stützen. Sie darf mit der Prüfung der Frist aber nicht bis zu einer allfälligen späteren Schadenmeldung zuwarten, weil sie so in stossender Weise dazu beiträgt, dass sich Personen, die eine Unfalldeckung wünschen, die Abredeversicherung aber zu spät abgeschlossen haben, nicht um einen anderweitigen Unfallversicherungsschutz bemühen. Auch aus Art. 27 Abs. 2 ATSG trifft die Suva eine Aufklärungs- und Beratungspflicht hinsichtlich der Fristeinhaltung, da für die immerhin maximal sechsmonatige Versicherungsdauer ein entsprechender Beratungsbedarf der ausgesteuerten Personen, welche sich für eine Abredeversicherung angemeldet haben und Prämien leisten, offensichtlich ist.
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6. Zusammenfassend ergibt sich, dass die Abredeversicherung vertrauensschutzrechtlich als zustande gekommen zu betrachten ist. Die Angelegenheit ist an die Suva zurückzuweisen, damit sie prüfe, ob sich aus dieser Versicherung die geltend gemachten Leistungsansprüche im Zusammenhang mit dem Unfall vom 22. Juli 2015 ergeben, und neu verfüge. (...)
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